Volume 35 (June 2003) Number 3ZDMZentralblatt für Didaktik der MathematikInternational Reviews on Mathematical Education
Einführung in funktionales und
prädikatives Denken Ein besonderes Interesse für Invariantes auf der einen Seite bzw. Werdendes auf der anderen Seite hat Menschen immer wieder zu härteren oder milderen Konfrontationen geführt. Mit dem Begriffspaar »Prädikatives Denken - Funktionales Denken« ist ein Versuch unternommen worden, kognitive Erklärungsmuster für eine Vorliebe oder auch besondere Fähigkeit für je eine der beiden Sichtweisen zu geben. Mittlerweile liegen nicht nur zahlreiche qualitative Ergebnisse aus Untersuchungen vor, die die Nützlichkeit der theoretischen Konstruktion nachweisen, mit einer EEG-Untersuchung sowie mehreren Untersuchungen zu Augenbewegungen können auch vermehrt quantitative Daten vorgewiesen werden. Während Aspekte prädikativen Denkens in der Kognitionspsychologie durchaus häufiger untersucht worden sind, stellt sich im Falle funktionalen Denkens ein Nachholbedarf heraus. Im Primarstufenunterricht zeigt sich, dass funktionales Vorgehen - trotz der Fürsprecher des Operativen Prinzips - tendenziell vernachlässigt wird. Gleichwohl existieren didaktische Materialien wie beispielsweise die Plus-, Mallandschaft, die Rechenwendeltreppe oder die Dynamischen Labyrinthe, die in besonderer Weise geeignet sind, funktionales Denken zu fordern und fördern. *** Introduction to functional and predicative thinking.
A particular interest for invariances on the one hand and variability on the
other hand as seen in stationary and moving objects respectively has often led
people to more or less severe disagreements. The notions of »predicative
thinking« versus »functional thinking« describe a cognitive pattern that
tries to explain the preference or even special capability for either one of the
two view points. Meanwhile, there are not only numerous qualitative experimental
results that prove the usefulness of this theoretical construct, but also an
EEG-study and several studies involving eye-movement analysis that emphasise
quantitative evidence. As aspects of predicative thinking have been studied
quite frequently in cognitive psychology, there is an accumulated need for
studies of functional thinking. Primary school education shows that functional
approaches have been neglected in spite of advocates of the operational
principle. Anyhow, there are didactical materials like the Addition-,
Multiplication-Landscape, the spiral staircase for calculating or the Dynamic
Labyrinths that are very well suited to demand and promote functional thinking. Prädikative versus funktionale Denkvorgänge beim Konstruieren von Algorithmen Inge Schwank; Stephan Armbrust; Melissa Libertus, Osnabrück (Germany) In der Entwicklungsgeschichte mathematischen Wissens werden mit dem Begründungs- und Rezeptewissen zwei unterschiedliche Ansätze ausgemacht. Wie zu erwarten, ist die Art dieser beiden Herangehensweisen nicht immer gleichermaßen geeignet, um eine tragende begriffliche Vorstellung zu entwickeln. Eine Analyse von Bateson deckt beim Begriff »Schalter« fundamentale funktionale Charakteristika - nicht aber prädikative - auf. Damit einher geht eine besondere Anforderung an kognitives funktionales Zurechtlegen bei Problemen, die die Nutzung und Regelung von Schalterfunktionen verlangen. Im Rahmen des DFG-Projektes »Individuelle Unterschiede in der Kognition mathematischer Begriffsbildung« wird die Fähigkeit von Versuchspersonen untersucht, mit mechanisch gegebenen Schaltern und verbindenden Bauteilen Maschinen zu konstruieren, die zur Ausführung von Organisations- bzw. Berechnungsaufgaben genutzt werden können. Es zeigen sich während des Konstruktionsprozesses der Maschinen auffällige Unterschiede, zudem spiegeln die sprachlichen Ausdrucksformen die Leichtigkeit oder Schwierigkeit wider, sich auf das Planen und Realisieren von Abläufen einzulassen. Die kognitive Haltung der Versuchspersonen beim Erfinden der Maschinen passt zu ihrem Verhalten beim Bearbeiten von Logikrätseln im QuaDiPF-Aufgabenformat. Zu den Maschinen s. auch: http://www.ikm.uos.de/aktivitaeten/dl/dynamische-labyrinthe.htm *** Predicative versus functional thinking processes while constructing
algorithms. Seen from a historical point of view, two approaches to
the formation of mathematical knowledge can be distinguished: classical Greek
substantiated inferential knowledge and ancient oriental functional knowledge.
As might have been expected, both approaches are not equally well-suited to
develop and handle particular concepts. Bateson’s analysis of the term »switch«
exposes only fundamental functional features but no predicative ones.
