The Project Gutenberg EBook of Max Havelaar, by Multatuli

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Title: Max Havelaar

Author: Multatuli

Translator: Wilhelm Spohr

Release Date: March 6, 2010 [EBook #31527]

Language: German

Character set encoding: ASCII

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MAX HAVELAAR ***




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Max Havelaar.

Max Havelaar
Zweite Auflage.
Minden in Westf.
J. C. C. Bruns’ Verlag.
1901.

Alle Rechte, auch das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. [V]

Vorwort des Herausgebers.

Es freut mich, dass ich, noch ehe die Reihe meiner Multatuli-Bücher abgeschlossen ist, eine Neuauflegung der ersten Bände des Unternehmens vornehmen kann. Meine Übersetzung des holländischen »Max Havelaar« liegt hier in zweiter Auflage vor. Der Text erhielt nur geringfügige Änderungen, wie sie sich aus der Neudurchsicht einer Übersetzung zu ergeben pflegen. Auch mein Vorwort zur ersten Auflage mit seinen erläuternden Bemerkungen lasse ich hier folgen:

Ich nenne das Buch schlichtweg »Max Havelaar«, da mir, dem deutschen Interpreten, der eigentliche von Multatuli ihm gegebene Titel »Max Havelaar oder die Kaffeeauktionen der Niederländischen Handelsgesellschaft« (»Max Havelaar of de koffiveilingen der Nederlandsche Handelmaatschappy«, geschrieben 1859, erschienen zu Amsterdam im Mai 1860) nach Ort, Zeit und Umständen weniger passend erscheint. Der Leser möge sich bei einigen wenigen Anspielungen im Text des ursprünglichen Titels erinnern.

Ich kenne nach dem »Havelaar« kein zweites Buch, das in so eminentem Sinne seine Geschichte und seine Schicksale gehabt hätte. »Es ging ein Schaudern durch das Land«, erklärte nach seinem Erscheinen ein Abgeordneter von der Tribüne des Parlaments. Sogar Einzelheiten haben ihre eigene Geschichte! Indem ich darauf hinweise, dass das [VI]kleine holländische Wörtchen »dus« in dem Buche (in meiner Übersetzung das »also« auf S. 291 Zeile 7) einen gewaltigen Federkrieg entfachen konnte, mache ich wohl begreiflich, dass ich davon absehen möchte, in diesem kurz beabsichtigten Vorwort mich weiter in die Schicksalsgeschichte des Werkes zu verlieren. Nur will ich noch dem Leser, der sich nicht über dieses Buch hinaus in den reissenden Strudel der Multatuli-Welt hineinziehen lassen will, von vornherein verraten, dass der Held Max Havelaar der Autor selbst ist, bürgerlichen Namens Eduard Douwes Dekker, der die hohe Beamtenstellung eines Assistent-Residenten von Lebak auf Java einnahm und nach seinem 1856 genommenen Abschied aus Landesdiensten seine sehr merkwürdigen Erfahrungen in den Niederländisch-Indischen Besitzungen im Buche »Max Havelaar« niederlegte. Es ist also dieses Buch kein Roman im gewöhnlichen Sinne; in ganz einziger künstlerischer Einkleidung bietet es aktenmässige Wahrheit über die Schicksale des Assistent-Residenten Eduard Douwes Dekker, der sich im Buch den Namen Max Havelaar gab und als Autor des Werkes sich Multatuli nannte. Wen es drängt, mehr von der Geschichte des lange Zeit schlau unterdrückt gehaltenen Buches, mehr von dem thatenreichen Leben des Mannes zu erfahren, ‚der viel getragen hat‘, dem ist die Möglichkeit geboten, sich in dem von mir herausgegebenen Multatuli-Biographie- und Auswahlbande des weiteren zu unterrichten.1

Seine Geschichte, seine Schicksale hat also das Buch seinem ausserordentlichen Inhalt und seiner ausserordentlichen Form zu verdanken. Auch was die Form angeht, weiss ich kein zweites derartige Buch zu nennen. Es ist in seiner Art nicht übertroffen, es sei denn durch Multatuli selbst in [VII]seinen späteren Werken. Voll Verwunderung mag dieser oder jener prüfend an manchen Stellen verweilen, indem er sich erinnert, dass das Werk, im Grunde ein Erstlingswerk, 1859 geschrieben wurde, zu einer Zeit also, die dem Autor kein Vorbild in Psychologie und Naturalismus bot. Und hart daneben wieder die Weltweisheit im Extrakt, in die vignettenscharfe Fabel zusammengeballt und -geschweisst, dann Klänge, höher wie die aus dem Hohenliede, Worte voll Glut des Orients und doch mit der Logik des Occidents gerüstet. Und das Geheimnis? Was liess den Mann so reden, dass man mit offenem Munde fragen mochte: »mein Gott, wer bist du?« Multatuli verriet die Hauptsache selbst, indem er einmal in einem Briefe sagte: »Stil ist keine Kunst oder ein Künstchen, er sprudelt allein aus dem Herzen heraus.« Dass man auch sonst nebenbei kein gewöhnlicher Mensch sein dürfe, setzte er wohl als selbstverständlich voraus für jemanden, der glaubte, etwas zu sagen zu haben. Und er war ein aussergewöhnlicher Mensch und er hatte Herz, und der Quell sprudelte auch lustig, obwohl er dieses Werk mit »Weh und Schmerz gebar«, es schrieb in Brüssel »im Winter des Jahres 1859, teils in einer Kammer ohne Feuer, teils an einem wackeligen und schmierigen Herbergstische, umringt von gutmütigen, aber ziemlich unästhetischen Biertrinkern«. Was er gerade derzeit gelitten, löste sich auf in den köstlichen Humor des Buches und in die Satire auf das Philistertum, das so schweres Geschütz wohl noch nie auf sich gerichtet sah; doch auch die Tragik seines Lebens, das er schilderte, lebte er voll noch einmal mit: »es fielen Thränen auf die Handschrift«.

Die meisten im »Havelaar« handelnd eingeführten Personen tragen schon in ihren Namen den Geruch ihrer Seele und des Milieus, dem sie angehören. Ich habe absichtlich diese Namen in der ursprünglichen Form wiedergegeben, vor allem, weil sie auch für uns genug verräterischen Klang haben. Warum der gute Pastor in dem Werke Wawelaar heissen muss, d. i. ein Mensch mit langweiligem, salbungsvollem [VIII]Gebabbel, und warum der engherzige, gefährlich dumm-schlaue Spiessbürger, der mit dem ersten Kapitel anhebt, seinen Namen vom trostlosen, dürren Stoppelfelde bekam, wird aus dem Texte reichlich klar, und darum belasse ich es bei diesem Hinweise. Diese und andere Figuren aus Multatulis Werken sind in der Sprache und in der Vorstellungswelt der Holländer zum Range von allgemein geltenden Typen avanciert. Namentlich ist der vorher erwähnte Droogstoppel Gemeingut des Volkes geworden, als der Typus einer Rasse, die leider nicht auf das Gebiet von Holland beschränkt scheint.

Manche Leser werden gern noch tiefer in das Leben der durch die Handlung aufgerollten indischen Wunder hinabsteigen; für sie habe ich nach Multatulis Anmerkungen am Schlusse des Buches bequem und nach Gefallen zu benutzende »Erläuterungen zu Indiismen« angefügt.

Und damit genug der trockenen Kommentierung. Die Welt Multatulis mit den Höhen und Abgründen ihres Humors und ihrer Tragik, mit ihrer sanften und mit ihrer heissen Schönheit, mit ihrem tiefen Frieden und ihren schrillen Kampffanfaren mag nun vorüberziehen. Doch vorher eines noch. Ich habe mich daran gewöhnt, in seiner Kunst mehr als ein Genussmittel zu sehen. So möge man verstehen, wenn ich mahnend betone, dass der Empörungsschrei dieser Seele uns, uns alle angeht.

Friedrichshagen bei Berlin, Juli 1901.

Wilhelm Spohr. [1]


1 Multatuli. Auswahl aus seinen Werken in Übersetzung aus dem Holländischen, eingeleitet durch eine Charakteristik seines Lebens, seiner Persönlichkeit und seines Schaffens. Von Wilhelm Spohr. Mit Bildnissen und handschriftlicher Beilage. Minden i. W., J. C. C. Bruns’ Verlag.

Erstes Kapitel.

Ich bin Makler in Kaffee und wohne Lauriergracht 37. Es ist nicht meine Gewohnheit, Romane zu schreiben oder dergleichen Dinge, und es hat denn auch lange gedauert, bis ich dazu kam, ein paar Ries Papier extra zu bestellen und das Werk anzufangen, das du, lieber Leser, soeben in die Hand genommen hast und das du lesen musst, ob du nun Makler in Kaffee oder ob du sonst was bist. Nicht allein, dass ich niemals etwas schrieb, was einem Roman ähnlich sah, nein, ich halte sogar nichts davon, dass man dergleichen liest, weil ich ein rechter Geschäftsmann bin. Seit Jahren schon lege ich mir die Frage vor, wozu solche Dinge dienen, und ich muss staunen über die Unverschämtheit, mit der ein Dichter oder Romanschreiber euch etwas weisszumachen wagt, das niemals geschehen ist und meistens gar nicht geschehen kann. Wenn ich in meinem Fach—ich bin Makler in Kaffee und wohne Lauriergracht 37—einem Prinzipal—ein Prinzipal ist jemand, der Kaffee verkauft—eine Angabe machte, worin nur ein kleiner Teil von den Unwahrheiten enthalten wäre, die in Gedichten und Romanen die Hauptsache ausmachen, so würde er auf der Stelle zu Busselinck & Waterman gehen. Das sind auch Makler in Kaffee, doch ihre Adresse braucht ihr nicht zu wissen. Ich bin also wohl auf der Hut, dass ich keine Romane schreibe oder andere falsche Angaben mache. Ich habe denn auch immer die Erfahrung gemacht, dass Leute, die sich auf so [2]was einlassen, gewöhnlich schlecht wegkommen. Ich bin drei und vierzig Jahre alt, besuche seit zwanzig Jahren die Börse, und kann mich also sehen lassen, wenn man nach jemandem verlangt, der Erfahrung hat. Ich habe schon manches Haus purzeln sehen! Und gewöhnlich, wenn ich den Ursachen nachging, kam es mir vor, dass man sie in dem verkehrten Kurs suchen müsste, der den meisten schon in ihrer Jugend gegeben war.

Ich sage: Wahrheit und gesunder Menschenverstand, und dabei bleibe ich. Für die SCHRIFT mache ich natürlich eine Ausnahme. Der Fehler fängt schon bei unserm Van Alphen an, und zwar gleich bei der ersten Zeile über die »lieben Kleinen«. Was zum Teufel konnte den alten Herrn bewegen, sich für einen Anbeter meiner kleinen Schwester Trudchen, die schlimme Augen hatte, auszugeben, oder meines Bruders Gerhard, der immer mit seiner Nase spielte? Und doch, er sagte: »dass er durch Lieb’ bewogen die Vers’chen singe«. Ich dachte manchmal als Kind: »Mann, ich möchte dir gern mal begegnen, und wenn du mir nicht die Marmeln giebst, die ich von dir verlangen würde, oder meinen vollständigen Namen in Buchstabenbretzeln—ich heisse Batavus—dann bist du ein Lügner für mich.« Aber ich habe Van Alphen nie gesehen. Er war schon tot, glaube ich, als er uns erzählte, dass mein Vater mein bester Freund wäre—mir lag mehr an Paulchen Winser, der neben uns in der Batavierstrasse wohnte—und dass mein kleiner Hund so dankbar wäre. Wir hielten gar keine Hunde, weil sie so unreinlich sind.

Alles Lügen! So geht’s dann weiter mit der Erziehung. Das neue Schwesterchen ist von der Grünfrau gekommen in einem grossen Kohlkopf. Alle Holländer sind tapfer und edelmütig. Die Römer waren froh, dass die Batavier sie leben liessen. Der Bey von Tunis kriegte eine Kolik, als er das Flattern der Niederländischen Flagge hörte. Der Herzog von Alba war ein Untier. Die Ebbe, es war 1672, glaube ich, dauerte etwas länger wie gewöhnlich, express, [3]um Niederland Schutz zu gewähren. Lügen. Niederland ist Niederland geblieben, weil unsere Altvordern auf ihre Geschäfte passten, und weil sie den wahren Glauben hatten. Das ist die Sache.

Und dann kommen später wieder andere Lügen. Ein Mädchen ist ein Engel. Wer das zuerst entdeckte, hat niemals Schwestern gehabt. Liebe ist eine Seligkeit. Man flieht mit dem einen oder andern Gegenstand ans Ende der Erde. Die Erde hat keine Enden, und solche Liebe ist auch eine Albernheit. Niemand kann sagen, dass ich nicht gut lebe mit meiner Frau—sie ist eine Tochter von Last & Co., Maklern in Kaffee—niemand kann an unserer Ehe was aussetzen. Ich bin Mitglied von »Artis«, unserm Zoologischen Garten, sie hat ein persisches Umschlagetuch von zwei und neunzig Gulden Wert, und von solch einer verrückten Liebe, die durchaus an der Welt Ende wohnen will, ist doch zwischen uns niemals die Rede gewesen. Als wir getraut waren, haben wir eine kleine Tour nach dem Haag gemacht—sie hat da Flanell gekauft, wovon ich noch Unterjacken trage—und weiter hat uns nie die Liebe in die Welt gejagt. Also: alles Albernheit und Lügen!

Und sollte meine Ehe nun weniger glücklich sein als die Ehe der Leute, die sich rein aus Liebe die Schwindsucht an den Hals holten oder ihre Haare dabei loswurden? Oder denkt ihr, dass es weniger geregelt in meiner Haushaltung hergeht, als wenn ich vor siebzehn Jahren meinem Mädchen in Versen gesagt hätte, dass ich sie heiraten wollte? Unsinn! Ich hätte das doch ebenso gut können wie jeder andere, denn Versemachen ist ein Handwerk, das gewiss minder schwer ist als Elfenbeindrehen. Wie sollten sonst wohl die kleinen Aufbackbilder mit Sprüchen so billig sein? Und frage einmal nach dem Preis von einem Satz Billardbällen!

Ich habe nichts gegen Verse an sich. Will man die Wörter ins Glied rücken, gut! Aber sage nichts, was nicht wahr ist! »Der Regen ist vorbei, und die Uhr ist [4]drei.« Das lasse ich gelten, wenn wirklich der Regen vorbei und die Uhr drei ist. Doch wenn es viertel auf vier ist, kann ich, der ich meine Worte nicht ins Glied setze, sagen: »der Regen ist vorbei, und die Uhr ist viertel auf vier«. Der Versemacher ist durch das Aufhören des Regens an die volle Stunde gebunden. Es muss genau drei Uhr, in diesem günstigen Falle meinetwegen auch genau zwei Uhr sein, oder der Regen darf nicht vorbei sein. Sieben und neun ist durch den Reim verboten. Da geht er denn ans Pfuschen. Entweder das Wetter muss verändert werden, oder die Zeit. Eins von beiden ist dann gelogen.

Und nicht allein die Verse verlocken die Jugend zur Unwahrheit. Geh mal ins Theater und achte mal darauf, was da für Lügen an den Mann gebracht werden. Der Held des Stückes wird aus dem Wasser geholt von jemandem, der im Begriff ist, Bankerott zu machen. Dann giebt er ihm sein halbes Vermögen. Das kann nicht wahr sein. Als kürzlich auf der Prinzengracht mein Hut ins Wasser wehte, habe ich dem Mann einen Nickel gegeben, und er war zufrieden. Ich weiss wohl, dass ich etwas mehr hätte geben müssen, wenn er mich selbst herausgeholt hätte, aber gewiss nicht mein halbes Vermögen. Es liegt doch auf der Hand, dass man auf diese Weise nur zweimal ins Wasser fallen braucht, um völlig arm zu sein. Was das Ärgste ist bei solchen Vorführungen auf der Bühne: das Publikum gewöhnt sich so an all die Unwahrheiten, dass es sie schön findet und ihnen zujubelt. Ich hätte wohl mal Lust, so’n ganzes Parterre ins Wasser zu schmeissen, um zu sehen, wem es mit dem Zujauchzen ernst war. Ich, der ich was auf Wahrheit gebe, mache der Welt bekannt, dass ich für das Auffischen meiner Person keinen so hohen Bergelohn bezahle. Wer mit weniger nicht zufrieden ist, mag mich liegen lassen. Nur Sonntags würde ich etwas mehr geben, weil ich dann meine schwere Kette trage und einen andern Rock.

Ja, das Theater verdirbt viele, mehr noch als die Romane. [5]Es ist so anschaulich. Mit einem bisschen Katzengold und einer Borde von ausgeschlagenem Papier sieht das alles so verlockend aus. Für Kinder, meine ich, und für Leute, die keine Ahnung von Geschäftssachen haben. Selbst wenn die Theatermenschen Armut darstellen wollen, ist ihre Darstellung immer lügenhaft. Ein Mädchen, dessen Vater Bankerott macht, arbeitet, um die Familie zu unterhalten. Sehr gut. Da sitzt sie denn zu nähen, zu stricken und zu sticken. Aber zähle nun mal die Stiche, die sie macht während des ganzen Akts. Sie quasselt, sie seufzt, sie läuft nach dem Fenster, aber arbeiten thut sie nicht. Die Familie, die von dieser Arbeit leben kann, hat wenig nötig. So ein Mädchen ist natürlich die Heldin. Sie hat einige Verführer die Treppe hinuntergeworfen, sie ruft in einem fort: »o meine Mutter, o meine Mutter!« und stellt also die Tugend vor. Was ist das für eine Tugend, die ein volles Jahr nötig hat zu einem Paar wollener Strümpfe? Giebt dies alles nicht falsche Vorstellungen von Tugend und vom »Arbeiten für den Lebensunterhalt«? Alles Albernheit und Lügen!

Dann kommt ihr erster Liebhaber—der früher am Kopierbuch sass, nun aber steinreich—auf einmal zurück und heiratet sie. Auch wieder Lügen. Wer Geld hat, heiratet kein Mädchen aus einem falliten Hause. Und wenn ihr meint, dass dies auf der Bühne so durchgeht als Ausnahme, es bleibt doch mein Einwurf bestehen, dass man den Sinn für Wahrheit verdirbt beim Volke, das die Ausnahme als Regel hinnimmt, und dass man die öffentliche Sittlichkeit untergräbt, indem man es daran gewöhnt, etwas zuzujauchzen auf der Bühne, was in der Welt von jedem achtbaren Makler oder Kaufmann für eine lächerliche Übergeschnapptheit angesehen wird. Als ich heiratete, waren wir auf dem Kontor meines Schwiegervaters—Last & Co.—unserer dreizehn, und es wurde was umgesetzt!

Und noch mehr Lügen auf der Bühne. Wenn der Held mit seinem steifen Komödienschritt abtritt, um das bedrängte Vaterland zu retten, warum geht dann die Doppelthür im [6]Hintergrund jedesmal von selbst auf? Und weiter, wie kann die Person, die in Versen spricht, voraussehen, was der andere zu antworten hat, und ihm so den Reim bequem machen? Wenn der Feldherr zu der Fürstin sagt: »Mevrouw, es ist zu spät, man schloss die Thore beide«, wie kann er nur im voraus wissen, dass sie sagen will: »Wohlan denn, unverzagt, entblösst das Schwert der Scheide!«? Denn wenn sie nun, als sie hörte, dass die Thore geschlossen seien, antwortete, dass sie dann ein wenig warten wolle, bis geöffnet werde, oder dass sie ein andermal wiederkommen werde, wo blieben dann Mass und Reim? Ist es also nicht eine pure Lüge, wenn der Feldherr die Fürstin fragend ansieht, um zu erfahren, was sie nun nach dem Schliessen der Thore thun wolle? Noch eins: wenn das Weib nun Lust gehabt hätte, schlafen zu gehen, anstatt etwas zu entblössen? Alles Lügen!

Und dann diese belohnte Tugend! O, o, o! Ich bin seit siebzehn Jahren Makler in Kaffee—Lauriergracht 37—und habe also schon allerlei mit angesehen, doch es stösst mich jedesmal furchtbar vor den Kopf, wenn ich die liebe Wahrheit so verdrehen sehe. Belohnte Tugend? Ist es nicht, als wenn man aus der Tugend einen Handelsartikel machen wollte? Es ist nicht so in der Welt, und es ist gut, dass es nicht so ist. Denn wo bliebe das Verdienst, wenn die Tugend belohnt würde? Wozu also diese infamen Lügen jedesmal aufgetischt?

Da ist zum Beispiel Lukas, unser Speicherknecht, der schon bei dem Vater von Last & Co. gearbeitet hat—die Firma war damals Last & Meyer, aber die Meyers sind schon lange raus—das wäre dann doch wohl ein tugendhafter Mann. Keine Bohne fehlte jemals, er ging regelmässig zur Kirche, und trinken that er auch nicht. Als mein Schwiegervater in Driebergen auf Sommerkur war, hatte er das Haus und die Kasse und alles in Obhut. Einmal erhielt er auf der Bank siebzehn Gulden zuviel, und er brachte sie zurück. Er ist nun alt und gichtig und kann keine Arbeit [7]mehr verrichten. Nun hat er nichts, denn es giebt viel zu thun bei uns, und wir haben junge Leute nötig. Nun wohl, ich halte diesen Lukas für sehr tugendhaft; aber wird er nun belohnt? Kommt da ein Prinz, der ihm Diamanten giebt, oder eine Fee, die ihm Butterbemmen schmiert? Wahrhaftig nicht! Er ist arm und bleibt arm, und so muss es auch sein. Ich kann ihm nicht helfen—denn wir haben junges Volk nötig, weil es bei uns sehr flott geht—aber könnte ich auch, wo bliebe sein Verdienst, wenn er nun auf seine alten Tage ein gemächliches Leben führen könnte? Dann würden alle Speicherknechte wohl tugendhaft werden und jedermann, was Gottes Absicht nicht sein kann, weil dann keine besondere Belohnung für die Braven im Jenseits übrig bliebe. Aber auf der Bühne verdrehen sie das ... alles Lügen!

