International Thomson Publ. Co., ISBN 3-8266-0238-2, 1995, DM 99,00.
Um die Studentenversion von Mathcad 6.0/ für den Rundbrief der Computeralgebra-Fachgruppe zu referieren, habe ich naturgemäß besonderes Gewicht auf die symbolischen Fähigkeiten dieser Software gelegt. Da Mathcad/ von sich aus gar keine symbolischen Fähigkeiten hat, kam es mir also vor allem darauf an zu untersuchen, inwieweit die Integration einer abgespeckten Mapleversion gelungen ist.
Um es gleich vorweg zu sagen: Dies gibt vermutlich all denjenigen ein verfälschtes Bild, die dieses Produkt ausschließlich zu numerischen Zwecken verwenden wollen. Aber ich halte diese Vorgehensweise im vorliegenden Fall für gerechtfertigt.
Ohne Zweifel stellt die Bereitstellung symbolischer Rechnungen wie Differentiation, Integration, Taylorpolynome etc. eine Bereicherung von Mathcad/ dar. Es wird den Studentinnen und Studenten mit Mathcad 6.0/ gelingen, viele Übungsaufgaben aus Schul- und Universitätsmathematik zu lösen. Dafür ist das Produkt also gut geeignet. Da das Interface mit seinen WYSIWYG-Editiermöglichkeiten bei weitem ausgereifter ist als das der momentan auf dem Markt befindlichen Computeralgebrasysteme (vielleicht bis auf THEORIST), und da der Preis moderat ist, stellt es für den einen oder anderen sicherlich eine Alternative zu einem Computeralgebrasystem dar.
Auf der anderen Seite ist die Integration von MAPLEnur teilweise gelungen. Einer der Gründe liegt in der Grundkonzeption von Mathcad/. Als numerisch konzipiertes System hat es einige ,,hart'' eingebaute Fallen für symbolisches Rechnen. Beispielsweise ist Infinity bei Mathcad/ definiert als 10307. Man kann gleichfalls nicht einfach Funktionen hinschreiben, ohne die einzusetzenden Variablenwerte vorher festzusetzen: solcher Input ist nicht zulässig und wird mit einer Fehlermeldung bestraft. Für einen ,,symbolisch denkenden'' Benutzer ist dies eine mehr als hinderliche Einschränkung.
Ferner würde ich gerne auf wesentliche Algorithmen der Computeralgebra und insbesondere der Polynom-arithmetik, wie beispielsweise gcd-Berechnungen, zugreifen können. Leider sind diese Algorithmen nicht im Lieferumfang enthalten. Das reduziert den Anwendungsbereich des Produkts für symbolisch interessierte Anwender erheblich.
Schließlich kann es geschehen, daß beim symbolischen Rechnen sehr umfangreiche Resultate entstehen. Diese Resultate werden dann von Mathcad 6.0/ in das vorliegende Worksheet aufgenommen, es wird aber kein Zeilenumbruch vorgenommen. Solche Ausdrücke lassen sich nur schwer lesen und weiterbearbeiten, da sie nicht auf die entsprechende Seite des Work-sheets passen, und zum Drucken eignen sich solche Dokumente dann natürlich auch nicht mehr.
Als eine Besonderheit wirbt Mathcad damit, daß Mathcad-Dokumente immer lebendige interaktive Worksheets darstellen: Ändert man den Wert einer der Variablen im bearbeiteten Dokument, so wird automatisch die ganze Seite unter Berücksichtigung des neuen Variablenwerts neu berechnet und entsprechend umgestaltet, sofern man diesen interaktiven Modus nicht abstellt. So nett dieser Effekt im Prinzip ist, habe ich des öfteren seine negative Seite kennengelernt: Enthält das Dokument komplizierte graphische Darstellungen oder Integrale, so werden diese - ob der Benutzer will oder nicht - sofort neu berechnet. Das kann dazu führen, daß das Worksheet (bei versehentlich ungeschickten (komplizierten) Eingaben) unter Umständen hart abgebrochen werden muß.
Mathcad gibt an, ein ,,echtes Windows Programm'' zu sein, mit der Möglichkeit, Informationen mit anderen Windows-Programmen auszutauschen. Leider ist es mir allerdings nicht gelungen, mit dem üblichen Windows-Mechanismus Mathcad-Output in ein MAPLE- oder REDUCE-Worksheet zu kopieren. Daß diese Kommunikation scheitert, ist natürlich schade.
Abschließend möchte ich noch ein Ergebnis bemerken, auf das ich beim zufälligen Probieren gestoßen bin. Während das Integral
integral_0(infty) x e-x dx
symbolisch korrekt zu 1 berechnet wird, liefert die numerische Rechung den Wert 0.
Es bleibt also festzuhalten, daß Mathcad 6.0/ ein numerisches Softwareprodukt ist, das mit einigen symbolischen Zusatzfähigkeiten ausgestattet ist. Wem das reicht, der hat an der Software vermutlich seine Freude.
Wolfram Koepf (Berlin)