Consequently, there is a special demand for functional cognitive activities when
solving problems that involve the use and control of the functioning of
switching constituents. Within the framework of the DFG-project "Individual
differences in the cognition of mathematical concept formation", the
ability of subjects to construct machines that carry out organisational or
computational tasks with the help of given mechanical switches and additional
connective building blocks have been tested. The construction procedures show
pronounced differences. Furthermore, the ease or difficulty to get involved with
the planning and realisation of the process are reflected in the verbal
protocols of the subjects. Their mental attitude corresponds nicely to their
behaviour when working on logical problems as they appear in the QuaDiPF-tasks.
For the machines see also: Augenbewegungen
als Spuren prädikativen oder funktionalen Denkens Es wird über Methoden und Ergebnisse einer Studie berichtet, bei der Schülerinnen und Schüler aus 10. und 11. Klassen von zwei Gymnasien in Einzeluntersuchungen mit Aufgaben aus dem Test QuaDiPF bezüglich ihrer Präferenz für prädikatives bzw. funktionales Denken untersucht wurden. Während der Bearbeitung der Test-Aufgaben wurden die Blickbewegungen der Versuchspersonen aufgezeichnet, nach der Bearbeitung einer jeden Aufgabe erklärten die Versuchspersonen ihre Vorgehensweise und begründeten ihre Lösung. Bei der Auswertung wurden zum einen diese Äußerungen nach Merkmalen für prädikatives bzw. funktionales Denken klassifiziert. Zum anderen wurde ein Algorithmus entwickelt, mit dessen Hilfe die aufgezeichneten Augenbewegungen analysiert wurden. Es ergeben sich deutliche Übereinstimmungen bei beiden Methoden der Zuweisung einer prädikativen bzw. funktionalen kognitiven Struktur. Diese Untersuchung ist Teil eines langjährigen Forschungsvorhabens am Institut für Kognitive Mathematik über die Bedeutung individueller Unterschiede in der Präferenz für prädikatives bzw. funktionales Denken. Die Erkenntnisse aus dieser Grundlagenforschung werden insbesondere für die Erklärung von Schülerverhalten beim Verstehen mathematischer Ideen und beim Problemlösen im regulären Mathematikunterricht herangezogen. *** Eye-movements as traces for predicative or functional thinking. We
are going to report about methods and results of a study in which pupils of
grades 10 and 11 of two grammar schools have been tested in individual
examinations using problems of the QuaDiPF-test. The main focus of this
investigation was to detect a correspondence between predicative versus
functional explanations and patterns of typical eye-movements. While working on
the test-problems, the eye-movements of the subjects were recorded. After having
worked on a problem, the subjects were asked to explain their procedure and to
give reasons for their results. When evaluating these explanations, they were
classified according to characteristics of predicative or functional thinking.
Moreover, an algorithm was developed that was used to analyse the recorded
eye-movements. Both methods of classification of a predicative versus functional
cognitive structure showed a very clear correspondence. This study is part of a
research project about the importance of individual differences in the
preference for predicative versus functional thinking and has been conducted for
several years now at the Institute of Cognitive Mathematics. The results of this
basic research are especially used to explain the pupils’ understanding of
mathematical concepts and their problem solving behaviour in regular mathematics
lessons. Untersuchung individueller Unterschiede in der mentalen
Repräsentation von symbolverarbeitenden Regelsystemen Es wird über ein Projekt aus der mathematikdidaktischen Grundlagenforschung berichtet, in dem mentale Prozesse, die bei Termumformungen ablaufen, untersucht werden. Dazu wurde eine computerbasierte Kunstwelt der Symbolischen Termumformungen geschaffen, in der Versuchspersonen bei der regelbasierten Bearbeitung von Termumformungen beobachtet werden können. Die Umformungsregeln sind so konstruiert, dass Versuchspersonen mit unterschiedlichen mentalen Modellen zu ihrer Vorstellung passende Regeln finden können. Zur Analyse stehen einmal die gespeicherten Daten über die Art und Reihenfolge der angewandten Regeln, zum anderen die Transkripte der Videoprotokolle zur Verfügung. Es wird analysiert, wie und in welcher Weise sich bei Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 10 ein mentales Modell der jeweils zu lösenden Aufgabe ausbildet und welche Konsequenzen das für den Prozess der Aufgabenbearbeitung hat. Dabei sind drei Aspekte von Bedeutung: Wie bildet sich entsprechend der individuellen Präferenz für eine prädikative versus funktionale mentale Modellbildung eine Vorstellung (prozesshaft versus merkmalsbetont) von der zu lösenden Aufgabe aus? Wie schlägt sich die Präferenz bei der Sichtweise (Bewegen oder Besorgen von Symbolen versus Ersetzbarkeit von Eigenschaften der Symbole) der jeweiligen Aufgabe nieder? Welche Regelvorstellung (Regel als eigenständiger Veränderungsprozess versus Regel als Input-Output-Beziehung) hat die Versuchsperson? *** Investigating individual differences in the mental representation of
symbol processing rule systems. It is reported about a project from pure
research in mathematics education, in which mental processes are examined which