Ich habe auch Tugend, doch fordere ich hierfür Belohnung? Wenn meine Geschäfte gut gehen—und das thun sie—wenn meine Frau und meine Kinder gesund sind, so dass ich nicht Doktor und Apotheker auf dem Halse habe ... wenn ich jahraus jahrein ein Sümmchen auf die Seite legen kann für die alten Tage ... wenn Fritz sich gut rausmacht, so dass er später meinen Platz einnehmen kann, wenn ich mich in Driebergen zur Ruh setze ... sieh, dann bin ich ganz zufrieden. Aber das ist alles eine natürliche Folge der Umstände, und weil ich aufs Geschäft passe. Für meine Tugend verlange ich nichts.

Und dass ich doch tugendhaft bin, das zeigt sich an meiner Liebe für die Wahrheit. Diese ist, nach meiner Anhänglichkeit an den Glauben, meine Hauptneigung. Und ich wünschte, dass ihr hiervon überzeugt wäret, Leser, weil darin die Entschuldigung dafür liegt, dass ich dieses Buch schreibe.

Eine zweite Neigung, die mich ebenso stark wie Wahrheitsliebe beherrscht, ist die Leidenschaft für meine Profession. Ich bin nämlich Makler in Kaffee, Lauriergracht 37. Nun denn, Leser: meiner unwandelbaren Liebe zur Wahrheit und meinem Eifer fürs Geschäft habt ihr zu danken, dass [8]diese Blätter geschrieben wurden. Ich werde euch erzählen, wie dies zugegangen ist. Da ich nun für einen Augenblick Abschied von euch nehme—ich muss auf die Börse—lade ich euch gleich auf ein zweites Kapitel ein. Auf Wiedersehen also!

Ach, was ich noch sagen wollte: steckt das noch zu euch ... es ist nur eine kleine Mühe ... es kann mal nützlich sein ... na, da hab ich’s ja: eine Adresskarte! Die Co. bin ich, seit die Meyers raus sind ... der alte Last ist mein Schwiegervater.

LAST & Co.

MAKLER IN KAFFEE.

Lauriergracht No. 37.

[9]

Zweites Kapitel.

Es war schlapp auf der Börse, doch die Frühjahrsauktion wird’s wohl wieder einholen. Denkt nicht, dass bei uns kein Umsatz ist. Bei Busselinck & Waterman ist es noch stiller. Eine sonderbare Welt! Man erlebt schon was, wenn man so seine Jahre zwanzig die Börse besucht. Stellt euch vor, dass sie versucht haben—Busselinck & Waterman, meine ich—mir Ludwig Stern abzufangen. Da ich nicht weiss, ob ihr mit der Börsenwelt vertraut seid, will ich euch eben sagen, dass Ludwig Stern ein Erstes Haus in Kaffee ist in Hamburg, das dauernd durch Last & Co. bedient worden ist. Ganz zufällig kam ich dahinter—hinter die Schliche von Busselinck & Waterman, meine ich. Sie würden 1/4 % von der Maklergebühr nachlassen—hinterlistige Schleicher sind sie, was anderes nicht!—und nun lass dir doch sagen, was ich that, um diesen Schlag abzuwehren. Ein anderer an meiner Stelle hätte vielleicht Ludwig Stern geschrieben, dass er die Berücksichtigung der langjährigen Bedienung durch Last & Co. erwarte ... ich habe ausgerechnet, dass die Firma, seit gut fünfzig Jahren, vier Tonnen an Stern verdient hat. Die Verbindung datiert von der Kontinentalsperre, als wir die Kolonialwaren von Helgoland einschmuggelten. Ja, wer weiss, was ein anderer alles geschrieben haben würde. Doch nein, Schleichwege kenne ich nicht. Ich bin nach »Café Polen« gegangen, liess mir Feder und Papier geben und schrieb: [10]

Dass die grosse Ausbreitung, die unser Geschäft in der letzten Zeit angenommen hätte, namentlich durch die vielen geehrten Ordres aus Norddeutschland ...

Es ist die reine Wahrheit!

... dass diese Ausbreitung einige Vermehrung unseres Personals notwendig mache.

Das ist wahr! Gestern abend noch war der Buchhalter nach elf auf dem Kontor, um seine Brille zu suchen.

Dass vor allem sich das Bedürfnis nach anständigen, wohlerzogenen jungen Leuten fühlbar mache, und zwar für die Deutsche Korrespondenz. Dass freilich viele junge Deutsche in Amsterdam die hierfür erforderlichen Qualitäten besässen, dass aber ein Haus, das auf seinen Ruf hielte ...

Es ist die blanke Wahrheit!

... bei der zunehmenden Leichtfertigkeit und Unsittlichkeit unter der Jugend, bei dem täglichen Anwachsen der Zahl der Glücksjäger, und mit Rücksicht auf die Notwendigkeit, Solidität des Betragens in gewisser Verbindung sich zu denken mit der Solidität in der Ausführung der gegebenen Ordres ...

Wahrhaftig, es ist alles die pure Wahrheit!

... dass solch ein Haus—ich meine Last & Co., Makler in Kaffee, Lauriergracht 37—nicht vorsichtig genug sein könne bei dem Engagement von Leuten.

Das ist alles die reinste Wahrheit, Leser! Wisst ihr wohl, dass der junge Deutsche, der auf der Börse bei Pfeiler 17 stand, durchgebrannt ist mit der Tochter von Busselinck & Waterman? Unsere Marie wird auch schon dreizehn im September.

... dass ich die Ehre gehabt hätte, von dem Herrn Saffeler zu vernehmen—Saffeler reist für Stern—dass der geehrte Chef der Firma, der Herr Ludwig Stern, einen Sohn hätte, den Herrn Ernst Stern, der zur Vervollständigung seiner kaufmännischen Kenntnisse einige Zeit in einem Holländischen Hause plaziert sein möchte. Dass ich mit Rücksicht darauf ...

Hier wiederholte ich wieder all die Unsittlichkeit und erzählte die Geschichte von der Tochter von Busselinck & Waterman. Nicht, um jemanden anzuschwärzen ... nein, jemanden verklatschen, das liegt nun ganz und gar nicht in meiner Manier! Aber ... es kann nichts schaden, dass sie’s wissen, dünkt mich. [11]

... dass ich mit Rücksicht darauf nichts lieber wünschte, als den Herrn Ernst Stern mit der Deutschen Korrespondenz unseres Hauses betraut zu sehen ...

Aus Zartgefühl vermied ich alle Anspielung auf Honorar oder Salair. Aber ich fügte noch hinzu:

Dass, wenn der Herr Ernst Stern damit vorlieb nehmen wolle, in unserm Hause—Lauriergracht No. 37—zu wohnen, meine Frau sich bereit erklärte, wie eine Mutter für ihn zu sorgen, und dass seine Wäsche im Hause besorgt werden würde.

Das ist die reine Wahrheit, denn Marie stopft und thut recht nett. Und zum Schluss:

Dass bei uns dem Herrn gedient werde.

Das mag er sich nur einstecken, denn die Sterns sind lutherisch. Und ich schickte meinen Brief ab. Ihr begreift wohl, dass der alte Stern nicht gut zu Busselinck & Waterman überspringen kann, wenn der junge Stern bei uns auf dem Kontor ist. Ich bin sehr neugierig auf die Antwort.

Nun zurück zu meinem Buch. Vor einiger Zeit komme ich abends durch die Kalverstraat und bleibe vor dem Laden eines Krämers stehen, der beschäftigt war mit dem Sortieren einer Partie »Java«, »ordinair«, »schön-gelb«, »Cheribon-Marke«, etwas Bruch mit Kehrichtabfall, was mich sehr interessierte, denn ich achte stets auf alles. Da kam mir auf einmal ein Herr zu Gesicht, der dicht dabei vor einer Buchhandlung stand und mir bekannt vorkam. Er schien auch mich wiederzuerkennen, denn unsere Blicke trafen sich fortwährend. Ich muss bekennen, dass ich zu sehr in des Krämers Kaffeekehricht vertieft war, um sogleich zu bemerken, was ich nämlich erst später sah, dass er recht dürftig gekleidet war. Sonst hätte ich es dabei bewenden lassen. Doch auf einmal kam es mir in den Kopf, dass er vielleicht Reisender eines Deutschen Hauses sei, der einen soliden Makler suchte. Er schien mir auch etwas von einem Deutschen zu haben, und auch was von einem Reisenden. Er war sehr blond, hatte blaue Augen und in Haltung und Kleidung etwas, das den Fremden verriet. An Stelle eines gehörigen Winterrocks hing ihm eine Art Shawl oder Plaid über die Schulter, [12]als wenn er von der Reise käme. Ich meinte einen Kunden zu sehen und gab ihm eine Adresskarte: Last & Co., Makler in Kaffee, Lauriergracht No. 37. Er las sie bei der Gaslaterne und sagte: »Ich danke Ihnen, aber ich habe mich geirrt. Ich dachte das Vergnügen zu haben, einen alten Schulkameraden vor mir zu sehen, aber ... Last? Das ist der Name nicht.«

—Pardon, sagte ich—denn ich bin immer höflich—ich bin M’nheer Droogstoppel, Batavus Droogstoppel. Last & Co. ist die Firma, Makler in Kaffee, Lauriergr....

—Nun, Droogstoppel, kennst du mich nicht mehr? Sieh mich mal ordentlich an.

Je mehr ich ihn ansah, desto mehr erinnerte ich mich, dass ich ihn öfters gesehen hatte. Doch, sonderbar, sein Gesicht wirkte auf mich, wie wenn ich fremde Parfumerien röche. Lache nicht darüber, Leser, alsbald wirst du sehen, wie das kam. Es ist mir sicher, dass er keinen Tropfen Parfum bei sich trug, und doch roch ich etwas Angenehmes und Starkes, etwas, das mich erinnerte an ... da hatte ich es!

—Sind Sie es, der mich von dem Griechen befreit hat?

—Ei gewiss, sagte er, das war ich. Und wie geht es Ihnen?

Ich erzählte, dass wir unser dreizehn auf dem Kontor seien und dass so tüchtig bei uns zu thun sei. Und darauf fragte ich, wie es ihm ginge, was mich später ärgerte, denn er schien sich nicht in guten Verhältnissen zu befinden, und ich achte arme Menschen nicht besonders, weil da gewöhnlich eigne Schuld mit unterläuft, denn der Herr würde nicht jemanden verlassen, der ihm treu gedient hat. Hätte ich einfach gesagt: »Wir sind unser dreizehn, und ... guten Abend auch!« dann wäre ich ihn los gewesen. Aber durch das Fragen und Antworten wurde es je länger je schwieriger, von ihm los zu kommen. Andererseits muss ich auch wieder darauf hinweisen, dass ihr dann dies Buch nicht zu lesen gekriegt hättet, denn es ist eine Folge dieser Begegnung. Ich halte etwas davon, dass man das Gute anerkennt, und die [13]das nicht thun, das sind unzufriedene Menschen, die ich nicht leiden kann.

Ja ja, er war es, der mich aus den Händen des Griechen befreit hatte! Denkt nun nicht, dass ich je von Seeräubern gefangen genommen bin, oder dass ich Streit gehabt hätte in der Levante. Ich habe euch bereits gesagt, dass ich nach meiner Hochzeit mit meiner Frau nach dem Haag gegangen bin. Da haben wir das Mauritshaus gesehen und Flanell gekauft in der Veenestraat. Das ist die einzige Erholungsreise, die mir je meine Geschäfte erlaubt haben, weil bei uns so tüchtig zu thun ist. Nein, in Amsterdam selbst hatte er um meinetwillen einem Griechen die Nase blutig geschlagen. Denn er kümmerte sich stets um Dinge, die ihn nichts angingen.

Es war im Jahre drei- oder vierunddreissig, glaube ich, und im September, denn es war gerade Jahrmarkt in Amsterdam. Da meine Eltern vorhatten, einen Prediger aus mir zu machen, lernte ich Latein. Später habe ich mich oft gefragt, warum man Lateinisch verstehen muss, um in unserer Sprache zu sagen: »Gott ist gut«? Genug, ich war auf der Lateinschule—nun sagen sie »Gymnasium«—und da war Jahrmarkt ... in Amsterdam, mein’ ich. Auf dem Westermarkt standen Buden, und wenn du ein Amsterdamer bist, Leser, und ungefähr von meinem Alter, wirst du dich erinnern, dass darunter eine war, die sich durch die schwarzen Augen und die langen Zöpfe eines Mädchens auszeichnete, das wie eine Griechin gekleidet war. Auch ihr Vater war ein Grieche, oder wenigstens: er sah so aus wie ein Grieche. Sie verkauften allerlei Parfumerien.

Ich war just alt genug, um das Mädchen schön zu finden, gleichwohl ohne den Mut zu haben, sie anzusprechen. Das würde mir auch wenig geholfen haben, denn Mädchen von achtzehn Jahren betrachten einen Jungen von sechzehn als ein Kind. Und hierin haben sie sehr recht. Doch kamen wir Jungens von Quarta des Abends stets auf den Westermarkt, um das Mädchen zu sehen.

Nun war der, der da vor mir stand mit seinem Shawl, [14]einmal dabei, obschon er ein paar Jahre jünger war als die andern und also noch zu kindlich, um nach der Griechin zu schauen. Aber er war der Primus unserer Klasse—denn tüchtig war er, das muss ich sagen—und spielen, balgen und raufen, das war sein Fall. Darum war er bei uns. Derweil wir also—wir waren wohl unser zehn—in sehr weiter Entfernung von der Bude standen, um nach der Griechin zu gucken, und berieten, wie wir es anlegen müssten, um mit ihr Bekanntschaft zu machen, wurde beschlossen, Geld zusammenzuschiessen, um etwas in der Bude zu kaufen. Aber da war guter Rat teuer, wer in die stolzen Stiefel steigen und das Mädchen ansprechen sollte. Jeder mochte gern, aber niemand wagte. Es wurde gelost, und das Los fiel auf mich. Ich will nur gleich sagen, dass ich mich jetzt nicht mehr Gefahren aussetze. Ich bin Mann und Vater, und halte jeden, der die Gefahr aufsucht, für einen Narren, was auch in der Schrift steht. Es ist mir wirklich angenehm, die Wahrnehmung zu machen, wie ich mir in meinen Ansichten über Gefahr und dergl. Dinge gleich geblieben bin, da ich jetzt diesbezüglich noch just derselben Meinung huldige, wie an jenem Abend, als ich da bei der Bude des Griechen stand, mit den zwölf Stübern in der Hand, die wir zusammengelegt hatten. Doch aus falscher Scham scheute ich mich, zu sagen, dass ich es nicht wagte, und überdies, ich musste schon dran, denn meine Kameraden drängten mich, und mit einem Male stand ich vor der Bude.

Das Mädchen sah ich nicht: ich sah nichts! Es wurde mir alles grün und gelb vor den Augen. Ich stammelte einen Aoristus primus von ich weiss nicht welchem Zeitwort ...

Plaît-il? sagte sie.

Ich sammelte mich einigermassen und fuhr fort:

—»Meenin aeide thea«, und ... Egypten sei ein Geschenk des Nil.

Ich bin überzeugt, dass es mir geglückt wäre, mit dem Mädchen vertrauter zu werden, wenn nicht in diesem Augenblick einer meiner Kameraden in seiner jungsmässigen Ausgelassenheit [15]mir einen so harten Stoss in den Rücken gegeben hätte, dass ich sehr unsanft gegen den Ausstellkasten anflog, der in halber Mannshöhe die Vorderseite des Krams abschloss. Ich fühlte einen Griff in meinen Nacken ... einen zweiten Griff weiter unten ... ich schwebte einen Augenblick ... und bevor ich recht begriff, wie die Sachen standen, war ich in der Bude des Griechen, der in verständlichem Französisch sagte, dass ich ein »gamin«, ein Gassenjunge sei, und dass er die Polizei rufen werde. Nun war ich wohl recht dicht bei dem Mädchen, doch Vergnügen machte es mir nicht. Ich weinte und bat um Gnade, denn ich war schrecklich in Angst. Doch es half nichts. Der Grieche hielt mich am Arm fest und schüttelte und knuffte mich. Ich sah mich nach meinen Kameraden um—wir hatten gerade den Morgen viel mit Scaevola zu thun gehabt, der seine Hand ins Feuer hielt, und in ihren lateinischen Aufsätzen hatten sie das so sehr schön gefunden—jawohl! Niemand war dageblieben, um für mich eine Hand ins Feuer zu stecken ...

So glaubte ich. Doch sieh, da flog auf einmal mein Shawlmann durch die Hinterthür zur Bude herein. Er war nicht gross und stark und so seine dreizehn Jahre alt, aber er war ein behendes und tapferes Kerlchen. Noch sehe ich seine Augen blitzen—sonst sahen sie matt in die Welt—gab dem Griechen einen Faustschlag, und ich war gerettet. Später habe ich gehört, dass der Grieche ihn tüchtig geschlagen hat, aber da ich von jeher den festen Grundsatz habe, mich nicht in Dinge zu mischen, die mich nichts angehen, so bin ich sofort weggelaufen. Ich habe es also nicht gesehen.

Das sind die Gründe, warum seine Züge mich so an Parfum erinnerten, und weshalb man in Amsterdam Streit mit einem Griechen kriegen kann. Wenn auf späteren Jahrmärkten dieser Mann wieder mit seiner Bude auf dem Westermarkt stand, suchte ich mein Vergnügen anderswo.

Da ich viel von philosophischen Betrachtungen halte, muss ich dir doch eben sagen, Leser, wie wunderbar doch die Dinge dieser Welt miteinander verknüpft sind. Wenn [16]die Augen dieses Mädchens weniger schwarz gewesen wären, wenn sie kürzere Zöpfe gehabt hätte, oder wenn man mich nicht gegen den Ausstellkasten geschuppst hätte, so würdest du nun dies Buch nicht lesen. Sei also dankbar, dass es so gekommen ist. Glaube mir, alles in der Welt ist gut, so wie es ist, und unzufriedene Menschen, die fortwährend klagen, sind meine Freunde nicht. Da hast du z.B. Busselinck & Waterman ... doch ich muss fortfahren, denn mein Buch muss vor der Frühjahrsauktion fertig sein.

Geradeaus gesagt—denn ich gebe was auf Wahrheit—mir war das Wiedersehen mit dieser Person nicht angenehm. Ich bemerkte sogleich, dass es keine solide Konnektion war. Er sah sehr bleich aus, und als ich ihn fragte, wie spät es sei, wusste er es nicht. Das sind Dinge, auf die ein Mensch achtet, der so seine Jahre zwanzig die Börse besucht und schon so viel mitgemacht hat. Ich hab’ schon manches Haus purzeln sehen.

Ich glaubte, dass er rechts gehen werde, und sagte daher, dass ich links müsste. Aber o weh, er ging auch links, und ich konnte also einem Gespräch nicht aus dem Wege gehen. Aber es ging mir nicht aus dem Sinn, dass er nicht wusste, wie spät es war, und obendrein bemerkte ich, dass sein Rock bis unters Kinn dicht zugeknöpft war—was ein sehr schlechtes Zeichen ist—so dass ich den Ton unserer Unterhaltung etwas kalt bleiben liess. Er erzählte mir, dass er in Indien gewesen war, dass er verheiratet sei, dass er Kinder habe. Ich hatte nichts dagegen, doch fand es auch nicht besonders von Wichtigkeit. Beim Kapelsteg—ich gehe sonst niemals durch diese Gasse, weil sich das für einen anständigen Mann nicht passt, finde ich—doch diesmal wollte ich den Kapelsteg hinein rechts abschwenken. Ich wartete, bis wir die kleine Strasse beinah vorbei waren, damit es sich gut herausstellte, dass sein Weg geradeaus führte, und darauf sagte ich sehr höflich ... denn höflich bin ich stets, man kann nicht wissen, wie man später jemanden nötig hat:

—Es war mir besonders angenehm, Sie wiederzusehen, [17]M’nheer ... r ... r! Und ... und ... und ... ich empfehle mich! Ich muss hierher.

Darauf guckte er mich ganz verdutzt an und seufzte und fasste mich auf einmal bei einem Knopf von meinem Rock ...

—Bester Droogstoppel, sagte er, ich muss Sie um etwas bitten.

Es ging mir ein Schauder durch die Glieder. Er wusste nicht, wie spät es war, und wollte mich um etwas bitten! Natürlich antwortete ich, dass ich keine Zeit hätte und nach der Börse müsste, obwohl es Abend war. Aber wenn man so seine Jahre zwanzig die Börse besucht hat ... und jemand will dich um etwas bitten, ohne zu wissen, wie spät es ist ...

Ich machte meinen Knopf los, grüsste sehr höflich—denn höflich bin ich stets—und bog in den Kapelsteg ein, was ich sonst nie thue, weil es nicht anständig ist, und Anstand geht mir über alles. Ich hoffe, dass es niemand gesehen hat. [18]

Drittes Kapitel.

Als ich tags darauf von der Börse kam, sagte Fritz, dass jemand da gewesen sei, der mich sprechen wollte. Der Beschreibung nach war es der Shawlmann. Wie er mich gefunden hatte ... nun ja, die Adresskarte! Ich überlegte mir, ob ich nicht meine Kinder von der Schule nehmen sollte, denn es ist lästig, dass einem noch zwanzig, dreissig Jahre später von einem Schulkameraden nachgesetzt wird, der einen Shawl trägt statt eines Überziehers, und der nicht weiss, wie spät es ist. Auch habe ich Fritz verboten, nach dem Westermarkt zu gehen, wenn Buden dort stehen.

Den folgenden Tag empfing ich einen Brief mit einem grossen Paket. Ich werde euch den Brief lesen lassen:

Werter Droogstoppel!

Ich finde, dass er wohl hätte sagen können: »Hochgeehrter Herr Droogstoppel, wo ich doch Makler bin.

Ich bin gestern bei Ihnen gewesen mit der Absicht, Sie um etwas zu ersuchen. Ich glaube, dass Sie in guten Verhältnissen verkehren ...

Das ist wahr, wir sind unser dreizehn auf dem Kontor.

... und ich möchte Ihren Kredit in Anspruch nehmen, um eine Sache zustande zu bringen, die für mich von grosser Bedeutung ist.

Sollte man nicht denken, dass es sich um eine Ordre auf die Frühjahrsversteigerung handelt?

Durch vielerlei verwickelte Umstände bin ich im Augenblick einigermassen um Geld verlegen.

Einigermassen? Er hatte kein Hemd an. Das nennt er ‚einigermassen‘! [19]

Ich kann meiner lieben Frau nicht alles geben, was nötig ist, um das Leben angenehm zu machen, und auch die Erziehung meiner Kinder ist, aus finanziellen Gründen, nicht so, wie ich es wohl möchte.

Das Leben angenehm zu machen? Erziehung der Kinder? Meint ihr, dass er seiner Frau eine Loge in der Oper mieten und seine Kinder auf ein Institut in Genf geben wollte? Es war Herbst und recht kalt ... nun, er wohnte unterm Dach, in ungeheiztem Raum. Als ich den Brief empfing, wusste ich dies nicht, aber später bin ich bei ihm gewesen, und jetzt noch kann ich mich nicht genug wundern über den albernen Ton in seinem Schreiben. Zum Donnerwetter, wer arm ist, kann sagen, dass er arm ist! Arme muss es geben, das ist nötig in der Gesellschaft, und es ist Gottes Wille. Wenn er nur kein Almosen verlangt und niemandem lästig fällt, hab’ ich durchaus nichts dagegen, dass er arm ist, aber diese Ziererei bei der Sache finde ich nicht angebracht. Hört weiter:

Da auf mir die Verpflichtung ruht, für die Bedürfnisse der Meinen zu sorgen, habe ich beschlossen, ein Talent auszunutzen, das, wie ich glaube, mir gegeben ist. Ich bin Dichter ...

Puh! Ihr wisst, Leser, wie ich und alle verständigen Menschen darüber denken.

... und Schriftsteller. Seit meiner Kindheit drückte ich meine Empfindungen in Versen aus, und auch später schrieb ich täglich nieder, was umging in meiner Seele. Ich glaube, dass unter dem allen einige Sachen sind, die Wert haben, und ich suche dafür einen Verleger. Aber das ist just das Schwierige. Das Publikum kennt mich nicht, und die Verleger beurteilen die Arbeiten mehr nach dem gefestigten Namen des Autors, als nach ihrem Inhalt.

Geradeso wie wir den Kaffee nach dem Renommée der Marken. Na gewiss! Wie sonst wohl?

Wenn ich nun annehmen darf, dass meine Arbeit nicht ganz ohne Verdienst ist, so würde sich das doch erst wirklich zeigen nach der Herausgabe, und die Buchhändler verlangen die Bezahlung von Druckkosten u. s. w. im voraus ...

Darin haben sie sehr recht.

... was mir in diesem Augenblick nicht gelegen kommt. Da ich gleichwohl überzeugt bin, dass meine Arbeit die Kosten decken würde und ruhig darauf mein Wort verpfänden dürfte, so bin ich, ermutigt durch unsere vorgestrige Begegnung ...

[20]

Das nennt er ermutigen!

... zu dem Entschluss gekommen, Sie zu fragen, ob Sie für mich bei einem Buchhändler Bürgschaft leisten wollen für die Kosten einer ersten Auflage, sei es auch nur eines kleinen Bändchens. Ich überlasse die Auswahl bei diesem ersten Versuch ganz Ihnen. In dem Paket, das anbei folgt, werden Sie viele Manuskripte finden und daraus ersehen, dass ich viel gedacht, gearbeitet und durchgemacht habe ...

Ich habe nie gehört, dass er irgendwie Geschäfte machte.

... und wenn die Gabe, meine Empfindungen auszudrücken, mir nicht ganz und gar mangelt, ist gewiss nicht der Mangel an Eindrücken schuld, dass ich keinen Erfolg haben sollte.

In Erwartung einer freundlichen Antwort verbleibe ich Ihr alter Schulkamerad ...

Und sein Name stand darunter. Doch den verschweige ich, weil ich nicht darauf erpicht bin, jemanden in der Leute Mund zu bringen.

Werte Leser, ihr begreift gewiss, was ich für ein Gesicht zog, als man mich so auf einmal zum Makler in Versen erhöhen wollte. Mir ist gewiss, dass dieser Shawlmann—so will ich ihn nur fortan nennen—wenn der Mann mich bei Tage gesehen hätte, sich nicht mit solch einem Ersuchen an mich gewendet haben würde. Denn Würde und Achtbarkeit lassen sich nicht verbergen. Doch es war Abend, und ich ziehe es mir also nicht an.

Es ist selbstverständlich, dass ich von diesen Possen nichts wissen wollte. Ich hätte das Paket durch Fritz zurückbringen lassen, aber ich wusste seine Adresse nicht, und er liess nichts von sich hören. Ich dachte, er sei krank, oder tot, oder sonst was.

Vorige Woche nun war Kränzchen bei den Rosemeyers, die in Zucker machen. Fritz war zum erstenmal mitgegangen. Er ist sechzehn Jahre, und ich finde es gut, dass ein junger Mensch in die Welt kommt. Sonst läuft er nach dem Westermarkt oder thut sonst was. Die Mädchen hatten Piano gespielt und gesungen, und beim Dessert neckten sie sich mit etwas, was im Vorderzimmer passiert zu sein schien, als wir hinten beim Whist sassen, und es schien sich dabei um Fritz [21]zu handeln. »Ja, ja, Luise«, rief Betsy Rosemeyer, »geweint hast du! Papa, Fritz hat Luise zum Weinen gebracht.«

Meine Frau sagte darauf, dass Fritz dann in Zukunft nicht mehr mit sollte aufs Kränzchen. Sie dachte, dass er Luise gekniffen hätte oder sonst etwas, was sich nicht schickte, und auch ich machte mich daran, ein herzhaftes Wort beizufügen, als Luise rief:

—Nein, nein, Fritz ist sehr lieb gewesen! Ich möchte, dass er es noch einmal thäte!

Was denn?—Er hatte sie nicht gekniffen, er hatte deklamiert, da habt ihr’s.

Natürlich sieht die Frau vom Hause gern, dass beim Nachtisch eine kleine Artigkeit zum Besten gegeben wird. Das macht die Sache voll. Mevrouw Rosemeyer—die Rosemeyers lassen sich Mevrouw nennen, weil sie in Zucker machen und an einem Schiff Anteile haben—Mevrouw Rosemeyer erkannte, dass etwas, das Luise zu Thränen brachte, auch uns ergötzen müsse, und verlangte ein Dacapo von Fritz, der errötete wie ein Puter. Ich konnte um alles in der Welt nicht spitz kriegen, was er wohl vorgebracht haben mochte, denn ich kannte sein Repertoire auf ein Haar. Dieses war: »Die Götterhochzeit«, »Die Bücher des Alten Testaments, in Reime gesetzt«, und eine Episode aus der »Hochzeit des Kamacho«, die die Jungen immer so gern haben, weil etwas von einem »geheimen Gemach« darin vorkommt. Was unter dem allen sein konnte, das Thränen entlockte, war mir ein Rätsel. Es ist ja wahr, so’n Mädchen weint ja bald.

»Man zu, Fritz! Ach ja, Fritz! Komm, Fritz!« So ging es, und Fritz begann. Da ich nichts davon halte, dass des Lesers Neugier raffiniertermassen in Spannung gehalten wird, will ich nur gleich sagen, dass sie zu Hause das Paket von Shawlmann geöffnet hatten, und daraus hatten Fritz und Marie eine Naseweisheit und eine Sentimentalität sich angeeignet, die mir später viel Schwierigkeiten ins Haus gebracht haben. Doch muss ich bekennen, Leser, dass dies Buch [22]auch seinen Ursprung in dem Paket hat, und ich werde mich seinerzeit gehörig dieserhalb verantworten, denn ich gebe was darauf, dass man mich als jemanden betrachte, der die Wahrheit lieb hat und der auf seine Geschäfte achtgiebt. Unsere Firma ist Last & Co., Makler in Kaffee, Lauriergracht No. 37.

Darauf rezitierte Fritz ein Ding, das aus lauter Unsinn zusammenhing. Nein, es hing nicht zusammen. Ein junger Mensch schrieb an seine Mutter, dass er verliebt gewesen wäre, und dass sein Mädchen sich mit einem andern verheiratet habe—woran sie sehr recht that, finde ich—dass er aber, ungeachtet dessen, stets viel von seiner Mutter hielte. Sind diese paar Worte deutlich oder nicht? Findet ihr, dass da viel Weitläufigkeit nötig ist, um das zu sagen? Nun, ich habe ein Brötchen mit Käse gegessen, darauf zwei Birnen geschält, und ich hatte gut halb die dritte verspeist, als Fritz mit seiner Erzählung erst zu Rande war. Aber Luise weinte wieder, und die Damen sagten, dass es sehr schön sei. Darauf erzählte Fritz, der, wie ich glaube, der Meinung war, ein grosses Stück verrichtet zu haben, dass er das Ding in dem Paket von dem Mann gefunden habe, der einen Shawl trüge, und ich setzte den Herren auseinander, wie dasselbe in mein Haus gekommen war. Aber von der Griechin sagte ich nichts, da Fritz zugegen war, und ebenso nichts von dem Kapelsteg. Jeder fand, dass ich ganz recht gehandelt hatte, indem ich mich von dem Mann losmachte. Das Ding, das Fritz rezitierte, war 1843 in Indien in der Gegend von Padang geschrieben, und das ist eine minderwertige Marke. Der Kaffee, meine ich. Aber gleich werdet ihr sehen, dass in dem Paket auch andere Dinge von mehr solider Art waren, und davon kommt das eine und andere auch in diesem Buche vor, da die Kaffeeauktionen der Handelsgesellschaft damit in Verbindung stehen. Denn ich lebe für mein Fach. [23]

Viertes Kapitel.

Bevor ich weiter gehe, habe ich euch zu sagen, dass der junge Stern gekommen ist. Es ist ein artiger Bursche. Er scheint gewandt und tüchtig, aber ich glaube, dass er ein bisschen schwärmt. Marie ist dreizehn Jahr. Seine Einkleidung ist recht ansehnlich. Ich habe ihn ans Kopierbuch gesetzt, damit er sich im holländischen Stil üben kann. Ich bin neugierig, ob nun bald Ordres von Ludwig Stern kommen werden. Marie soll ein Paar Pantoffeln für ihn sticken ... für den jungen Stern, mein’ ich. Busselinck & Waterman haben hinter den Reusen gefischt. Ein anständiger Makler benutzt keine Schleichwege, das sage ich!

Am Tage nach der Gesellschaft bei den Rosemeyers, die in Zucker machen, rief ich Fritz und gebot ihm, mir das Paket von Shawlmann zu bringen. Ihr müsst wissen, Leser, dass ich in meiner Familie sehr ängstlich auf Religion und Sittlichkeit sehe. Nun, am Abend zuvor, gerade als ich meine erste Birne geschält hatte, las ich auf dem Gesicht von einem der Mädchen, dass etwas in dem Gedicht vorkam, das nicht schicklich war. Ich selbst hatte nicht hingehört nach dem Kram, aber ich bemerkte, dass Betsy ihr Brot verkrümelte, und das war mir genug. Ihr werdet einsehen, Leser, dass ihr es mit jemandem zu thun habt, der weiss, wie es in der Welt zugeht. Ich liess mir also von Fritz das schöne Stück vom vorhergehenden Abend vorlegen und ich fand sehr bald die Stelle, die Betsys Brot verkrümelt hatte. Es wird da gesprochen [24]von einem Kind, das an der Brust der Mutter liegt—das geht ja noch—aber: »das kaum dem mütterlichen Schoss entstiegen ist«, sieh, das fand ich nicht gut—dass man davon spricht, mein’ ich—und meine Frau auch nicht. Marie ist dreizehn Jahr. Von Adebars wird bei uns nicht gesprochen, auch nicht von Kohlköpfen oder den Teichen, wo die Kinder herkommen sollen, aber so die Sachen beim Namen zu nennen, finde ich ungehörig, denn mein ganzes Trachten ist durchaus auf Sittlichkeit gerichtet. Ich liess mir von Fritz, der das Ding nun einmal »auswendig wusste«, wie Stern das nennt, versprechen, dass er es nicht wieder aufsagen würde—wenigstens nicht, bevor er Mitglied von »Doctrina« ist, denn dahin kommen keine jungen Mädchen—und dann barg ich es in meinem Schreibtisch ... das Gedicht, mein’ ich. Doch ich musste wissen, ob nicht noch mehr in dem Paket war, das Anstoss erregen konnte. Da ging ich ans Suchen und Blättern. Alles lesen konnte ich nicht, denn ich fand Sprachen darin, die ich nicht verstehe; doch ei! da fiel mein Auge auf ein dickes Heft: »Bericht über die Kaffeekultur in der Residentschaft Menado«.

Mein Herz hüpfte vor Freude, weil ich Makler in Kaffee bin—Lauriergracht No. 37—und »Menado« ist eine gute Marke. Also dieser Shawlmann, der so unsittliche Verse machte, hatte auch in Kaffee gearbeitet! Ich sah nun das Paket mit ganz andern Augen an, und ich fand Stücke darin, die ich wohl nicht alle begriff, die aber wirklich Geschäftskenntnis verrieten. Es fanden sich da Listen, Angaben, ziffernmässige Berechnungen, an denen nichts von Reim zu erkennen war, und alles war mit so viel Sorgfalt und Genauigkeit bearbeitet, dass ich, geradeaus gesagt—denn ich halte was von der Wahrheit—auf die Idee kam, dass dieser Shawlmann, wenn es mit dem dritten Kontoristen mal nichts mehr wäre—was schon kommen kann, da er alt und stümperig wird—ganz gut dessen Platz würde ausfüllen können. Es versteht sich von selbst, dass ich mir erst Informationen einholen würde über Ehrlichkeit, Glauben und Betragen, denn [25]ich nehme niemand aufs Kontor, bevor ich darüber nicht Sicherheit habe. Das ist ein fester Grundsatz bei mir. Ihr habt das aus meinem Brief an Ludwig Stern ersehen.


Ich wollte Fritz nichts davon merken lassen, dass ich dem Inhalt des Pakets Wichtigkeit beizumessen anfing, und schickte ihn deshalb weg. Es wurde mir wirklich duselig im Kopf, wie ich so die verschiedenen Teile einen nach dem andern aufnahm und die Überschriften las. Es ist wahr, viel Verse waren darunter, aber auch viel Nützliches, und ich musste staunen über die Verschiedenheit der behandelten Gegenstände. Ich gebe zu—denn ich gebe was auf Wahrheit—dass ich, der ich immer in Kaffee gemacht habe, nicht im stande bin, den Wert von dem allen zu beurteilen, aber auch ohne diese Beurteilung: allein die Liste der Überschriften war schon kurios. Da ich euch die Geschichte von dem Griechen erzählt habe, wisst ihr schon, dass ich in meiner Jugend einigermassen latinisiert worden bin, und wie sehr ich mich auch in der Korrespondenz aller Citate enthalte—was auf einem Maklerkontor auch nicht recht am Platz ist—so dachte ich doch, als ich dies alles sah: »Multa, non multum«. Oder: »De omnibus aliquid, de toto nihil.«


Doch das kam eigentlich mehr von einer Art Drang zu widersprechen und von einem gewissen Bedürfnis, die Gelehrsamkeit, die da vor mir lag, in Latein anzusprechen, als dass ich es genau so meinte. Denn wo ich längere Einsicht in das eine oder andere Stück nahm, musste ich mir gestehen, dass der Autor wohl auf der Höhe seiner Aufgabe zu stehen schien, und sogar, dass er grosse Solidität in seinen Beweisführungen an den Tag legte.


Ich fand da Abhandlungen und Aufsätze:


Über das Sanskrit als Mutter der germanischen Sprachzweige.

Über die Strafbestimmungen, Kindesmord betreffend.

Über den Ursprung des Adels. [26]

Über den Unterschied in den Begriffen: Unendliche Zeit und Ewigkeit.

Über die Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Über das Buch Hiob. (Ich fand noch etwas über Hiob, aber das waren Verse.)

Über Protëine in der atmosphärischen Luft.

Über die Politik Russlands.

Über die Vokale.

Über Zellengefängnisse.

Über die alten Hypothesen vom »horror vacui«.

Über das Wünschenswerte der Abschaffung von Strafbestimmungen, die die Beleidigung betreffen.

Über die Ursachen des Aufstandes der Niederländer gegen Spanien, nicht zu suchen in dem Streben nach Gewissensfreiheit und politischer Freiheit.

Über das »perpetuum mobile«, die Quadratur des Zirkels und die Wurzel von wurzellosen Zahlen.

Über die Schwere des Lichts.

Über den Rückgang der Kultur seit dem Entstehen des Christentums. (Nanu?)

Über die isländische Mythologie.

Über den »Emile« von Rousseau.

Über die »Civile Rechtsforderung« in Sachen des Kaufhandels.

Über den Sirius als Mittelpunkt eines Sonnensystems.

Über das Einfuhrbesteuerungs-Gesetz, als unzweckmässig, rücksichtslos, ungerecht und unsittlich. (Davon hatte ich niemals etwas gehört.)

Über Verse als die älteste Sprache. (Das glaube ich nicht.)

Über weisse Ameisen.

Über das Widernatürliche in Schuleinrichtungen.

Über die Prostitution in der Ehe. (Das ist ein schändliches Stück!)

Über hydraulische Einrichtungen in Verbindung mit der Reiskultur. [27]

Über das scheinbare Übergewicht der Westlichen Kultur.

Über Kataster, Registratur und Stempelwesen.

Über Kinderbücher, Fabeln und Märchen. (Dies will ich mal lesen, weil er auf Wahrheit dringt.)

Über Zwischenglieder im Handel. (Dies gefällt mir ganz und gar nicht. Ich glaube, er will die Makler abschaffen. Aber ich habe es doch zur Seite gelegt, weil das eine und andere darin vorkommt, das ich für mein Buch gebrauchen kann.)

Über das Erbschaftsrecht, eine der besten Besteuerungen.

Über die Erfindung der Keuschheit. (Dies verstehe ich nicht.)

Über Vermannigfachung, Multiplikation. (Dieser Titel klingt ganz einfach, aber es steht viel in dem Stück, woran ich früher nie gedacht hatte.)

Über eine gewisse Art von Geist und Scharfsinn bei den Franzosen, eine Folge der Armut ihrer Sprache. (Das lasse ich gelten. Witzigkeit und Armut ... er kann es wissen.)

Über die Beziehungen zwischen den Romanen von August Lafontaine und der Schwindsucht. (Das will ich mal lesen, da von diesem Lafontaine Bücher auf dem Boden liegen. Doch er sagt, dass der Einfluss sich erst im zweiten Geschlecht zeigt. Mein Grossvater las nicht.)

Über die Macht der Engländer ausserhalb Europas.

Über das Gottesgericht im Mittelalter und jetzt.

Über die Rechenkunst bei den Römern.

Über Armut an Poesie bei Tonsetzern.

Über Pietisterei, Benebelung und Tischrücken.

Über epidemische Krankheiten.

Über den Maurischen Baustil.

Über die Kraft der Vorurteile, sichtbar an Krankheiten, die durch Zug verursacht sein sollen. (Hab’ ich nicht gesagt, dass die Liste kurios ist?)

Über die deutsche Einheit.

Über die Länge auf See. (Ich denke, dass auf See wohl alles ebenso lang sein wird wie an Land.) [28]

Über die Pflichten der Regierung bezüglich öffentlicher Lustbarkeiten.

Über die Übereinstimmung in den schottischen und friesischen Sprachen.

Über Prosodie.

Über die Schönheit der Frauen zu Nîmes und zu Arles, mit einer Untersuchung über das Kolonisierungssystem der Phönicier.

Über Landbauverträge auf Java.

Über das Saugvermögen einer Pumpe neuen Modells.

Über Legitimität von Dynastien.

Über die Volkslitteratur bei javanischen Rhapsoden.

Über die neue Art des Segelreffens.

Über die Perkussion, angewendet auf Hand-Granaten. (Dieses Stück datiert von 1847, also aus einer Zeit vor Orsini!)

Über den Ehrbegriff.

Über die apokryphen Bücher.

Über die Gesetze von Solon, Lycurgus, Zoroaster und Confucius.

Über die elterliche Gewalt.

Über Shakespeare als Geschichtsschreiber.

Über die Sklaverei in Europa. (Worauf er hier hinaus will, begreife ich nicht. Nun, dergleichen ist da mehreres!)

Über Schrauben-Wassermühlen.

Über das souveräne Recht der Begnadigung.

Über die chemischen Bestandteile des Zimmtes von Ceylon.

Über die Zucht auf Kauffahrteischiffen.

Über die Opiumpacht auf Java.

Über die Bestimmungen bezüglich des Verkaufs von Gift.

Über den Durchstich der Landenge von Suez und die Folgen hiervon.

Über die Entrichtung von Landrenten in natura.

Über die Kaffeekultur zu Menado. (Dies habe ich schon genannt.)