take place when rewriting terms. For this purpose, a computer based artificial
world of symbolic term rewriting has been created where subjects can be observed
when they work on the term rewritings based on the rules given. These rewriting
rules have been constructed in such a way that subjects with different mental
models can find rules matching their ideas. For the analysis, the data stored
with regard to type and sequence of the rules used as well as the transcripts of
the video protocols are available. It is being analysed how and in what manner a
mental model of the problem to be solved is formed by the pupils of grade 10 and
what consequences arise for the process of working on the problem. Three aspects
are of importance: How is an idea created of the problem to be solved according
to the individual preference for a predicative versus functional mental
modelling (process orientated versus feature orientated)? What effect does the
preference for a certain way of looking at the problem have (moving or acquiring
symbols versus replacing the characteristics of symbols)? What idea of the rules
does the subject have (rules as an independent process of modification versus
rules as in input-output-relationship)? Das Wissen um Unterschiede in den kognitiven Strukturen von
Schülerinnen und Schülern als Erklärung von Unterrichtsbeiträgen Es wird aus einer Längsschnittuntersuchung im Institut für Kognitive Mathematik der Universität Osnabrück berichtet, in der Eigenproduktionen von Schülern aus dem gymnasialen Mathematikunterricht mit kognitionstheoretischen Methoden analysiert werden. Zunächst werden eine Unterrichtsszene aus der Unterrichtsreihe "Wahrscheinlichkeitsrechnung" und Eigenproduktionen aus einer Einführungsstunde in das Thema "Exponentialfunktionen" analysiert, an denen Schüler beteiligt sind, deren kognitive Strukturen in Einzeluntersuchungen erhoben und klassifiziert worden sind. Die an den Unterrichtsszenen herausgearbeiteten Merkmale weisen auf unterschiedliche Vorstellungen und Denkweisen der Schüler hin. Im zweiten Teil wird dargelegt, dass es sich bei den dokumentierten Schülerverhalten nicht nur um isoliert zu betrachtende handelt, sondern dass sich diese auch in längsschnittlichen Betrachtungen wiederfinden lassen und somit als stabile typische Merkmale bezeichnet werden können. Diese Ergebnisse führen zu Konsequenzen für die Planung und Gestaltung von Mathematikunterricht im Hinblick auf eine kognitionstheoretische Fundierung. *** How knowledge about differences in the cognitive structures can explain
contributions of students in math lessons. It is reported about a
longitudinal study run at the Institute of Cognitive Mathematics of the
University of Osnabrueck, in which pupils’ verbal and text productions from
mathematics lessons at a grammar school are analysed by means of cognitive
theoretical methods. First of all, a teaching scene from an instruction to
probability calculus and further text productions from an introductory lesson
about exponential functions are analysed, in which five pupils take part whose
cognitive structures have been assessed and classified in individual
examinations. The characteristics brought out according to these teaching scenes
indicate different ideas and thinking processes of the pupils. The second part
shows that the pupils’ behaviour described is not only to be regarded in
isolation but it can also be found in longitudinal examinations and can
therefore be considered as a stable, typical characteristic. These results lead
to consequences for the planning and design of mathematics lessons based on a
well-founded theory of cognition. Prädikatives und funktionales Denken in der
Wahrscheinlichkeitsrechnung Um dem funktionalen Denken im Mathematikunterricht mehr Raum zu geben, werden Argumente für einen frühen und häufigen Einsatz von Baumdiagrammen im Stochastikunterricht angeführt. Nachdem sich Mengen- und Baumdiagramme als zwei verschiedene Ansichten der gleichen Sache auffassen lassen, muss die Formel von Bayes, welche meist mit prädikativen Mengendiagrammen assoziiert wird, nicht mehr explizit behandelt werden. An ihre Stelle treten ausführlich beschriftete Baumdiagramme und das Mittel der Bauminversion als ein funktionales Instrument zur Behandlung bedingter Wahrscheinlichkeiten. Diese Technik wird mit drei typischen Aufgaben zur bedingten Wahrscheinlichkeit illustriert. Schließlich wird anhand zweier Briefe von Pascal an Fermat gezeigt, wie schon in den Anfängen der Wahrscheinlichkeitsrechnung im 17. Jahrhundert mit prädikativen und funktionalen Ansätzen gearbeitet wurde. *** Predicative and functional thinking in probability calculus. In order to
emphasize functional thinking in mathematical education, arguments are brought
forward for an early and frequent use of tree diagrams in teaching stochastics.
Since set and tree diagrams can be regarded as two sides of the same matter,
Bayes’ theorem, which is strongly associated with predicative set diagrams,
need not be dealt with explicitly any longer. Set diagrams are replaced by tree
diagrams that are labelled in detail and by tree inversion as a functional
instrument of dealing with conditioned probabilities. This technique is
demonstrated by three typical problems in the context of conditioned probability.
Finally, two letters by Pascal to Fermat are analysed in order to illustrate
that predicative and functional approaches were already pursued in the early
stages of probability calculus in the 17th century. |