Über die Auflösung des Römischen Reichs. [29]

Über die »Gemütlichkeit« der Deutschen.

Über die skandinavische Edda.

Über die Pflicht Frankreichs, sich im Indischen Archipel ein Gegengewicht gegenüber England zu schaffen. (Dieses war in Französisch geschrieben. Warum, weiss ich nicht.)

Über das Essigmachen.

Über die Verehrung von Schiller und Goethe im deutschen Mittelstande.

Über die Ansprüche des Menschen auf Glück.

Über das Recht des Aufstandes bei Unterdrückung. (Dies war in Javanisch. Ich habe den Titel erst später erfahren.)

Über ministerielle Verantwortlichkeit.

Über einige Punkte in der kriminellen Rechtsforderung.

Über das Recht eines Volks, zu fordern, dass die aufgebrachte Steuer zu seinem Besten verwendet werde. (Das war wieder in Javanisch.)

Über das doppelte A und das griechische ETA.

Über das Bestehen eines unpersönlichen Gottes in den Herzen der Menschen. (Eine infame Lüge!)

Über den Stil.

Über eine Konstitution des Reiches INSULINDE. (Ich habe niemals von diesem Reich gehört.)

Über den Mangel an Ephelkustik in unsern grammatikalischen Regeln.

Über Pedanterie. (Ich glaube, dass dies Stück mit viel Sachkenntnis geschrieben ist.)1

Über die Verpflichtung Europas gegenüber den Portugiesen.

Über Stimmen des Waldes.

Über Brennbarkeit von Wasser. (Ich denke, dass er »Feuerwasser« und sonstige starke Essenzen im Auge hat.) [30]

Über den Milchsee. (Ich habe davon niemals gehört. Es scheint in der Nähe von Banda zu sein.)

Über Seher und Propheten.

Über Elektrizität als Motorkraft, ohne weiches Eisen.

Über Ebbe und Flut der Kultur.

Über den epidemischen Niedergang in Staatshaushalten.

Über bevorrechtete Handelsgesellschaften. (Hierin kommt dieses und jenes vor, das ich für mein Buch nötig habe.)

Über Etymologie als Hülfsquelle bei ethnologischen Forschungen.

Über die Vogelnestklippen an der javanischen Südküste.

Über die Stelle, wo der Tag beginnt. (Begreife ich nicht.)

Über persönliche Begriffe als Massstab der Verantwortlichkeit in der sittlichen Welt. (Lächerlich! Er sagt, dass jeder sein eigner Richter sein solle. Wo kämen wir da hin!)

Über Galanterie.

Über den Versbau der Hebräer.

Über das »Century of inventions« vom Marquis von Worcester.

Über die nicht-essende Bevölkerung des Eilandes Rotti bei Timor. (Es muss da billig leben sein.)

Über die Menschenfresserei der Battahs und über die Kopfjägerei der Alfuren.

Über das Misstrauen gegenüber der öffentlichen Sittlichkeit. (Er will, glaube ich, die Schlosser (als Hersteller der Schlösser) abschaffen. Ich bin dagegen.)

Über »das Recht« und »die Rechte«.

Über Béranger als Philosophen. (Dies versteh’ ich wieder nicht.)

Über die Abneigung der Malayen gegen die Javanen.

Über die Wertlosigkeit des Unterrichts auf den sogenannten Hochschulen.

Über den lieblosen Geist unserer Vorfahren, sichtbar an ihren Begriffen über Gott. (Schon wieder ein gottloses Stück!) [31]

Über den Zusammenhang der Sinneswerkzeuge. (Es ist wahr, als ich ihn sah, roch ich Rosenöl.)

Über die »Spitzwurzel« des Kaffeebaums. (Dies habe ich für mein Buch auf die Seite gelegt.)

Über Gefühl, Mitgefühl, ‚sensiblerie‘, Empfindelei u. s. w.

Über die begriffliche Verwirrung von Mythologie und Religion.

Über den Palmwein auf den Molukken.

Über die Zukunft des niederländischen Handels. (Dies ist eigentlich das Stück, das mich bewogen hat, dies Buch zu schreiben. Er sagt, dass nicht immer so grosse Kaffeeauktionen werden abgehalten werden, und ich lebe für mein Fach.)

Über Genesis. (Ein infames Stück!)

Über die geheimen Gesellschaften bei den Chinesen.

Über das Zeichnen als natürliche Schrift. (Er sagt, dass ein neugebornes Kind zeichnen kann!)

Über Wahrheit in Poesie. (Ei gewiss!)

Über die Unbeliebtheit der Reisschälmühlen auf Java.

Über den Zusammenhang von Poesie und mathematischen Wissenschaften.

Über die Wajangs der Chinesen.

Über den Preis des Java-Kaffees. (Das habe ich zur Seite gelegt.)

Über ein europäisches Münzsystem.

Über Berieselung von Gemeindefeldern.

Über den Einfluss der Rassenmischung auf den Geist.

Über Gleichgewicht im Handel. (Er spricht darin von Wechselagio. Ich habe es für mein Buch auf die Seite gelegt.)

Über die Beständigkeit von asiatischen Gewohnheiten. (Er behauptet, dass Jesus einen Turban trug.)

Über die Ideen von Malthus bezüglich der Bevölkerungszahl in Verbindung mit den Unterhaltsmitteln.

Über die ursprüngliche Bevölkerung von Amerika.

Über die »havenhoofden« (Hafenköpfe, gemauerte Wälle am Eingange eines Hafens) von Batavia, Samarang und Surabaja. [32]

Über Baukunst als Ausdruck von Ideen.

Über das Verhältnis der europäischen Beamten zu den Regenten auf Java. (Hiervon kommt das eine und andere in mein Buch.)

Über das Wohnen in Kellern zu Amsterdam.

Über die Kraft des Irrtums.

Über die Arbeitslosigkeit eines höheren Wesens bei vollkommenen Naturgesetzen.

Über das Salzmonopol auf Java.

Über die Würmer in der Sagopalme. (Die werden gegessen, sagt er ... bbä!)

Über die Sprüche, den Prediger, das Hohelied und über die Pantūns der Javanen.

Über das ‚jus primi occupantis‘.

Über die Armut der Malkunst.

Über die Unsittlichkeit des Angelns. (Wer hat davon jemals gehört?)

Über die Sünden der Europäer ausserhalb Europas.

Über die Waffen der schwächeren Tierarten.

Über das ‚jus talionis‘. (Schon wieder ein infames Stück! Mit einem Gedicht von einem andern, das ich gewiss für das allerschandbarste erklärt haben würde, wenn ich es ausgelesen hätte.)


Und das war noch nicht alles! Ich fand, um von den Versen nicht zu sprechen—es waren deren in vielerlei Sprachen—eine Anzahl von Stücken, denen der Titel fehlte, Romanzen in malayischer Sprache, Kriegsgesänge in Javanisch, und was nicht noch alles! Auch Briefe fand ich, wovon viele in Sprachen, die ich nicht verstand. Einige waren an ihn geschrieben, oder besser, es waren nur Abschriften, doch er schien damit einen bestimmten Zweck zu verbinden, denn es war alles von anderen Personen gezeichnet als: »gleichlautend mit dem Original«. Dann fand ich noch Auszüge aus Tagebüchern, Aufzeichnungen und lose Gedanken—einzelne wirklich sehr lose. [33]

Ich hatte, wie ich bereits sagte, einige Stücke auf die Seite gelegt, weil sie mir in mein Fach zu schlagen schienen, und für mein Fach lebe ich. Doch ich muss zugeben, dass ich wegen des übrigen in Verlegenheit war. Zurücksenden konnte ich das Paket nicht, denn ich wusste nicht, wo er wohnte. Es war nun einmal offen. Ich konnte nicht leugnen, dass ich Einblick genommen hatte, und das würde ich auch nicht gethan haben, da es mir immer sehr um die Wahrheit zu thun ist. Auch glückte es mir nicht, es wieder so zu schliessen, dass von dem Öffnen nichts zu sehen war. Überdies kann ich nicht verhehlen, dass einige Stücke, die über Kaffee nämlich, mir Interesse einflössten, und dass ich gern davon Gebrauch gemacht hätte. Ich las täglich hier und da einige Seiten, und ich kam je länger je mehr zu der Überzeugung, dass man Makler in Kaffee sein muss, um so recht zu erfahren, was in der Welt vorgeht. Ich bin überzeugt, dass die Rosemeyers, die in Zucker machen, niemals so etwas unter die Augen bekommen haben.

Ich fürchtete nun, dass dieser Shawlmann plötzlich wieder vor mir stehen würde und mir wieder etwas zu sagen haben möchte. Jetzt fing es mich an zu verdriessen, dass ich an jenem Abend in den Kapelsteg eingebogen war, und ich sah ein, dass man niemals den anständigen Weg verlassen muss. Natürlich hätte er mich um Geld gefragt und hätte von seinem Paket gesprochen. Ich hätte ihm vielleicht etwas gegeben, und wenn er mir dann am folgenden Tag die Masse Schreiberei zugeschickt hätte, so wäre es mein rechtliches Eigentum gewesen. Ich hätte dann den Weizen von der Spreu scheiden können, ich hätte die Nummern zurückbehalten, die ich für mein Buch nötig hatte, und den Rest verbrannt oder in den Papierkorb geworfen, was ich nun nicht thun kann. Denn wenn er zurückkäme, müsste ich es abliefern, und wenn er sähe, dass ich an ein paar Stücken von seiner Hand Interesse zeigte, würde er sicher zu viel dafür fordern. Nichts giebt dem Verkäufer mehr Übergewicht, als die Entdeckung, dass dem Käufer an seiner Ware gelegen ist. So eine [34]Position wird denn auch von einem Kaufmann, der sein Fach versteht, so viel wie möglich vermieden.

Ein anderer Gedanke—ich sprach schon davon—der beweisen möge, wie empfänglich für menschenfreundliche Anwandlungen einen das Besuchen der Börse lassen kann, war dieser: Bastians—das ist der dritte Schreiber, der so alt und stümperig wird—war die letzte Zeit von den dreissig Tagen sicher keine fünfundzwanzig auf dem Kontor gewesen, und wenn er ins Kontor kommt, macht er seine Arbeit oft noch schlecht. Als ehrlicher Mann bin ich der Firma gegenüber—Last & Co., seit die Meyers raus sind—verpflichtet, dafür zu sorgen, dass jeder seine Arbeit thut, und ich darf nicht aus verkehrt angewendetem Mitleid oder aus Überempfindlichkeit das Geld der Firma wegwerfen. So ist mein Grundsatz. Ich gebe lieber dem Bastians aus meiner eigenen Tasche ein Dreiguldenstück, als dass ich fortfahre, ihm die siebenhundert Gulden auszuzahlen, die er nicht mehr verdient. Ich habe ausgerechnet, dass der Mann seit vierunddreissig Jahren an Einkommen—sowohl von Last & Co., wie von Last & Meyer, aber die Meyers sind raus—die Summe von beinah fünfzehntausend Gulden genossen hat, und das ist für einen Mann von seinem Stande ein anständiges Sümmchen. Es giebt wenige unter den kleinen Bürgersleuten, die so viel besitzen. Recht zu klagen hat er also nicht. Ich bin auf diese Berechnung gekommen durch Shawlmanns Stück über die Multiplikation.

Dieser Shawlmann schreibt eine gute Hand, dachte ich. Überdies, er sah ärmlich aus und wusste nicht, wie spät es war ... wie wär’s, dachte ich, wenn ich ihm die Stelle von Bastians gäbe? In diesem Falle würde ich ihm sagen, dass er mich »M’nheer« nennen müsse, aber er würde wohl selbst schon dahinterkommen, denn es geht doch nicht, dass ein Angestellter seinen Prinzipal bei Namen anredet, und ihm wäre vielleicht fürs Leben geholfen. Er könnte mit vier- oder fünfhundert Gulden anfangen—unser Bastians hat auch lange gearbeitet, bis er zu siebenhundert aufstieg—und ich [35]hätte eine gute That gethan. Ja, mit dreihundert Gulden würde er wohl beginnen können, denn da er niemals vorher in einem Geschäft Stellung hatte, kann er wohl die ersten Jahre als Lehrzeit betrachten, was nur billig wäre, denn er kann sich nicht in einen Rang stellen mit Menschen, die viel gearbeitet haben. Ich bin überzeugt, dass er mit zweihundert Gulden zufrieden sein würde. Aber ich hatte noch keine Garantien wegen seines Betragens ... er hatte einen Shawl um. Und zudem, ich wusste nicht, wo er wohnte.

Ein paar Tage darauf waren der junge Stern und Fritz zusammen im »Wappen von Bern« auf einer Bücherauktion gewesen. Fritz hatte ich verboten, etwas zu kaufen, doch Stern, der reichlich Taschengeld hat, kam mit einigen Schmökern nach Haus. Das ist seine Sache. Doch sieh, da erzählte Fritz, dass er Shawlmann gesehen hätte, der bei dem Verschleiss angestellt schien. Er hätte die Bücher aus den Schränken genommen und sie auf dem langen Tisch dem Auktionator zugeschoben. Fritz sagte, dass er sehr bleich aussah, und dass ein Herr, der da die Aufsicht zu haben schien, ihn ausgezankt hätte, weil er ein paar Jahrgänge von der »Aglaja« hatte fallen lassen, was ich denn auch sehr ungeschickt finde, denn das ist eine allerliebste Sammlung von Damenhandarbeiten. Marie hält sie zusammen mit den Rosemeyers, die in Zucker machen. Sie macht Knüpfarbeit daraus ... aus der »Aglaja«, meine ich. Aber unter dem Zanken hatte Fritz gehört, dass er fünfzehn Stüber den Tag verdiente. »Denken Sie, dass ich Lust habe, fünfzehn Stüber täglich für Sie aus’m Fenster zu schmeissen?« hatte der Herr gesagt. Ich rechnete aus, dass fünfzehn Stüber täglich—ich denke, dass die Sonn- und Festtage nicht mitzählen, sonst hätte er ein Monats- oder Jahresgehalt genannt—zweihundertfünfundzwanzig Gulden im Jahr ausmachen. Ich bin schnell in meinen Entschlüssen—wenn man so lange Geschäftsmann ist, weiss man immer sofort, was man zu thun hat—und am andern Morgen früh war ich bei Gaafzuiger. So heisst der Buchhändler, der die Auktion veranstaltet hatte. [36]Ich fragte nach dem Mann, der die »Aglaja« hätte fallen lassen.

—Der hat seinen Laufpass, sagte Gaafzuiger. Er war faul, dünkelhaft und kränklich.

Ich kaufte ein Schächtelchen Oblaten und beschloss sogleich, es mit unserm Bastians noch mal anzusehen. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, einen alten Mann so auf die Strasse zu setzen. Strenge, doch, wo es sein kann, milde und gütig, das ist immer mein Grundsatz gewesen. Ich versäume aber niemals, mich über etwas zu unterrichten, was dem Geschäfte zugute kommen kann, und darum fragte ich Gaafzuiger, wo der Shawlmann wohnte. Er gab mir die Adresse, und ich schrieb sie auf.

Ich dachte andauernd über mein Buch nach, doch da ich auf Wahrheit sehe, muss ich geradeaus sagen, dass ich nicht wusste, was ich da anzufangen hatte. Ein Ding steht fest: die Baustoffe, die ich in Shawlmanns Paket gefunden hatte, hatten grosses Interesse für die Makler in Kaffee. Die Frage war nur, wie ich handeln musste, um diese Baustoffe gehörig auszuwählen und aneinanderzureihen. Jeder Makler weiss, von welchem Gewicht eine gute Sortierung der einzelnen Ballen ist.

Doch schreiben—ausgenommen die Korrespondenz mit den Geschäftshäusern—liegt so gar nicht in meinem Beruf; und doch fühlte ich, dass ich schreiben müsste, denn vielleicht hängt die Zukunft der ganzen Branche davon ab. Die Angaben, die ich in dem Paket von Shawlmann fand, sind nicht von einer Art, dass Last & Co. den Nutzen davon für sich allein behalten könnten. Wenn dies so wäre, so würde ich mir nicht, das begreift jeder, die Mühe machen, ein Buch drucken zu lassen, das Busselinck & Waterman auch in die Hände kriegen, denn wer einem Konkurrenten auf die Beine hilft, kann seine fünf Sinne nicht haben. Das ist ein fester Grundsatz bei mir. Nein, ich sah ein, dass eine Gefahr droht, dass der ganze Kaffeemarkt zu Grunde gehen würde, eine Gefahr, welche nur durch die vereinten Kräfte [37]aller Makler abgewehrt werden kann; ja, es ist möglich, dass diese Kräfte dazu nicht einmal ausreichend sind und dass auch die Zuckerraffinadeure—Fritz sagt: »raffineure«, aber ich schreibe »nadeure«; das thun die Rosemeyers auch, und die machen in Zucker. Ich weiss wohl, dass man sagt: raffinierter Schelm und nicht: raffinadierter Schelm, aber das kommt daher, dass jeder, der mit Schelmen zu thun hat, sich so schnell wie möglich von der Sache drückt—dass dann auch die Raffinadeure und die Händler in Indigo dabei nötig sein werden.

Wie ich so über dem Schreiben nachdenke, kommt es mir vor, dass selbst die Schiffsreedereien einigermassen dabei interessiert sind, und die Kauffahrteiflotte ... gewiss, so ist es! Und die Segelmacher auch, und der Finanzminister, und die Armenbehörden, und die andern Minister, und die Zuckerbäcker, und die Galanteriewarenhändler, und die Frauen, und die Schiffsbaumeister, und die Grossisten, und die Detailhändler, und die Hauswärter, und die Gärtner.

Und—merkwürdig doch, wie einem die Gedanken so unterm Schreiben aufkommen—mein Buch geht auch die Müller an, und die Pastoren, und die Verkäufer von Schweizerpillen, und die Liqueurfabrikanten, und die Ziegelbrenner, und die Menschen, die von der Staatsschuld leben, und die Pumpenmacher, und die Reepschläger, und die Weber, und die Schlächter, und die Schreiber auf den Maklerkontoren, und die Aktionäre von der »Niederländischen Handelsgesellschaft«, und eigentlich, recht betrachtet, alle andern auch.

Und den König auch ... ja, den König vor allem!

Mein Buch muss in die Welt. Dagegen ist nichts zu machen! Lass es auch meinetwegen Busselinck & Waterman in die Finger kriegen ... Abgunst ist meine Sache nicht. Aber Pfuscher und hinterlistige Hallunken sind sie, das sage ich! Ich habe es heute noch dem jungen Stern gesagt, als ich ihn in »Artis«, unsere zoologische Garten-Gesellschaft, introduzierte. Er mag es ruhig seinem Vater schreiben. [38]

So sass ich denn noch vor ein paar Tagen arg im Dustern mit meinem Buch, und sieh doch, Fritz hat mir auf den Weg geholfen. Ihm selbst habe ich dies nicht gesagt, weil ich es nicht gut finde, jemanden merken zu lassen, dass man ihm verpflichtet ist—dies ist ein Grundsatz bei mir—aber wahr ist es. Er sagte, dass Stern so ein tüchtiger Junge wäre, dass er so schnell Fortschritte in der Sprache mache und dass er deutsche Verse von Shawlmann ins Holländische übersetzt hätte. Ihr seht, die Welt war auf den Kopf gestellt in meinem Hause: der Holländer hatte in deutscher Sprache geschrieben, und der Deutsche übersetzte das ins Holländische. Wenn jeder sich an seine eigene Sprache gehalten hätte, wäre Mühe gespart worden. Aber, dachte ich, wenn ich mein Buch von diesem Stern schreiben liesse? Wenn ich was hinzuzufügen habe, schreibe ich selbst von Zeit zu Zeit ein Kapitel. Fritz kann auch helfen. Er hat eine Liste von Wörtern, die mit zwei e’s geschrieben werden, und Marie kann alles ins Reine schreiben. Dies ist gleichzeitig für den Leser eine Garantie gegen alle Unsittlichkeit. Denn das begreift ihr wohl, dass ein anständiger Makler seiner Tochter nichts in die Hände geben wird, was sich nicht mit Sitte und Anstand verträgt!

Ich habe dann zu den Jungen über meinen Plan gesprochen, und sie fanden ihn gut. Nur schien Stern, bei dem man—wie bei vielen Deutschen—einen Stich ins Litterarische wahrnehmen kann, Stimme haben zu wollen in Bezug auf die Art der Ausführung. Dies gefiel mir nun zwar nicht sehr, doch weil die Frühjahrsauktion vor der Thür steht und ich von Ludwig Stern noch keine Ordres habe, wollte ich ihm nicht zu stark widersprechen. Er sagte, dass: »wenn die Brust ihm erglühte vom Gefühl für das Wahre und Schöne, keine Macht der Welt ihn hindern könne, die Töne anzuschlagen, die mit diesem Gefühl übereinstimmten, und dass er viel lieber schwiege, als seine Worte von den entehrenden Fesseln der Alltäglichkeit gebändigt zu sehen.«—Ich fand dies nun wohl recht närrisch von Stern, aber mein Fach geht [39]allem vor, und der Alte ist ein gutes Haus. Wir setzten also fest:

Ich erklärte mich mit allem einverstanden, denn es hatte grosse Eile mit meinem Buch. Stern hatte am folgenden Tag sein erstes Kapitel fertig, und so siehst du nun die Frage beantwortet, Leser, wie es kommt, dass ein Makler in Kaffee—Last & Co., Lauriergracht 37—ein Buch schreibt, das mit einem Roman Ähnlichkeit hat.

Kaum hatte Stern mit seiner Arbeit begonnen, und er stiess auf Schwierigkeiten. Ausser der Mühe, aus so viel Baustoffen das Nötige herauszusuchen und alles aneinanderzureihen, [40]kamen noch fortwährend in den Manuskripten Wörter und Ausdrücke vor, die er nicht verstand und die auch mir fremd waren. Es war meistens javanisch oder malayisch. Auch waren hier und da Abkürzungen angebracht, die schwer zu entziffern waren. Ich sah ein, dass wir Shawlmann nötig hatten, und da ich es für einen jungen Menschen nicht gut finde, dass er unrechte Konnexionen anknüpft, wollte ich weder Fritz noch Stern zu ihm senden. Ich nahm einige Konfektstücke mit, die vom letzten Abendkränzchen übrig geblieben waren—denn ich denke stets an alles—und ich suchte ihn auf. Glänzend war seine Behausung nicht, doch die Gleichheit für alle Menschen, also auch was die Wohnungen angeht, ist ein Hirngespinst. Er selbst hatte das gesagt in seiner Abhandlung über die Ansprüche auf Glück. Überdies, ich halte nichts von Menschen, die ewig unzufrieden sind.

Seine Wohnung befand sich in der Langen-Leydener-Querstrasse, nach hinten liegend. Im Unterhause wohnte ein Trödler, der alle möglichen Dinge verkaufte, Tassen, Schüsseln, Möbel, alte Bücher, Glaswaren, Bildnisse von Van Speyk und dergleichen mehr. Ich hatte Angst, dass ich was zerbräche, denn in solchem Fall fordern die Menschen immer mehr Geld für die Sachen, als sie wert sind. Ein kleines Mädchen sass auf der Schwelle und kleidete ihre Puppe an. Ich fragte, ob M’nheer Shawlmann dort wohnte. Sie lief weg, und die Mutter kam.

—Ja, der wohnt hier, M’nheer. Gehn Sie nur die Treppe rauf nach ’n ersten Flur und dann die Treppe nach ’n zweiten Flur und dann noch ’ne Treppe und dann sind Sie da, denn Sie kommen ganz von selbst hin. Minchen, sag’ doch mal eben Bescheid, dass ’n Herr da ist. Was kann sie sagen, wer da ist, M’nheer?

Ich sagte, dass ich M’nheer Droogstoppel sei, Makler in Kaffee, von der Lauriergracht, doch dass ich mich wohl gleich selbst vorstellen würde. Ich kletterte so hoch, wie mir gesagt war, und hörte auf dem dritten Flur eine Kinderstimme [41]singen: »Gleich kommt Vater, mein süsser Papa«. Ich klopfte, und die Thür wurde von einer Frau geöffnet, oder einer Dame—ich weiss selbst nicht recht, was ich aus ihr machen soll. Sie sah sehr bleich aus. Ihre Züge trugen Spuren von Müdigkeit und liessen mich an meine Frau denken, wenn sie die Wäsche hinter sich hat. Sie war gekleidet in ein langes weisses Hemd, oder in eine Jacke ohne Taille, die ihr bis an die Knie hing und an der Vorderseite mit einer schwarzen Nadel befestigt war. An Stelle eines Kleides oder Rocks, wie es sich gehört, trug sie darunter ein Stück dunkel geblümter Leinwand, das einige Male um den Leib gewickelt schien und ihre Hüften und Kniee ziemlich eng umschloss. Keine Spur von Falten, von genügender Weite oder Umfang, wie sich das doch für eine Frau ziemt. Ich war froh, dass ich Fritz nicht geschickt hatte, denn ihre Kleidung kam mir sehr unschicklich vor, und der sonderbare Eindruck wurde noch verstärkt durch die Ungeniertheit, mit der sie sich bewegte, als fühlte sie sich ganz wohl so. Das Weib schien keineswegs zu wissen, dass sie nicht aussah wie andere Frauen. Auch kam es mir so vor, als wenn mein Kommen sie keineswegs verlegen machte. Sie versteckte nichts unterm Tisch, rückte nicht mit den Stühlen und that nichts, was man doch sonst zu thun pflegt, wenn ein Fremder von nobler Erscheinung kommt.

Sie hatte die Haare hintenüber gekämmt wie eine Chinesin und sie hinten auf dem Kopf zu einer Art Schlinge oder Knoten zusammengebunden. Später habe ich vernommen, dass ihre Kleidung eine Art indischer Tracht ist, die sie dazulande »Sarong« und »Kabaai« nennen, aber ich fand es doch sehr hässlich.

—Sind Sie Frau Shawlmann? fragte ich.

—Wen habe ich die Ehre zu sprechen? sagte sie, und zwar in einem Ton, der mir anzudeuten schien, dass auch ich etwas mehr »Ehre« in meine Frage hätte legen dürfen.

Nun, Komplimente sind nicht meine Sache. Mit einem Geschäftskunden ist das was anderes, und ich bin zu lange [42]geschäftlich thätig, um meine Welt nicht zu kennen. Aber viel Bücklinge zu machen auf einer dritten Etage, das hielt ich nicht für nötig. Ich sagte also kurz, dass ich M’nheer Droogstoppel wäre, Makler in Kaffee, Lauriergracht 37, und dass ich ihren Mann sprechen wollte. Was brauchte ich denn da viel Umstände machen!

Sie bot mir einen Küchenstuhl an und nahm ein kleines Mädchen auf den Schoss, das auf dem Boden sass und spielte. Der kleine Junge, den ich hatte singen hören, sah mich stramm an und beguckte mich von oben bis unten. Der schien mir auch durchaus nicht verlegen! Es war ein Bengel von etwa sechs Jahren, auch schon so sonderbar gekleidet. Sein weites Höschen reichte knappernot bis zur Mitte des Schenkels, und die Beine waren von da ab bloss bis auf die Knöchel. Sehr unanständig finde ich das. »Kommst du, um Papa zu sprechen?« fragte er auf einmal, und mir wurde da sofort klar, dass die Erziehung von dem Jungen viel zu wünschen übrig liess, sonst hätte er »Kommen Sie« gesagt. Doch weil ich mich in meiner Situation nicht recht wohl fühlte und was reden wollte, antwortete ich:

—Ja, Kerlchen, ich komme, um deinen Papa zu sprechen. Wird er wohl bald kommen, denkst du?

—Das weiss ich nicht. Er ist aus und sucht Geld, um mir einen Tuschkasten zu kaufen.

—Still, meine Junge, sagte die Frau. Spiele mal mit deinen Bildern oder mit der chinesischen Spieldose.

—Du weisst doch, dass der Herr gestern alles mitgenommen hat.

Auch seine Mutter nannte er »du«, was in Holland gerade nicht als feine Sitte gilt, und es schien ein »Herr« dagewesen zu sein, der alles »mitgenommen hatte« ... ein spassiger Besuch! Die Frau schien auch nicht bei Laune, denn sie wischte sich heimlich die Augen, als sie das kleine Mädchen zu ihrem Bruder hinbrachte. »Da, sagte sie, spiel’ ’n bisschen mit Nonni.« Ein seltsamer Name. Und das that er. [43]

—Nun, Frau Shawlmann, fragte ich, erwarten Sie Ihren Mann bald zurück?

—Ich kann nichts Bestimmtes sagen, antwortete sie.

Da liess auf einmal der kleine Junge seine Schwester, mit der er »Kahnfahren« gespielt hatte, im Stich und fragte mich:

—M’nheer, warum sagst du zu Mama: »Frau«?

—Wie denn, Bürschchen, was muss ich denn sonst sagen?

—Na ... so wie andere Menschen! Die »Frau« ist unten. Die verkauft Schüsseln und Brummkreisel.

Nun bin ich Makler in Kaffee—Last & Co., Lauriergracht No. 37—wir sind unser dreizehn auf dem Kontor, und wenn ich Stern mitzähle, der kein Salair empfängt, sind es vierzehn. Nun wohl, meine Ehefrau ist »Frau«, und ich sollte nun zu solchem Weib »Mevrouw« sagen? Das ging doch nicht! Jeder muss in seinem Stande bleiben, und, was mehr bedeutet, gestern hatten die Gerichtsvollzieher den ganzen Kram weggeholt. Ich fand mein »Frau« also gut, und blieb dabei.

Ich fragte, warum Shawlmann nicht bei mir vorgesprochen hätte, um sein Paket wieder abzuholen. Sie schien davon zu wissen und sagte, dass sie auf Reisen gewesen wären, nach Brüssel. Dass er da für die »Indépendance« gearbeitet habe, dass er jedoch nicht hätte bleiben können, weil seine Artikel Ursache waren, dass das Blatt an der französischen Grenze so oft zurückgewiesen wurde. Dass sie vor einigen Tagen nach Amsterdam zurückgekehrt seien, weil Shawlmann hier eine Stellung erhalten sollte ...

—Gewiss bei Gaafzuiger? fragte ich.

Ja, so war es. Doch das war nichts Rechtes, sagte sie. Nun, hiervon wusste ich mehr als sie selbst. Er hatte die »Aglaja« fallen lassen und war faul, dünkelhaft und kränklich ... nur darum war er weggejagt.

Und, fuhr sie fort, gewiss werde er dieser Tage zu [44]mir kommen und vielleicht jetzt gerade zu mir hin sein, um sich Antwort auf das von ihm gestellte Ersuchen zu holen.

Ich sagte, dass Shawlmann ruhig mal kommen könne, doch dass er nicht klingeln solle, denn das ist so unbequem für das Mädchen. Wenn er einen Augenblick wartete, sagte ich, würde die Thür wohl mal offen gehen, wenn jemand heraus müsste. Und darauf ging ich fort und nahm meine Zuckersachen wieder mit, denn, geradeaus gesagt, es gefiel mir da nicht. Ich fühlte mich nicht wohl dort. Ein Makler ist doch kein Dienstmann, dünkt mich, und ich kann doch wohl behaupten, dass ich anständig aussehe. Ich hatte meinen Rock mit Pelzgarnitur an, und doch sass sie da so kommode und plauderte so ruhig mit ihren Kindern, wie wenn sie allein gewesen wäre. Obendrein, sie schien geweint zu haben, und unzufriedene Menschen kann ich nicht vertragen. Auch war es kalt und unbehaglich—gewiss weil der ganze Hausstand weggeholt war—und ich gebe viel auf Behaglichkeit in einem Zimmer. Während ich nach Hause ging, beschloss ich, es noch einmal mit Bastians anzusehen; denn ich setze nicht gern jemanden auf die Strasse.

Nun folgt die erste Woche von Stern. Es ist selbstverständlich, dass viel drin vorkommt, das mir nicht gefällt. Aber ich muss mich an Artikel 2 halten, und die Rosemeyers haben es gut gefunden. Ich glaube zu bemerken, dass sie sich viel Mühe um Stern geben, weil er einen Onkel in Hamburg hat, der in Zucker macht.

Shawlmann war in der That dagewesen. Er hatte Stern gesprochen und ihm einige Wörter und Dinge erklärt, die er nicht verstand. Die Stern nicht verstand, meine ich. Ich ersuche nun den Leser, sich durch die folgenden Kapitel durchzuarbeiten, dann verspreche ich, dass ich hinterher wieder etwas von mehr solider Art bringen werde, von mir, Batavus Droogstoppel, Makler in Kaffee: Last & Co., Lauriergracht No. 37. [45]


1 Note des Übersetzers: Diese beissende Randbemerkung unseres Droogstoppel wird erst recht verständlich, wenn man die spezifisch holländische Bedeutung dieses Wortes kennt: Dünkelhaftigkeit, Eingebildetheit, Anmassung.

Fünftes Kapitel.

Es war des Morgens um zehn Uhr eine ungewöhnliche Bewegung auf dem grossen Wege, der die Abteilung Pandeglang verbindet mit Lebak. »Grosser Weg« ist vielleicht etwas zu viel gesagt von dem breiten Fusspfad, den man, aus Höflichkeit und Ermangelung eines bessern, den »Weg« nannte. Doch wenn man mit einem vierspännigen Fuhrwerk von Serang, dem Hauptplatz der Residentschaft Bantam, verzog, mit der Absicht, sich nach Rangkas-Betung zu begeben, dem neuen Hauptplatz im Lebakschen, konnte man einigermassen sicher sein, nach einiger Zeit dort anzukommen. Es war also ein Weg. Wohl blieb man fortwährend im Morast stecken, der in den Bantamschen Tieflanden schwer, lehmig und klebrig ist, wohl war man oft genötigt, die Hülfe der Bewohner der nächstgelegenen Dörfer anzurufen—waren sie auch nicht sehr nahe, denn die Dörfer sind nur dünn gesäet in diesen Gegenden—aber wenn es einem dann endlich geglückt war, an die zwanzig Landbauer aus der Umgegend beisammen zu kriegen, so dauerte es gewöhnlich nicht sehr lange, bis man Pferde und Wagen wieder auf festen Grund gebracht hatte. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Läufer—in Europa würde man, glaube ich, »palfreniers« sagen, oder richtiger vielleicht, es besteht in Europa nichts, das diesen Läufern entsprechen würde—die unvergleichlichen Läufer also mit ihren kurzen, dicken Peitschen sprangen wieder neben dem Viergespann her, stiessen [46]unbeschreibliche Töne aus und schlugen den Pferden anfeuernd unter den Bauch. So rumpelte man dann einige Zeit weiter, bis der verdriessliche Moment wieder da war, dass man bis über die Achsen in den Moder sank. Dann fing das Rufen um Hülfe aufs neue an. Man wartete geduldig, bis die Hülfe kam, und ... krebste weiter.

Oftmals, wenn ich diesen Weg entlang ging, war es mir, als müsste ich hier und da einen Wagen finden mit Reisenden aus dem vorigen Jahrhundert, die in den Schlamm gesunken und vergessen waren. Aber das ist mir niemals vorgekommen. Ich vermute also, dass alle, die je diesen Weg entlang kamen, endlich dort angelangt sein werden, wo sie sein wollten.

Man würde sich sehr irren, wenn man sich von dem ganz grossen Weg auf Java eine Vorstellung nach dem Massstabe dieses Weges im Lebakschen bilden wollte. Die eigentliche Heerstrasse mit ihren vielen Abzweigungen, die der Marschall Daendels mit Opferung von viel Volk anlegen liess, ist in der That ein prächtiges Stück Arbeit, und man steht wie gebannt vor der Geisteskraft des Mannes, der, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die seine Neider und Widersacher im Mutterland ihm in den Weg legten, dem Unwillen der Bevölkerung und der Unzufriedenheit der Häuptlinge zu trotzen wagte, um ein Ding zustande zu bringen, das noch heute jedermanns Bewunderung erregt und verdient.

Keine der mit Pferden betriebenen Überland-Posten in Europa—selbst nicht in England, Russland oder Ungarn—kann denn auch der auf Java gleichgestellt werden. Über hohe Bergrücken, hart an Abgründen vorbei, die dich erschauern lassen, fliegt der schwerbepackte Reisewagen in einem Galopp dahin. Der Kutscher sitzt wie auf den Bock genagelt, Stunden geht es, ja, ganze Tage hintereinander fort, und er schwenkt die schwere Peitsche mit eisernem Arm. Er weiss genau zu berechnen, wo und wieviel er die dahinrasenden Pferde mit dem Zügel bändigen muss, um nach einer [47]wahren Höllenfahrt den Bergabhang hinunter drüben an jener Ecke ...

—Mein Gott, der Weg ist ... weg! Wir sausen in einen Abgrund! schreit der unerfahrene Reisende. Da ist kein Weg ... da ist die Tiefe!

Ja, so scheint es. Der Weg macht eine Biegung, und just da, wo einen Galoppsprung weiter dem Vorspann der feste Boden unter den Füssen schwinden würde, wenden die Pferde und schleudern das Fuhrwerk die Ecke herum. Sie fliegen die Berghöhe hinauf, die ihr einen Augenblick früher nicht sahet, und ... der Abgrund liegt hinter euch.

Es giebt bei solcher Gelegenheit Augenblicke, wo der Wagen allein auf den Rädern an der Aussenseite der Kurve ruht, die ihr beschreibt: die zentrifugale Kraft hat die inneren Räder vom Boden gehoben. Es gehört Kaltblütigkeit dazu, dass man die Augen nicht schliesse, und wer zum erstenmal auf Java reist, schreibt an seine Familie in Europa, dass er in Lebensgefahr geschwebt habe. Aber wer dort zu Hause ist, lacht über diese Angst.

Es ist nicht meine Absicht, vor allem nicht hier am Anfang meiner Erzählung, den Leser lange mit der Beschreibung von Plätzen, Landschaften oder Gebäuden aufzuhalten. Ich fürchte ihn durch Dinge, die langweilig wirken, zu sehr abzuschrecken, und erst später, wenn ich fühle, dass er für mich gewonnen ist, wenn ich an Blick und Haltung bemerke, dass das Los der Heldin, die irgendwo vom Balkon eines vierten Stockwerks springt, ihm Interesse einflösst, dann lasse ich sie, mit stolzer Verachtung aller Gesetze der Schwerkraft, zwischen Himmel und Erde schweben, bis ich meinem Herzen Luft gemacht habe in der sorgfältigen Schilderung der Schönheiten der Landschaft, oder des Gebäudes, das da an irgend einer Stelle hingestellt zu sein scheint, um einen Vorwand für eine viele Seiten fassende Charakterisierung mittelalterlicher Architektur an die Hand zu geben. All diese Burgen sind einander ähnlich. Durchgängig sind sie von heterogener Bauart. Das »corps de logis«, das Hauptgebäude, [48]datiert stets von einigen Regierungen früher als die Anhängsel, die unter diesem oder jenem späteren König angefügt sind. Die Türme sind in verfallenem Zustande ...

Werter Leser, es giebt keine Türme. Ein Turm ist ein Gedanke, ein Traum, ein Ideal, ein Ersonnenes, unerträgliche Übertreibung! Es giebt halbe Türme, und ... Türmchen.

Die Schwärmerei, die glaubte Türme setzen zu müssen auf die Gebäude, die aufgerichtet wurden zu Ehren dieses oder jenes Heiligen, dauerte nicht lange genug, um sie zu vollenden, und die Spitze, die den Gläubigen nach dem Himmel weisen soll, ruht, gewöhnlich ein paar Stockwerke zu tief, auf der massiven Basis, was an den Mann ohne Hüften erinnert, der auf dem Jahrmarkt zu sehen ist. Einzig Türmchen, auf Dorfkirchen kleine Spitzgiebelchen, hat man zustande gebracht.

Es ist wahrlich nicht schmeichelhaft für die Kultur des Westens, dass selten der Gedanke, ein grosses Werk vollbringen zu wollen, sich lange genug hat lebendig erhalten können, um das Werk vollendet zu sehen. Ich rede hier nicht von Unternehmungen, deren Zuendeführung nötig war, um die Kosten zu decken. Wer recht wissen will, was ich meine, sehe sich den Dom zu Köln an. Er gebe sich Rechenschaft von der stolzen Vorstellung des Bauwerks, wie sie in der Seele des Baumeisters Gerhard von Riehl lebendig war ... vom Glauben im Herzen des Volks, das ihn in den Stand setzte, das Werk anzufangen und fortzusetzen ... von der Kraft des Innenlebens, das solch einen Koloss nötig hatte, um als sichtbarer Ausdruck des unsichtbaren religiösen Gefühls zu dienen ... und er vergleiche diesen hohen Schwung mit der Lauheit, die es einige Jahrhunderte später dazu kommen liess, dass das Werk stillstand.

Es liegt eine tiefe Kluft zwischen Erwin von Steinbach und unseren Baumeistern! Ich weiss, dass man seit einigen Jahren daran ist, diese Kluft auszufüllen. Auch an dem Kölner Dom baut man wieder. Aber wird man den abgerissenen Faden wieder anknüpfen können? Wird man [49]wiederfinden in unseren Tagen, was damals die Kraft ausmachte von Kirchenvoigt und Bauherrn? Ich glaube es nicht. Geld wird wohl aufzubringen sein, und hierfür ist Stein und Kalk feil. Man kann den Künstler bezahlen, der einen Plan entwirft, und den Maurer, der die Steine fügt. Doch nicht ist für Geld feil das irrende und doch ehrerbietungswürdige Gefühl, das in einem Bauwerk eine Dichtung sah, eine Dichtung von Granit, die laut sprach zum Volke, eine Dichtung in Marmor, die dastand wie ein unbewegliches, unaufhörliches, ewiges Gebet.—

Auf der Grenze zwischen Lebak und Pandeglang also war eines Morgens eine ungewöhnliche Bewegung. Hunderte von gesattelten Pferden bedeckten den Weg, und tausend Menschen mindestens—was viel war für diesen Fleck—liefen in geschäftiger Erwartung hin und her. Hier sah man die Häuptlinge der Dörfer und die Distriktshäuptlinge aus dem Lebakschen, alle mit ihrem Gefolge, und zu urteilen nach dem schönen, reich gesattelten Araberbastard, der auf seiner silbernen Trense herumbiss, war auch ein Häuptling höheren Ranges hier am Platze. Das war denn auch der Fall. Der Regent von Lebak, Radhen Adhipatti Karta Natta Negara, hatte mit grossem Gefolge Rangkas-Betung verlassen und trotz seines hohen Alters die zwölf oder vierzehn »Pfähle« zurückgelegt, die zwischen seinem Wohnort und den Grenzen der benachbarten Abteilung Pandeglang lagen.

Es wurde ein neuer Assistent-Resident erwartet, und der Brauch, der in Indien mehr denn sonst irgendwo Gesetzeskraft hat, will, dass der Beamte, der mit der Verwaltung einer Abteilung betraut ist, bei seiner Ankunft festlich eingeholt werde. Auch der Kontrolleur war hier anzutreffen, ein Mann mittleren Alters, der seit einigen Monaten nach dem Tode des vorigen Assistent-Residenten als Nächster im Range die Verwaltung wahrgenommen hatte.

Sobald die Zeit der Ankunft des neuen Assistent-Residenten bekannt geworden war, hatte man in aller Eile eine Pendoppo, ein indisches Zeltdach, aufrichten lassen, einen [50]Tisch und einige Stühle dahin gebracht und einige Erfrischungen bereit gesetzt. In dieser Pendoppo erwartete der Regent mit dem Kontrolleur die Ankunft des neuen Chefs.

Nach einem Hut mit breitem Rand, einem Regenschirm oder einem hohlen Baum ist eine Pendoppo gewiss der einfachste Ausdruck der Vorstellung »Dach«. Denkt euch vier oder sechs Bambuspfähle in den Boden gerammt, die oben an den Enden durch weitere Bambusstangen miteinander verbunden sind, worauf dann eine Bedachung von den langen Blättern der Wasserpalme gesetzt ist, die in diesen Gegenden ‚atap‘ heisst, und ihr werdet euch die sogenannte ‚pendoppo‘ vorstellen können. Sie ist, wie ihr seht, so einfach wie nur möglich, und sie sollte hier denn auch nur dienen als ‚pied à terre‘ für die europäischen und inländischen Beamten, die dort ihrem neuen Oberhaupt einen Willkomm an den Grenzen entgegenbringen wollten.

Ich habe mich nicht ganz korrekt ausgedrückt, als ich den Assistent-Residenten das Oberhaupt auch des Regenten nannte. Eine Verbreitung über den Mechanismus der Verwaltung in diesen Landstrichen ist hier für das rechte Verständnis dessen, was folgen wird, notwendig.

Das sogenannte »Niederländisch-Indien«—das Adjektiv »niederländisch« kommt mir einigermassen unzutreffend vor, doch es wurde offiziell angenommen—ist, was das Verhältnis des Mutterlandes zur Bevölkerung angeht, in zwei sehr verschiedene Hauptteile zu zerlegen. Ein Teil besteht aus Stämmen, deren Fürsten und Fürstchen die Oberherrschaft Niederlands als »suzerein« anerkannt haben, wobei jedoch noch immer die unmittelbare Verwaltung im Mehr- oder Mindermass in den Händen der eingeborenen Häuptlinge selbst geblieben ist. Ein anderer Teil, zu dem—mit einer sehr kleinen, vielleicht nur scheinbaren Ausnahme—ganz Java gehört, ist Niederland unmittelbar unterworfen. Von Tribut oder Besteuerung oder Bundesgenossenschaft ist hier keine Rede. Der Javane ist Niederländischer Unterthan. Der König von Niederland ist sein König. Die [51]Nachkommen seiner früheren Fürsten und Herren sind Niederländische Beamte. Sie werden angestellt, versetzt, befördert vom Generalgouverneur, der im Namen des Königs regiert. Der Verbrecher wird abgeurteilt nach dem Gesetz, das vom Haag ausgegangen ist. Die Abgaben, die der Javane aufbringt, fliessen in den Staatsschatz von Niederland.

Von diesem Teil der Niederländischen Besitzungen, der also in der That einen Teil des Königreichs der Niederlande ausmacht, wird in diesen Blättern hauptsächlich die Rede sein.

Dem Generalgouverneur steht ein »Rat« zur Seite, der jedoch auf seine Beschlüsse keinen entscheidenden Einfluss hat. Zu Batavia sind die unterschiedlichen Verwaltungszweige »Departements« zugeteilt, an deren Spitze Direktoren gestellt sind, die das Bindeglied darstellen zwischen der Oberverwaltung des Generalgouverneurs und den Residenten in den Provinzen. Bei Behandlung der Geschäfte politischer Bedeutung wenden sich diese Beamten gleichwohl unmittelbar an den Generalgouverneur.

Die Benennung »Resident« entstammt aus der Zeit, da Niederland nur erst mittelbar als Lehnsherr die Bevölkerung beherrschte und sich an den Höfen der noch regierenden Fürsten durch »Residenten« repräsentieren liess. Diese Fürsten bestehen nicht mehr, und die Residenten sind, als Gouverneure der Distrikte oder Präfekten, Verwalter von Landschaften geworden. Ihr Wirkungskreis ist verändert, doch der Name ist geblieben.

Es sind diese Residenten, die eigentlich die Niederländische Autorität gegenüber der javanischen Bevölkerung darstellen. Das Volk kennt weder den Generalgouverneur, noch die »Räte von Indien«, noch die Direktoren zu Batavia. Es kennt nur den Residenten, sowie die Beamten, die unter ihm über das Volk walten.

Eine solche Residentschaft—es giebt welche, die beinahe eine Million Seelen fassen—ist geteilt in drei, vier oder fünf Abteilungen oder Regentschaften, an deren Haupt [52]»Assistent-Residenten« gestellt sind. Unter diesen wieder wird die Verwaltung durch Kontrolleure ausgeübt, durch Aufseher und eine Anzahl von anderen Beamten, die nötig sind für die Eintreibung der Abgaben, für die Inspektion des Landbaues, für die Aufführung von Gebäuden, für die Staatswasserwerke, für die Polizei und das Rechtswesen.

In jeder Abteilung steht ein Inländischer Häuptling hohen Ranges mit dem Titel eines »Regenten« dem Assistent-Residenten zur Seite. So ein Regent gehört, obwohl sein Verhältnis zur Verwaltung und sein Arbeitsfeld ganz das eines besoldeten Beamten ist, immer zum hohen Adel des Landes, und oftmals zu der Familie der Fürsten, die früher in der Landschaft oder in der Nachbarschaft unabhängig regiert haben. Sehr diplomatisch wird also von ihrem uralten, feudalen Einfluss—der in Asien überall von grossem Gewicht ist und bei den meisten Stämmen als ein Religionsmoment zu erkennen ist—Gebrauch gemacht, sintemal durch die Ernennung dieser Häuptlinge zu Beamten eine Hierarchie geschaffen wird, an deren Spitze die Niederländische Autorität steht, die durch den Generalgouverneur ausgeübt wird.

Es ist nichts Neues unter der Sonne. Wurden nicht die Reichs-, Mark-, Gau- und Burggrafen des Deutschen Reiches ebenso durch den Kaiser angestellt und meistens aus den Baronen ausgewählt? Ohne weiteres Eingehen auf den Ursprung des Adels, der ganz in der Natur der Sache liegt, möchte ich doch dem Hinweis Raum geben, wie in unserm Erdteil und drüben im fernen Indien dieselben Ursachen dieselben Folgen hatten. Ein Land muss aus weiter Entfernung regiert werden, und hierzu sind Beamte nötig, die die Zentralgewalt vergegenwärtigen. Unter dem System der soldatesken Willkür setzten die Römer hierfür die »Präfekten« ein, im Anfang gewöhnlich die Befehlshaber der Legionen, die das betreffende Land unterworfen hatten. Solche Ländergebiete blieben dann auch »Provinzen«, d. h. erobertes Gebiet. Doch als später die zentrale Gewalt des Deutschen [53]Reiches das Bedürfnis fühlte, ein etwas ferngelegenes Volk, sobald das Gebiet durch Gleichheit in Abkunft, Sprache und Gewohnheit als zum Reiche gehörig betrachtet wurde, noch auf andere Weise an sich zu binden als allein durch materielles Übergewicht—erwies es sich als notwendig, jemanden mit der Leitung der Geschäfte zu betrauen, der nicht allein in dem betreffenden Lande zu Haus war, sondern durch seinen Stand über seine Mitbürger in der Gegend erhoben war, damit der Gehorsam gegen die Befehle des Kaisers erleichtert werde durch gleichzeitige Neigung zur Unterwerfung unter den, der mit der Ausführung dieser Befehle betraut war. Hierdurch wurden dann zugleich ganz oder teilweise die Ausgaben für ein stehendes Heer vermieden, die der allgemeinen Staatskasse, oder, wie es meist war, den Provinzen selbst zur Last fielen, welche durch solche Heere bewacht werden mussten. So wurden die ersten Grafen aus den Baronen des Landes ausgewählt, und genau genommen ist also das Wort »Graf« kein adeliger Titel, sondern nur die Benennung einer mit einem bestimmten Amt betrauten Person. Ich glaube denn auch, dass im Mittelalter die Meinung bestand, dass der deutsche Kaiser wohl das Recht hatte, Grafen, d. h. Landschaftsverwalter, und Herzöge, d. h. Heerführer, zu ernennen, doch dass die Barone, was ihre Geburt angeht, dem Kaiser gleich und allein von Gott abhängig zu sein behaupteten, unbeschadet der Verpflichtung, dem Kaiser zu dienen, falls dieser mit ihrer Zustimmung und aus ihrer Mitte erwählt war. Ein Graf bekleidete ein Amt, zu dem ihn der Kaiser berufen. Ein Baron betrachtete sich als Baron »durch die Gnade Gottes«. Die Grafen vertraten den Kaiser und führten als solche dessen Panier, d. h. die Reichsstandarte. Ein Baron brachte Volk auf die Beine unter seiner eigenen Fahne, als Bannerherr.

Der Umstand nun, dass Grafen und Herzöge gewöhnlich den Baronen entnommen wurden, brachte zuwege, dass sie das Gewicht ihres Amtes neben dem Einfluss, den sie ihrer Geburt entlehnten, in die Schale legten, und hieraus [54]scheint später, vor allem als die Erblichkeit dieser Stellungen Gewohnheit geworden war, der Vorrang entstanden zu sein, den diese Titel vor dem eines Barons hatten. Noch heutzutage würde manche freiherrliche Familie—ohne kaiserliches oder königliches Patent, d. h. eine solche Familie, die ihren Adel vom Urentstehen des Landes herleitet, die immer von Adel war, weil sie von Adel war—autochthon—eine Erhebung in den Grafenstand als entadelnd abweisen. Man hat Beispiele dafür.

Die Personen, die mit der Verwaltung solcher Grafschaft beauftragt waren, trachteten natürlich von dem Kaiser zu erlangen, dass ihre Söhne, oder, falls dieselben fehlten, andere Blutsverwandte, ihnen in ihrer Stellung folgen sollten. Dies geschah denn auch gewöhnlich, obschon ich nicht glaube, dass je das Recht auf diese Nachfolge organisch anerkannt worden ist, wenigstens, was diese Beamten in den Niederlanden angeht, z. B. die Grafen von Holland, Seeland, Hennegau oder Flandern, die Herzöge von Brabant, Gelderland u. s. w. Es war zu Anfang eine Gunst, bald eine Gewohnheit, schliesslich eine Notwendigkeit, doch niemals wurde diese Erblichkeit Gesetz.

Ungefähr in der gleichen Art—was die Wahl der Personen angeht, da hier von Gleichheit des Arbeitsfeldes nicht die Rede ist, wiewohl auch in dieser Hinsicht eine gewisse Übereinstimmung ins Auge fällt—steht an der Spitze einer Abteilung auf Java ein eingeborener Beamter, der den ihm von der Regierung verliehenen Rang mit seinem autochthonen Einfluss verbindet, um dem europäischen Beamten, der die Niederländische Autorität wahrnimmt, die Verwaltung zu erleichtern. Auch hier ist die Erblichkeit, ohne durch ein Gesetz bestimmt zu sein, zu einer Gewohnheit geworden. Noch bei Lebzeiten des Regenten findet meistens diese Regelung statt, und es gilt als eine Belohnung für Diensteifer und Treue, wenn man ihm die Zusage giebt, dass ihm als Nachfolger in seiner Stellung sein Sohn folgen werde. Es müssen schon sehr gewichtige Gründe vorhanden sein, wenn [55]einmal von dieser Regel abgewichen wird, und wo dies der Fall sein sollte, wählt man doch gewöhnlich den Nachfolger aus den Mitgliedern dieser selben Familie.

Das Verhältnis zwischen europäischen Beamten und derartigen hochgestellten javanischen Grossen ist sehr heikler Art. Der Assistent-Resident einer Abteilung ist die verantwortliche Person. Er hat seine Instruktionen und steht da als das Haupt der Abteilung. Dies hindert jedoch nicht, dass der Regent durch Ortskenntnis, durch Geburt, durch Einfluss auf die Bevölkerung, durch finanzielle Einkünfte und hiermit übereinstimmende Lebensweise weit über ihn erhoben steht. Obendrein ist der Regent, als Repräsentant des javanischen Elements eines Landkomplexes und bestimmt, im Namen der hundert- oder mehr tausend Seelen zu sprechen, die seine Regentschaft bevölkern, auch in den Augen der Regierung eine Person von viel grösserer Wichtigkeit als der simple europäische Beamte, dessen Unzufriedenheit nicht gefürchtet werden braucht, da man für ihn viele andere an die Stelle bekommen kann, während die minder gute Stimmung eines Regenten vielleicht der Keim von Aufruhr oder Aufstand werden könnte.

Dem allen ist also der merkwürdige Umstand zuzuschreiben, dass eigentlich der Geringere dem Vornehmeren befiehlt. Der Assistent-Resident gebietet dem Regenten, ihm Angaben über dies und das zu machen. Er gebietet ihm, Steuern einzutreiben. Er ruft ihn auf, Sitz im Landrat zu nehmen, wo er, der Assistent-Resident, den Vorsitz führt. Er tadelt ihn, wo er einer Pflichtversäumnis schuldig ist. Dieses sehr eigenartige Verhältnis ist nur denkbar bei äusserst höflichen Formen, die gleichwohl weder Herzlichkeit, noch, wo es nötig scheint, Strenge ausschliessen brauchen, und ich glaube, dass der Ton, der in diesem Verhältnis herrschen muss, sehr treffend in der offiziellen Vorschrift angedeutet ist, die dahin geht: der europäische Beamte habe den inländischen Beamten, der ihm zur Seite steht, zu behandeln wie seinen »jüngeren Bruder«. [56]

Aber er vergesse nicht, dass dieser »jüngere Bruder« bei den Eltern sehr beliebt ist—oder gefürchtet—und dass bei vorkommenden Zwistigkeiten sein dieserweise konstruierter Altersvorsprung als Beweggrund in Rechnung gebracht werden kann, ihm übelzunehmen, dass er seinen »jüngeren Bruder« nicht mit mehr Nachgiebigkeit oder Takt behandelte.

Die angeborene Höflichkeit des Javanischen Grossen—selbst der geringe Javane ist viel höflicher als sein europäischer Standesgenosse—macht gleichwohl dies scheinbar schwierige Verhältnis erträglicher, als es sonst sein würde.

Der Europäer sei wohlerzogen und zartfühlend, er gebe sich mit freundlicher Würdigkeit, und er kann dann gewiss sein, dass der Regent seinerseits ihm die Verwaltung angenehm machen wird. Dem im Grunde beiden Teilen peinlichen Befehl, in ersuchender Form geäussert, wird mit Pünktlichkeit nachgekommen. Der Unterschied in Stand, Geburt, Reichtum wird durch den Regenten selbst ausgewischt, der den Europäer, als Vertreter des Königs der Niederlande, zu sich erhebt, und schliesslich ist ein Verhältnis, das, oberflächlich betrachtet, Zwist zuwege bringen sollte, sehr oft die Quelle eines angenehmen Verkehrs.

Ich sagte, dass diese Regenten auch durch Reichtum den Vorrang vor dem europäischen Beamten hätten, und das ist natürlich. Der Europäer ist, wenn er an die Verwaltung einer Provinz berufen wird, die an Ausdehnung vielen deutschen Herzogtümern gleich steht, gewöhnlich ein Mann von mittlerem oder mehr als mittlerem Alter, verheiratet und Vater. Er bekleidet ein Amt um des Brotes willen. Seine Einkünfte sind gerade ausreichend und oft auch nicht ausreichend, um den Seinen das Nötige zu verschaffen. Der Regent ist: ‚Tommongong‘, ‚Adhipatti‘, ja, sogar ‚Pangerang‘, d. h. Javanischer Prinz. Es handelt sich für ihn nicht darum, dass er lebe, er muss so leben, wie das Volk es von seiner Aristokratie zu sehen gewohnt ist. Während der Europäer ein Haus bewohnt, ist vielfach sein Aufenthalt ein ‚Kratoon‘, [57]mit vielen Häusern und Dörfern darin. Während der Europäer eine Frau hat, mit drei, vier Kindern, unterhält er eine ganze Anzahl von Frauen mit allem, was dazu gehört. Während der Europäer ausreitet, gefolgt von einigen Beamten, nicht mehr, als bei seiner Inspektionsreise zur Erteilung von Anweisungen unterwegs nötig sind, wird der Regent begleitet von Hunderten, die zum Gefolge gehören, das in den Augen des Volks untrennbar ist von seinem hohen Range. Der Europäer lebt bürgerlich, der Regent lebt—oder man erwartet von ihm, dass er so lebt—wie ein Fürst.

Doch das alles muss bezahlt werden. Die Niederländische Verwaltung, die auf den Einfluss dieser Regenten gegründet ist, weiss dies, und nichts ist also natürlicher, als dass sie deren Einkünfte zu einer Höhe geführt hat, die dem Nicht-Indier übertrieben vorkommen würde, aber in Wirklichkeit selten für die Bestreitung der Ausgaben hinreichend ist, die mit der Lebensweise eines solchen inländischen Oberhauptes verbunden sind. Es ist nichts Ungewöhnliches, Regenten, die zwei-, ja, dreimalhunderttausend Gulden jährliches Einkommen haben, in Geldverlegenheit zu sehen. Hierzu trägt viel bei die sozusagen fürstliche Gleichgültigkeit, mit der sie ihre Einkünfte verschleudern, ihre Nachlässigkeit in der Bewachung ihrer Untergebenen, ihre krankhafte Kauflust und vor allem der Missbrauch, der häufig von Europäern bei einer derartigen Lage der Dinge getrieben wird.

Die Einkünfte der javanischen Häupter lassen sich in vier Teile teilen. Zum ersten das bestimmte Monatsgeld. Dann eine feste Summe als Schadloshaltung für abgekaufte Rechte, die auf die Niederländische Verwaltung übergegangen sind. Drittens eine Belohnung in Übereinstimmung mit der Quantität der in ihrer Regentschaft erzielten Produkte, als Kaffee, Zucker, Indigo, Zimmt u. s. w. Und schliesslich: die willkürliche Verfügung über die Arbeit und über das Eigentum ihrer Unterthanen.

Die beiden letzten Einkunftsquellen verlangen einige Erklärung. Der Javane ist nach Art der Dinge Landbauer. [58]Der Grund, auf dem er geboren wurde und der bei wenig Arbeit viel verspricht, ist ihm hierzu Veranlassung, und vor allem ist er mit Leib und Seele der Bebauung seiner Reisfelder ergeben, worin er denn auch sehr erfahren ist. Er wächst auf inmitten seiner ‚sawah’s‘ und ‚gagah’s‘ und ‚tipar’s‘, begleitet schon in sehr jugendlichem Alter seinen Vater aufs Feld, wo er ihm in der Arbeit mit Pflug und Spaten behülflich ist an Dämmen und Wasserleitungen zur Bewässerung seiner Äcker. Er zählt seine Jahre nach Ernten, er rechnet die Zeit nach der Farbe seiner zufelde stehenden Halme, er fühlt sich heimisch unter den Genossen, die mit ihm ‚padie‘, d. h. den unenthülsten Reis, schnitten, er sucht seine Frau unter den Mädchen der »dessah«, die am Abend unter fröhlichem Gesange den Reis stampfen, um ihn der Hülsen zu entledigen ... der Besitz von ein paar Büffeln, die seinen Pflug ziehen werden, ist das Ideal, das ihm entgegenlächelt ... kurzum, der Reisbau ist für den Javanen das, was in den Rheingegenden und in Südfrankreich der Weinbau ist.

Doch es kamen Fremdlinge aus dem Westen, die sich zu Herren des Landes machten. Es lüstete sie, Vorteil zu ziehen aus der Fruchtbarkeit des Bodens, und sie beauftragten den Bewohner, einen Teil seiner Arbeit und seiner Zeit der Hervorbringung anderer Dinge zu widmen, die mehr Gewinn abwerfen würden auf den Märkten von Europa. Um den geringen Mann hierzu zu bewegen, war nicht mehr als eine sehr einfache Staatskunst nötig. Er gehorsamt seinen Häuptlingen, man hatte also nur diese Häuptlinge zu gewinnen, indem man ihnen einen Teil des Gewinnes zusagte, und ... es glückte vollkommen.

Wenn man auf die erschreckliche Masse von Javaprodukten, die in Niederland dem Käufer angeboten werden, seine Aufmerksamkeit lenkt, so kann man sich davon überzeugen, wie zweckentsprechend diese Politik war, findet man sie auch gleich nicht edel. Denn, möchte jemand fragen, ob der Landbauer selbst eine diesem Erfolge entsprechende Belohnung [59]geniesst, so muss ich hierauf eine verneinende Antwort geben. Die Regierung verpflichtet ihn, auf seinem Grunde zu ziehen, was ihr behagt, sie bestraft ihn, wenn er das also hervorgebrachte irgend jemandem anders verkauft als ihr, und sie selbst setzt den Preis fest, den sie ihm dafür bezahlt. Die Kosten der Überfuhr nach Europa durch Vermittlung eines bevorrechteten Handelskörpers sind hoch. Die den Häuptlingen gewährten Ermutigungsgelder beschweren obendrein den Einkaufspreis, und ... da doch schliesslich die ganze Sache Gewinn abwerfen muss, kann dieser Gewinn nicht anders erzielt werden, als dass man dem Javanen just soviel ausbezahlt, dass er nicht Hungers sterbe, was, wenn es geschähe, die produktive Kraft der Nation vermindern würde.

Auch den europäischen Beamten wird eine Belohnung ausgezahlt, die sich nach der Höhe des erzielten Ertrages richtet.

Wohl wird also der arme Javane vorwärts gepeitscht durch zwiefache Gewalt, wohl wird er vielfach abgezogen von seinen Reisfeldern, wohl ist Hungersnot oft die Folge dieser Massregeln, indessen ... fröhlich flattern zu Batavia, zu Samarang, zu Surabaja, zu Passaruan, zu Bessuki, zu Probolingo, zu Patjitan, zu Tjilatjap die Flaggen an Bord der Schiffe, die beladen werden mit den Ernten, die die Niederlande reich machen.

Hungersnot? Auf dem reichen, fruchtbaren, gesegneten Java Hungersnot? Ja, Leser. Vor wenigen Jahren sind ganze Distrikte ausgestorben durch den Hunger. Mütter boten ihre Kinder als Speise zu Kauf an. Mütter haben ihre Kinder gegessen ...

Aber dann hat sich das Mutterland um die Sache bekümmert. In den Beratungssälen der Volksvertretung ist man darüber unzufrieden gewesen, und der damalige Landvogt hat Befehl geben müssen, dass man es in der Verbreitung der sogenannten »europäischen Marktprodukte« fortan nicht wieder treiben dürfe bis zur Hungersnot ... [60]

Ich bin hier bitter geworden. Was möchtet ihr denken von jemandem, der solche Dinge niederschreiben kann ohne Bitterkeit?

Mir bleibt noch übrig, über die letzte und vornehmlichste Art der Einkünfte von Inländischen Häuptlingen zu sprechen: die Macht der willkürlichen Verfügung über Personen und über das Eigentum ihrer Unterthanen.

Gemäss der allgemeinen Auffassung in beinahe ganz Asien gehört der Unterthan mit allem, was er besitzt, dem Fürsten. Dies ist auch auf Java der Fall, und die Nachkommen oder Verwandten der früheren Fürsten nutzen gern die Unkenntnis der Bevölkerung aus, die nicht recht begreift, dass ihr ‚Tommongong‘ oder ‚Adhipatti‘ oder ‚Pangerang‘ jetzt ein besoldeter Beamter ist, der seine eigenen und ihre Rechte für ein bestimmtes Einkommen verkauft hat, und dass so die kärglich belohnte Arbeit in Kaffeegarten oder Zuckerfeld an die Stelle der Abgaben getreten ist, die früher durch die Herren des Landes von den Schollenbewohnern gefordert wurden. Nichts ist also alltäglicher, als dass hunderte von Familien aus weiter Entfernung aufgerufen werden, ohne Bezahlung Felder zu bearbeiten, die dem Regenten gehören. Nichts ist alltäglicher als die unbezahlte Lieferung von Lebensmitteln zum Unterhalt der Hofhaltung des Regenten. Und so der Regent ein gefälliges Auge werfen mag auf das Pferd, den Büffel, die Tochter, die Frau des geringen Mannes, würde man es unerhört finden, wenn dieser die bedingungslose Verzichtleistung auf den begehrten Gegenstand weigerte.

Es giebt Regenten, die von solcher Macht der willkürlichen Verfügung einen mässigen Gebrauch machen und nicht mehr von dem geringen Mann fordern, als zur Erhaltung ihres Ranges durchaus nötig ist. Andere gehen etwas weiter, und ganz und gar fehlt diese Ungesetzlichkeit nirgends. Es ist denn auch schwierig, ja, unmöglich, diesen Missbrauch ganz auszurotten, da er seine tiefen Wurzeln in der Anlage der Bevölkerung selbst hat, die darunter leidet. Der Javane ist [61]freigebig, vor allem wo es sich darum handelt, einen Beweis der Anhänglichkeit an seinen Häuptling zu geben, an den Nachkommen dessen, dem seine Väter gehorchten. Ja, er würde meinen, er ermangele der rechten Hochachtung, die er seinem erblichen Herrn schuldig ist, wenn er dessen »Kratoon« ohne Geschenke beträte. Solche Geschenke sind denn auch manchmal von so geringem Werte, dass die Abweisung eine Verletzung in sich schliessen würde, und oft ist demgemäss diese Gewohnheit eher der Huldigung eines Kindes zu vergleichen, das seine Liebe zum Vater durch die Darbringung eines kleinen Geschenkes zu äussern sucht, als dass man sie als Tribut an tyrannische Willkür auffassen dürfte.

Allein ... also wird durch einen »lieben Brauch« die Beseitigung von Missbrauch gehindert.

Wenn der Alūn-alūn vor der Wohnung des Regenten in verwildertem Zustande läge, würde die umwohnende Bevölkerung sich dessen schämen, und es wäre viel Macht nötig, um sie zu hindern, den Platz von Unkraut zu säubern und ihn in einen Zustand zu bringen, der mit dem Range des Regenten übereinstimmt. Hierfür irgend eine Bezahlung zu geben, würde allgemein als eine Beleidigung angesehen werden. Doch in der Nähe dieses Alūn-alūn oder anderswo liegen Sawahs, die des Pfluges warten, oder einer Leitung, die das Wasser dahin führe, manchmal aus meilenweiter Ferne ... diese Sawahs gehören dem Regenten. Er ruft, dass sie seine Felder bearbeite oder wässere, die Bevölkerung ganzer Dörfer auf, deren eigene Sawahs ebensosehr die Bearbeitung verlangen ... der Missbrauch ist da.

Dies ist regierungsseitig bekannt, und wer die »Staatsblätter« liest, worin die Gesetze, Instruktionen und Anweisungen für die Beamten enthalten sind, jauchzt der Menschenliebe zu, die beim Entwerfen derselben den Vorsitz geführt zu haben scheint. Überall wird dem Europäer, der mit irgend einer Autorität in den Binnenlanden bekleidet ist, als eine seiner teuersten Verpflichtungen ans Herz gelegt, der Bevölkerung [62]Schutz zu bieten gegen ihre eigene Unterwürfigkeit und die Habsucht der Häuptlinge. Und, als wäre es nicht genug, dass man diese Verpflichtung im allgemeinen vorschreibt, es wird noch von den Assistent-Residenten beim Antritt der Verwaltung einer Abteilung ein »besonderer Eid« gefordert, dass sie diese väterliche Fürsorge für die Bevölkerung als eine erste Pflicht betrachten würden.

Das ist gewisslich ein schöner Beruf. Gerechtigkeit walten zu lassen, den Geringen zu schirmen gegen den Mächtigen, den Schwachen zu beschützen vor der Übermacht des Starken, das Lamm des Armen zurückzufordern aus den Ställen des fürstlichen Räubers ... siehe, das Herz möchte einem erglühen vor Genuss bei dem Gedanken, dass man berufen ward zu etwas so schönem! Und wer in den javanischen Binnenlanden bisweilen unzufrieden sein mag mit dem Orte seiner Stationierung oder mit seinem Solde, der wende sein Auge auf die erhabene Pflicht, die auf ihm ruht, auf die herrliche Genugthuung, die die Erfüllung solch einer Pflicht mit sich bringt, und er wird keinen weiteren Sold begehren.

Allein ... leicht ist diese Pflicht nicht. Zuerst suche man richtig zu beurteilen, wo der »Brauch« aufgehalten hat, um »Missbrauch« Platz zu machen. Und ... wo der »Missbrauch« besteht, wo wirklich Raub und Willkür gepflogen ist, sind vielfach die Schlachtopfer selbst hieran mitschuldig, sei es aus zu weit getriebener Unterwürfigkeit, sei es aus Furcht, sei es aus geringem Vertrauen auf den Willen oder die Macht der Person, die sie schützen soll. Jeder weiss, dass der europäische Beamte jeden Augenblick in eine andere Stellung berufen werden kann, und dass der Regent, der mächtige Regent, dableibt. Ferner, wie viele Methoden giebt’s, um sich das Eigentum eines armen, einfältigen Menschen zuzueignen! Wenn ein Mantrie ihm sagt, dass der Regent sein Pferd begehre, mit der Wirkung, dass das begehrte Tier alsbald in den Ställen des Regenten Platz erhalten hat, so beweist solches durchaus noch nicht, dass [63]dieser nicht die Absicht hatte, dafür—o, sicher!—einen hohen Preis zu bezahlen ... nach einiger Zeit. Wenn Hunderte arbeiten auf den Feldern eines Häuptlings, ohne dafür Bezahlung zu empfangen, so folgt hieraus keineswegs, dass er dies geschehen liess zu seinem Vorteil. Konnte er nicht die Absicht haben, ihnen die Ernte zu überlassen, in der menschenfreundlichen Berechnung, dass sein Grund besser gelegen, fruchtbarer wäre als der ihre und also ihre Arbeit freigebiger belohnen würde?

Überdies, wo schafft der europäische Beamte die Zeugen her, die den Mut haben, eine Erklärung gegen ihren Herrn abzugeben, den gefürchteten Regenten? Und, wagte er eine Beschuldigung, ohne sie beweisen zu können, wo bleibt dann das Verhalten als »älterer Bruder«, der in solchem Fall seinen »jüngeren Bruder« ohne Grund in seiner Ehre gekränkt haben würde? Wo bleibt die Gunst der Regierung, die ihm Brot giebt für seine Dienste, aber ihm das Brot aufsagen, ihn verabschieden würde als ungeschickt, wenn er eine so hochgestellte Person wie einen Tommongong, Adhipatti oder Pangerang verdächtigt oder angeklagt hätte mit Leichtfertigkeit?

Nein, nein, leicht ist diese Pflicht nicht! Das giebt sich schon daraus zu erkennen, dass die Neigung der Inländischen Häuptlinge, die Grenzen des erlaubten Verfügens über Arbeit und Eigentum ihrer Unterthanen zu überschreiten, überall ohne Einschränkung als bestehend anerkannt wird ... dass alle Assistent-Residenten den Eid ablegen, dieser verbrecherischen Gepflogenheit entgegentreten zu wollen, und ... dass doch nur sehr selten ein Regent angeklagt wird wegen Willkür oder wegen Missbrauchs seiner Gewalt.

Es scheint also wohl eine fast unüberwindliche Schwierigkeit zu bestehen, dem Eide gemäss zu handeln, dass man »der inländischen Bevölkerung Schutz bieten werde vor Aussaugung und Erpressung«. [64]

Sechstes Kapitel.

Der Kontrolleur Verbrugge war ein guter Mensch. Wenn man ihn dasitzen sah in seinem blauen Tuchfrack mit den gestickten Eichen- und Orangezweigen auf Kragen und Ärmelaufschlägen, war es schwer, in ihm den Typus zu verkennen, der vorherrscht unter den Holländern in Indien ... nebenbei erwähnt, ein Menschenschlag, der sich sehr unterscheidet von den Holländern in Holland. Träg, so lange es nichts zu thun gab, und fern von der kleinlichen, auch ohne Anlass entwickelten Ameisengeschäftigkeit, die in Europa für Eifer gilt, aber eifrig, wo Bethätigung nötig war ... einfach, aber herzlich gegenüber denen, die zu seiner Umgebung gehörten ... mitteilsam, hilfsbereit und gastfrei ... von guten Manieren, doch ohne Steifheit ... empfänglich für gute Einwirkungen ... ehrlich und aufrichtig, ohne gleichwohl Lust zu empfinden, zum Märtyrer dieser Veranlagungen zu werden ... kurz, er war ein Mann, der, wie man zu sagen pflegt, überall auf seinem Platze sein würde, ohne dass man jedoch auf den Gedanken kommen könnte, das Jahrhundert nach ihm zu benennen, was er denn auch nicht begehrte.

Er sass in der Mitte der Pendoppo am Tisch, der weiss gedeckt und mit Speisen besetzt war. Wohl einigermassen ungeduldig, fragte er von Zeit zu Zeit den ‚mandoor‘-Aufpasser, d. h. das Oberhaupt von den Polizei- und Bureaudienern der Assistent-Residentschaft, ob nichts im Anzug [65]sei. Dann stand er ’mal auf, versuchte vergebens, seine Sporen klirren zu lassen auf dem gestampften Kleiboden der Pendoppo, steckte zum zwanzigstenmal seine Zigarre an und nahm, wie nicht recht zufrieden, seinen Platz wieder ein. Er sprach wenig.

Und doch hätte er sprechen können, denn er war nicht allein. Ich meine hiermit nun gerade nicht, dass er die Gesellschaft der zwanzig oder dreissig Javanen hatte, Bediente, Mantries und Aufpasser, die auf dem Boden hockend in und ausserhalb der Pendoppo sassen, noch der vielen, die anhaltend aus- und einliefen, noch der grossen Menge Eingeborener von verschiedenem Range, die da draussen die Pferde festhielten oder umherritten ... nein, der Regent von Lebak selbst, Radhen Adhipatti Karta Natta Negara sass ihm gegenüber.

Warten ist immer langweilig. Eine Viertelstunde wird zur Stunde, eine Stunde zum halben Tag. Verbrugge hätte wohl etwas gesprächiger sein können. Der Regent von Lebak war ein gebildeter alter Mann, der über vieles mit Verstand und Urteil zu sprechen wusste. Man brauchte ihn nur anzusehen, um überzeugt zu sein, dass die meisten Europäer, die mit ihm in Berührung kamen, mehr von ihm zu lernen hatten, als er von ihnen. Seine lebendigen, dunklen Augen widersprachen mit ihrem Feuer der Müdigkeit seiner Gesichtszüge und der Greisheit seiner Haare. Was er sagte, war gewöhnlich lange überdacht—so recht eine Eigenart, die beim gebildeten Orientalen allgemein ist—und wenn man mit ihm im Gespräch war, fühlte man, dass man seine Worte als Briefe anzusehen hatte, von denen er die Urschrift in seinem Archiv hatte, um, wenn nötig, darauf zu verweisen. Das mag nun jemandem, der den Umgang mit javanischen Grossen nicht gewohnt ist, unangenehm scheinen, doch ist es nicht schwierig, alle Gesprächsgegenstände, die Anstoss geben könnten, zu vermeiden, vor allem, da sie ihrerseits nie in brüsker Weise dem Lauf der Unterhaltung eine andere Richtung geben werden, da das nach orientalischen Begriffen [66]in Widerstreit mit dem guten Ton wäre. Wer also Ursache hat, die Berührung eines bestimmten Punktes zu vermeiden, braucht nur über unbedeutende Dinge zu reden, und er kann versichert sein, dass ein javanischer Häuptling ihn nie durch eine unerwünschte Wendung des Gesprächs auf ein Terrain ziehen wird, das er lieber nicht beträte.

Über die beste Art, mit diesen Häuptlingen zu verkehren, bestehen übrigens verschiedene Meinungen. Mir scheint, dass einfache Aufrichtigkeit, ohne Streben nach diplomatischer Vorsicht, den Vorzug verdient.

Wie dem sei, Verbrugge begann mit einer trivialen Bemerkung über das Wetter und den Regen.

—Ja, m’nheer de kontroleur, es ist Westmūsson.

Dies wusste Verbrugge nun wohl: es war Januar. Aber was er über den Regen gesagt hatte, wusste der Regent auch. Darauf folgte wieder einiges Schweigen. Der Regent winkte mit einer kaum sichtbaren Kopfbewegung einem der Bedienten, die am Eingang der Pendoppo niedergekauert sassen. Ein kleiner Junge, allerliebst gekleidet in blausammtne Blouse und weisse Hose, mit goldenem Leibgurt, der seinen kostbaren Sarong um die Lenden festhielt, und auf dem Kopf den gefälligen Kain-kapala, unter dem seine schwarzen Augen so schelmisch hervorleuchteten, kroch kauernd bis an die Füsse des Regenten, setzte die goldene Dose nieder, die den Tabak, den Kalk, die Sirie, den Pinang und den Gambier enthielt, machte den Slamat, indem er beide Hände gefaltet aufhob bis zur tiefniedergebeugten Stirn, und bot darauf seinem Herrn die kostbare Dose dar.

—Der Weg wird beschwerlich sein nach soviel Regen, sagte der Regent, wie um für ihr langes Warten eine Erklärung zu geben, und bestrich dabei ein Betelblatt mit Kalk.

—Im Pandeglangschen ist der Weg so schlecht nicht, antwortete Verbrugge, der, wenigstens wenn er nicht ein unangenehmes Thema berühren wollte, diese Antwort wohl etwas unbedacht gab. Denn er hätte bedenken müssen, dass ein Regent von Lebak nicht gern die Wege von Pandeglang [67]rühmen hört, wenn diese auch wirklich besser sind als die lebakschen.

Der Adhipatti beging nicht den Fehler einer übereilten Antwort. Der kleine Leibpage des Regenten, ein junger Adliger, war bereits, immer kauernd, rückwärts zurückgekrochen bis an den Eingang der Pendoppo, wo er unter seinen Kameraden Platz nahm ... der Regent hatte schon seine Lippen und etliche Zähne mit dem Speichel seiner Sirie braunrot gefärbt, und er sagte dann endlich:

—Ja, es ist viel Volk in Pandeglang.

Jemandem, der den Regenten und den Kontrolleur kannte und dem der Zustand von Lebak kein Geheimnis war, hätte es sich deutlich herausgestellt, dass das Gespräch schon ein Streit geworden war. Eine Anspielung nämlich auf den besseren Zustand der Wege in einer benachbarten Abteilung schien die Fortsetzung vergeblicher Versuche zu sein, auch in Lebak die Anlegung derartiger besserer Wege oder die bessere Instandhaltung der bestehenden zu veranlassen. Doch hierin hatte der Regent Recht, dass Pandeglang dichter bevölkert war, vor allem im Verhältnis zu seinem viel kleineren Flächeninhalt, und dass also da die Arbeit an den grossen Wegen durch Vereinigung der Kräfte leichter war als im Lebakschen, einer Abteilung, die auf hunderten von »Pfählen« Fläche nur siebzigtausend Einwohner zählte.

—Das ist wahr, sagte Verbrugge, wir haben wenig Volk hier, aber ...

Der Adhipatti sah ihn an, als wartete er einen Ausfall ab. Er wusste, dass nach dem »aber« etwas folgen konnte, das unangenehm klingen würde für ihn, der seit dreissig Jahren Regent von Lebak gewesen war. Es schien, dass Verbrugge in diesem Augenblicke keine Lust hatte, den Streit fortzusetzen. Wenigstens brach er das Gespräch ab und fragte wieder den Mandoor-Aufpasser, ob er nichts kommen sähe.

—Ich sehe noch nichts von der Seite Pandeglangs her, mynheer de kontroleur, aber da drüben an der andern Seite [68]reitet jemand zu Pferde ... das ist der Tuwan kommendaan.

—Freilich, Dongso, sagte Verbrugge nach draussen äugend, das ist der Herr Kommandant! Er jagt in dieser Gegend und ist heute morgen schon früh ausgezogen. He, Duclari ... Duclari!

—Er hört Sie schon, Mynheer, er kommt hierher. Sein Junge reitet hinter ihm, mit Wild, einem Kidang, hinter sich auf dem Pferd.

—Pegang kudahnja tuwan kommendaan!—halte das Pferd des Herrn Kommandanten fest—gebot Verbrugge einem der Bediensteten, die draussen sassen. Bonjour, Duclari! Bist du nass? Was hast du geschossen? Komm herein!

Ein kräftiger Mann von dreissig Jahren und straffer militärischer Haltung, wiewohl er nicht Uniform trug, trat in die Pendoppo. Es war der Oberleutnant Duclari, Kommandant der kleinen Garnison von Rangkas-Betung. Verbrugge und er waren befreundet, und ihre Vertraulichkeit war um so grösser, als Duclari vor einiger Zeit in Abwartung der Vollendung eines neuen Forts Verbrugges Wohnung bezogen hatte. Er drückte diesem die Hand, grüsste den Regenten mit Höflichkeit und setzte sich mit der Frage: »nun, was habt ihr denn hier so?«

—Willst du Thee, Duclari?

—Ach nein, ich bin warm genug! Habt ihr keine Kokosmilch? Die ist erfrischender.

—Die lass ich dir nicht geben. Wenn man erhitzt ist, halte ich Kokosmilch für sehr nachteilig. Man wird steif und gichtig davon. Sieh mal die Kulis, die schwere Lasten über die Berge tragen: sie halten sich flink und geschmeidig durch Trinken von heissem Wasser, oder von Koppi dahun. Aber Ingwerthee ist noch besser ...

—Was? Koppi dahun, Thee von Kaffeeblättern? Das hab ich noch niemals gesehen.

—Weil du nicht auf Sumatra gedient hast. Da trinkt man’s. [69]

—Lass mir dann nur Thee geben ... aber nicht von Kaffeeblättern und auch keinen Ingwerthee. Ja, du bist auf Sumatra gewesen ... und der neue Assistent-Resident auch, nicht wahr?

Dies Gespräch wurde in Holländisch geführt, einer Sprache, die der Regent nicht verstand. Es sei, dass Duclari eine Unhöflichkeit darin zu sehen vermeinte, dass man ihn so von der Unterhaltung ausschloss, oder sei es, dass er hiermit etwas anderes beabsichtigte, auf einmal fuhr er, sich an den Regenten wendend, auf Malayisch fort:

—Weiss m’nheer de Adhipatti, dass m’nheer de kontroleur den neuen Assistent-Residenten kennt?

—O nein, das habe ich nicht gesagt, fiel Verbrugge ein. Ich habe ihn niemals gesehen. Er diente einige Jahre vor mir auf Sumatra. Ich habe dir nur gesagt, dass ich da viel über ihn reden hörte, das ist alles!

—Na, das kommt aufs selbe hinaus. Man braucht jemanden gerade nicht zu sehen, um ihn zu kennen. Wie denkt m’nheer de Adhipatti hierüber?

Der Adhipatti hatte gerade nötig, einen Bedienten zu rufen. Es verstrich also erst einige Zeit, bis er sagen konnte: dass er dem Herrn Kommandanten beistimme, dass es aber doch manchmal nötig sei, jemanden zu sehen, bevor man ihn beurteilen könne.

—Im ganzen ist das vielleicht wahr, fuhr nun Duclari in holländischer Sprache fort—sei es, dass diese ihm vertrauter war und er der Höflichkeit Genüge gethan zu haben meinte, sei es, weil er allein von Verbrugge verstanden werden wollte—das mag im allgemeinen wahr sein, aber was Havelaar betrifft, da ist wahrhaftig kein persönliches Bekanntsein nötig ... der ist doch verrückt!

—Das habe ich nicht gesagt, Duclari!

—Nein, du hast das nicht gesagt, aber ich sage es nach alledem, was du mir von ihm erzählt hast. Ich nenne jemanden, der ins Wasser springt, um einen Hund vor den Haien zu retten, verrückt. [70]

—Nun ja, vernünftig ist das gewiss nicht. Aber ...

—Und dann, hör mal, das Gedicht auf den General Vandamme ... das war keine Sache!

—Es war witzig ...

—Zugegeben! Aber ein junger Mensch hat nicht witzig zu sein gegenüber einem General.

—Du musst nicht vergessen, dass er noch sehr jung war ... es war vor vierzehn Jahren. Er war da erst zweiundzwanzig Jahre alt.

—Und dann der Kalekutenhahn, den er stahl?

—Das that er, um den General zu ärgern.

—Gut! Ein junger Mensch hat einen General nicht zu ärgern, der obendrein noch als Zivilgouverneur sein Chef war. Das andere Gedicht find’ ich ja drollig, aber ... das ewige Duellieren!

—Er that’s gewöhnlich für einen andern. Er ergriff stets Partei für den Schwächeren.

—Nun, lass jeden für seine Person sich duellieren, wenn man es nun durchaus will! Ich für mich glaube, dass selten ein Duell nötig ist. Wo es unvermeidlich wäre, würde auch ich eine Forderung annehmen, in bestimmten Fällen selbst fordern, doch daraus sozusagen einen Beruf zu machen ... ich danke! Es ist zu hoffen, dass er sich in dieser Beziehung geändert hat.

—Na gewiss, daran ist nicht zu zweifeln! Er ist nun soviel älter, dabei seit langem verheiratet und ist Assistent-Resident. Überdies, ich habe stets gehört, dass sein Herz gut ist und dass er ein warmes Gefühl hat für Recht.

—Nun, das kommt ihm zustatten in Lebak! Da ist mir gerade etwas passiert, das ... ob der Regent uns auch versteht?

—Ich glaub’s nicht. Doch zeige mir was aus deiner Jagdtasche, dann denkt er, dass wir darüber sprechen.

Duclari nahm seine Jagdtasche, zog ein paar Waldtauben daraus hervor, und, die Vögel befühlend, als spräche er über die Jagd, teilte er Verbrugge mit, dass ihm soeben [71]auf dem Felde ein Javane nachgelaufen sei, der ihn gefragt hätte, ob er nichts thun könne, um den Druck zu erleichtern, unter dem die Bevölkerung seufze.

—Und, fuhr er fort, das ist sehr stark, Verbrugge! Nicht dass ich mich wundere über die Sache selbst. Ich bin lange genug im Bantamschen, um zu wissen, was hier vorfällt, aber dass der geringe Javane, der gewöhnlich so vorsichtig und zurückhaltend ist, wo es sich um seine Häuptlinge handelt, so etwas von jemandem verlangt, der nichts damit zu schaffen hat, das befremdet mich!

—Und was hast du geantwortet, Duclari?

—Nun, dass es mich nichts anginge. Dass er zu dir gehen müsste, oder zu dem neuen Assistent-Residenten, wenn er in Rangkas-Betung angekommen sei, und da seine Klagen vorbringen.

—Jenie apa tuwan-tuwan datang!—d. h.: Da kommen die Herren an!—rief auf einmal der Aufpasser Dongso. Ich sehe einen Mantrie, der mit seinem Tudung schwenkt.

Alle standen auf. Duclari, der nicht durch seine Gegenwart in der Pendoppo den Schein erregen wollte, als sei auch er an den Grenzen zur Bewillkommnung des Assistent-Residenten, der wohl im Range über ihm stand, doch nicht sein Chef und obendrein für ihn »verrückt« war, stieg zu Pferde und ritt, gefolgt von seinem Bedienten, davon.

Der Adhipatti und Verbrugge stellten sich an den Eingang der Pendoppo, und sie sahen einen von vier Pferden gezogenen Reisewagen sich nähern, der alsbald, stark von Schlamm überzogen, bei dem Bambusgebäude stillhielt.

Es würde schwer gefallen sein, zu raten, was der Wagen alles enthalten mochte, bevor Dongso, unterstützt durch die Läufer und eine Anzahl Bedienter, die zum Gefolge des Regenten gehörten, all die Riemen und Knoten losgemacht hatte, die das Fuhrwerk eingeschlossen hielten mit einem schwarzledernen Futteral, das an die Diskretion erinnerte, mit der in früheren Jahren Löwen und Tiger in die Stadt kamen, als die Zoologischen Gärten noch umherziehende Menagerien [72]waren. Nun, Löwen und Tiger waren in diesem Wagen nicht. Man hatte nur alles so sorgfältig geschlossen, weil es Westmūsson war und man also auf Regen gefasst sein musste. Nun ist das Herausklettern aus einem Reisewagen, in dem man eine gute Strecke Wegs hin und her gerüttelt ist, nicht so leicht, wie jemand, der nie oder wenig gereist ist, sich wohl vorstellen mag. Ungefähr wie bei den Sauriern der Urwelt, die durch langes Warten zuletzt einen integrierenden Bestandteil des Thons oder Lehms ausmachen, in den sie anfänglich nicht mit der Absicht gekommen waren, darin zu verbleiben, ist auch bei Reisenden, die ein bisschen eng zusammengepökelt und in gezwungener Haltung zu lange in einem Reisewagen gesessen haben, etwas zu konstatieren, was ich Assimilierung zu nennen vorschlagen möchte. Man weiss schliesslich nicht recht mehr, wo das lederne Wagenkissen aufhört und wo die Ichheit anfängt, ja, mir ist die Vorstellung nicht fremd, dass man in so einem Wagen Zahnschmerz oder Krampf haben kann, den man für Mottenfrass in der Reisedecke hält, oder umgekehrt.

Es giebt wenig Verhältnisse in der stofflichen Welt, die dem denkenden Menschen nicht Veranlassung gäben, auf der Ebene des Verstandes adaequate Schlüsse zu ziehen, und so habe ich mich oft gefragt, ob nicht viele Irrtümer, die unter uns Kraft des Gesetzes haben, ob nicht viele »Schiefheiten«, die wir für »Recht« halten, daraus resultieren, dass man zu lange mit derselben Gesellschaft in demselben Reisewagen gesessen hat. Das Bein, das du da links so weit ausstrecken musstest zwischen die Hutschachtel und den Korb mit Kirschen ... die Kniee, die du gegen den Wagenschlag gedrückt hieltest, damit die Dame dir gegenüber nicht auf den Gedanken kam, dass du einen Anfall auf Krinoline oder Tugend im Sinne habest ... der mit Hühneraugen geschmückte Fuss, der so bange war vor den Absätzen des Commis voyageur neben dir ... der Hals, den du so lange links wenden musstest, weil es tröpfelte auf der rechten Seite ... sieh, das werden auf diese Weise schliesslich alles [73]Hälser und Kniee und Füsse, die so etwas Verdrehtes bekommen. Ich halte es für gut, von Zeit zu Zeit mal Wagen, Sitzplatz und Mitreisende zu wechseln. Man kann dann seinen Hals mal anders wenden, bewegt dann und wann seine Kniee, und vielleicht sitzt auch mal eine Jungfer mit Tanzschuhen neben uns, oder ein kleiner Junge, dessen Beinchen nicht bis auf den Boden reichen. Man hat dann mehr Aussicht, dass man gerade sieht und gerade läuft, sobald man wieder festen Boden unter die Füsse kriegt.

Ob auch in dem Wagen, der nun vor der Pendoppo stillhielt, sich etwas der »Aufhebung der Kontinuität« widersetzte, weiss ich nicht, doch gewiss ist, dass es lange dauerte, bis etwas zum Vorschein kam. Es schien da ein Höflichkeitswettstreit geführt zu werden. Man vernahm die Worte: »bitte schön, Mevrouw!« und »bitte schön, Herr Resident!« Einerlei, endlich stapfte ein Herr heraus, der in Haltung und Erscheinung wohl etwas verriet, das an die Saurier erinnerte, von denen ich eben sprach. Da wir ihn später wiedersehen werden, will ich euch nur gleich sagen, dass seine Unbeweglichkeit nicht ausschliesslich der Assimilierung mit dem Reisewagen zugeschoben werden darf, sondern dass er, wenn auch in Meilenferne kein Fuhrwerk in der Nähe war, eine Ruhe, eine Langsamkeit und eine Bedächtigkeit an den Tag legte, die manchen Saurier neidisch machen würde und die in den Augen von vielen die Kennzeichen von Gediegenheit, Mässigung und Weisheit sind. Er war, wie die meisten Europäer in Indien, sehr bleich, was aber in dieser Gegend keineswegs als ein Zeichen von nur mässiger Gesundheit gilt, und er hatte feine Züge, die wohl von Entwicklung des Verstandes zeugten. Nur lag eine gewisse Kälte in seinem Blick, etwas, das an die Logarithmentafel erinnerte, und obwohl seine Erscheinung im ganzen nicht unvorteilhaft oder abstossend war, konnte man sich doch nicht des Verdachtes erwehren, dass seine ziemlich grosse, magere Nase sich auf dem Gesicht langweile, weil so wenig darauf vorging.

Mit Höflichkeit bot er seine Hand einer Dame, um ihr [74]beim Aussteigen behülflich zu sein, und nachdem diese von einem Herrn, der noch im Wagen sass, ein Kind in Empfang genommen hatte, einen kleinen blonden Jungen von etwa drei Jahren, traten sie in die Pendoppo ein. Darauf folgte der Herr selbst, und wer auf Java Bescheid wusste, dem würde es als eine Sonderlichkeit aufgefallen sein, dass er am Wagenschlag wartete, um einer alten javanischen ‚babu‘, einer Kindsmagd, das Aussteigen zu erleichtern. Einige Bediente, drei an der Zahl, hatten sich selbst aus ihrem wachsledernen Kasten frei gemacht, der hinten am Wagen klebte wie eine junge Auster auf dem Rücken ihrer Mutter.

Der Herr, der zuerst ausgestiegen war, hatte dem Regenten und dem Kontrolleur Verbrugge die Hand geboten, die sie mit Ehrerbietung annahmen, und ihrer ganzen Haltung war das Gefühl anzumerken, dass sie der Gegenwart einer gewichtigen Person unterworfen waren. Es war der Resident von Bantam, dem grossen Komplex, von dem Lebak eine Abteilung, eine Regentschaft, oder, wie man offiziell sagt, eine Assistent-Residentschaft ist.

Beim Lesen erdichteter Geschichten habe ich mich mehrfach über die geringe Achtung der Autoren vor dem Geschmack des Publikums geärgert und vor allem da, wo sie die Absicht merken liessen, dass sie etwas schaffen wollten, das possenhaft oder burlesk heissen müsste, um hier nicht von Humor zu sprechen, diesem eigentümlichen Etwas, das beinahe durchgängig aufs allerjämmerlichste mit dem Komischen in einen Topf geworfen wird. Man führt eine Person redend ein, die die Sprache nicht versteht oder sie schlecht spricht, man lässt einen Franzosen das wunderlichste Kauderwelsch reden. In Ermangelung eines Franzmanns nimmt man jemanden, der stottert, oder man schafft eine Person, die ihr Steckenpferd reitet mit ein paar stetig wiederkehrenden Worten. Ich habe ein fabelhaft dummes Vaudeville »durchschlagen« sehen, weil darin jemand vorkam, der ewig sagte: »Mein Name ist Meyer.« Mich dünken solche Witzigkeiten etwas wohlfeil, und, um die Wahrheit [75]zu sagen, ich bin bös auf euch, Leser, wenn ihr so etwas spasshaft findet.

Aber nun habe ich selbst euch derartiges vorzuführen. Ich muss von Zeit zu Zeit jemanden auf die Bretter bringen—ich werde es so selten wie möglich thun—der in der That eine Art zu sprechen hatte, welche mich fürchten lässt, dass ich in den Verdacht eines missglückten Versuchs, euch zum Lachen zu bringen, komme, und darum muss ich euch ausdrücklich versichern, dass es nicht meine Schuld ist, wenn Hochwohlgeboren der Herr Resident von Bantam, von dem hier die Rede ist, sich so sonderbar in ihrer Art zu sprechen zeigten, dass mir eine Wiedergabe, ohne den Schein auf mich zu lenken, als suchte ich den Effekt der Witzigkeit in einem »tic«, grosse Schwierigkeiten macht. Er sprach nämlich in einem Tonfall, als ob hinter jedem Wort ein Punkt stände, oder gar ein langes Ruhezeichen, und ich kann für den Raum zwischen seinen Worten keinen besseren Vergleich finden als den mit der Stille, die nach einem langen Gebet in der Kirche auf das »Amen« folgt, das, wie jedermann weiss, ein Signal ist, dass man Zeit hat, den Platz zu wechseln, zu husten oder sich zu schnäuzen. Was er sagte, war gewöhnlich gut überlegt, und wenn er sich die unzeitigen Ruhepunkte hätte abgewöhnen können, so würde meistens das Gesagte, aus einem dialektischen Gesichtspunkte wenigstens, ein gesundes Ansehen gehabt haben. Aber all das Brockenweise, Stotterige und Holperige machte das Anhören beschwerlich. Man stolperte denn auch manchmal darüber. Denn gewöhnlich, wenn man begonnen hatte zu antworten, in der guten Meinung, dass sein Satz zu Ende sei und dass er die Ergänzung des Fehlenden dem Scharfsinn seiner Zuhörer überlasse, kamen die noch fehlenden Worte als Nachzügler eines geschlagenen Heeres hintenan und liessen empfinden, dass man ihm in die Rede gefallen war, was immer unangenehm ist. Das Publikum des Hauptplatzes Serang, sofern es nicht in Diensten der Regierung stand—ein Umstand, der die meisten etwas vorsichtig macht—nannte sein [76]Sprechen »schleimig«. Ich finde dies Wort nicht sehr geschmackvoll, doch muss ich zugeben, dass es die Haupteigenschaft von des Residenten Wohlberedtheit einigermassen treffend wiedergab.

Ich habe von Max Havelaar und seiner Frau—denn das waren die beiden Personen, die nach dem Residenten mit ihrem Kinde und dessen Wärterin, der ‚babu‘, aus dem Wagen gekommen waren—noch nichts gesagt, und vielleicht würde es genügen, die Feststellung ihrer Erscheinung und ihres Charakters dem Lauf der Ereignisse und des Lesers eigener Vorstellung zu überlassen. Da ich gleichwohl nun einmal am Beschreiben bin, will ich euch sagen, dass Mevrouw Havelaar nicht schön war, dass aber bei ihr in Blick und Sprache viel Anmut lag, und dass sie in der leichten Ungezwungenheit ihrer Manieren untrüglich erkennen liess, dass sie in der Welt gewesen und in den höheren Klassen der Gesellschaft zuhause war. Sie hatte nicht das Steife und Unbehagliche des bürgerlichen Anstandes, der, um für »distinguiert« durchzugehen, sich und andere mit »gêne« glaubt plagen zu müssen, und sie hing denn auch nicht an viel Äusserlichkeiten, die für manch andere Frau Wert zu haben scheinen. Auch in ihrer Kleidung war sie ein Muster von Einfachheit. Ein weisses Baadju von Mousselin mit blauer Einfassung—ich glaube, dass man in Europa so ein Kleidungsstück ein Morgenkleid nennen würde—war ihr Reisekleid. Um den Hals trug sie eine dünne seidene Schnur, an der zwei kleine Medaillons hingen, die man aber nicht zu sehen bekam, da sie in den Falten vor ihrer Brust verborgen waren. Die Haare trug sie à la chinoise, und ein Kränzchen von Melattiblumen schmückte ihren Kondeh ... das war all ihre Toilette.

Ich sagte, dass sie nicht schön war, und doch möchte ich nicht gern, dass ihr das Gegenteil glaubtet. Ich hoffe, dass ihr sie schön finden werdet, sobald ich Gelegenheit habe, sie euch in ihrer Entrüstung zu zeigen über das, was sie »Verkennung des Genies« nannte, wenn ihr angebeteter Max [77]im Spiel war, oder wenn sie ein Gedanke beseelte, der mit der Wohlfahrt ihres Kindes zu thun hatte. Zu oft schon ist gesagt worden, dass das Antlitz der Spiegel der Seele ist, als dass man noch etwas gäbe auf den Porträtwert eines unbeweglichen Gesichts, das nichts abzuspiegeln hat, weil der Widerschein einer Seele mangelt. Nun, sie hatte eine schöne Seele, und man musste wohl blind sein, um nicht auch ihr Gesicht schön zu finden, wenn diese Seele darauf zu lesen war.

Havelaar war ein Mann von fünfunddreissig Jahren. Er war schlank, und behende in seinen Bewegungen. Ausser seiner kurzen und beweglichen Oberlippe und seinen grossen blassblauen Augen, die, wenn er in ruhiger Stimmung war, etwas Träumerisches hatten, doch Feuer sprühten, wenn ein grosser Gedanke ihn beherrschte, war seiner Erscheinung nichts Besonderes anzumerken. Seine blonden Haare hingen glatt an den Schläfen herunter, und ich kann mir vorstellen, dass wenige, die ihn zum erstenmale sahen, auf den Gedanken kommen würden, dass sie jemanden vor sich hätten, der, was Kopf und Herz angeht, zu den Seltenheiten gehört. Er war ein »Gefäss voll Widersprüchen«. Scharf wie eine Lanzette und sanft wie ein Mädchen, fühlte er selbst immer am ersten die Wunde, die seine bitteren Worte geschlagen hatten, und er litt darunter mehr als der Verletzte. Er war schnell im Begreifen, erfasste sogleich das Höchste, Verwickeltste, spielte gern mit der Lösung schwieriger Fragen, wandte dafür alle Mühe, alles Studium, alle Kraftanstrengung auf ... und manchmal begriff er doch die einfachste Sache nicht, die ein Kind ihm hätte auslegen können. Voll Liebe für Wahrheit und Recht, vernachlässigte er manchmal seine einfachsten, nächstliegenden Pflichten, um ein Unrecht wieder gut zu machen, das höher oder ferner oder tiefer lag und das durch die vermutlich grössere Anstrengung in diesem Streite ihn mehr anlockte. Er war ritterlich und mutig, doch vergeudete er wie ein zweiter Don Quixote seine Tapferkeit manchmal an eine Windmühle. Er glühte von unersättlichem Ehrgeiz, der [78]ihm allen herkömmlichen Unterschied im gesellschaftlichen Leben als nicht bestehend erscheinen liess, und doch lag ihm das grösste Glück in einem ruhigen, häuslichen, abseitsliegenden Leben. Dichter im höchsten Sinne des Worts, erträumte er sich Sonnensysteme aus einem Funken, bevölkerte sie mit Geschöpfen seiner Erfindung, fühlte sich Herr einer Welt, die er selbst ins Leben gerufen ... und doch konnte er gleich darauf ohne die mindeste Träumerei sehr gut ein Gespräch führen über den Preis des Reises, über Sprachregeln, über die ökonomischen Vorteile einer ägyptischen Hühnerbrutvorrichtung. Keine Wissenschaft war ihm ganz fremd. Er ahnte, was er nicht wusste, und besass in hohem Masse die Gabe, das Wenige, das er wusste—jeder weiss wenig, und er, vielleicht mehr wissend als mancher andere, machte von dieser Regel keine Ausnahme—das Wenige in einer Weise anzuwenden, die das Mass seiner Kenntnisse vermannigfachte. Er war pünktlich und ordentlich und dabei ausserordentlich geduldig, allein deswegen gerade, weil Pünktlichkeit, Ordnung und Geduld ihm schwerfielen, da sein Geist etwas Wildes hatte. Er war langsam und vorsichtig in der Beurteilung von Dingen, wiewohl sich das niemandem verriet, der so eilig ihn seine Schlussfolgerungen äussern hörte. Seine Eindrücke waren zu lebendig, als dass man sie für dauernd halten mochte, und doch bewies er manchmal, dass sie dauernd waren. Alles, was gross und erhaben war, lockte ihn an, und zugleich war er naiv und unschuldig wie ein Kind. Er war ehrlich, vor allem wo Ehrlichkeit in Grossmut überging, und hätte Hunderte, die er schuldig war, unbezahlt gelassen, weil er Tausende weggeschenkt hatte. Er war geistsprühend und unterhaltend, wenn er fühlte, dass sein Geist begriffen würde, aber sonst zugeknöpft und zurückgezogen. Herzlich seinen Freunden ergeben, machte er—zu schnell bisweilen—zu seinem Freunde alles, was litt. Er war empfänglich für Liebe und Anhänglichkeit ... treu seinem gegebenen Wort ... schwach in Kleinigkeiten, doch standhaft bis zum Eigensinn, wo es ihm der Mühe wert schien, Charakter zu zeigen ... [79]demütig und wohlwollend denen gegenüber, die sein geistiges Übergewicht anerkannten, doch ein hartnäckiger Gegner, wenn man den Versuch machte, sich gegen dasselbe aufzulehnen ... offenherzig aus stolzer Unbekümmertheit, doch ebenso auch manchmal zurückhaltend, wo er fürchtete, man werde seine Aufrichtigkeit für Unverstand ansehen ... für sinnlichen wie für geistigen Genuss gleicherweise empfänglich ... bedrückt und schlecht bei Worten, wo er glaubte, nicht begriffen zu werden, aber einer ausserordentlichen Sprache mächtig, wenn er fühlte, dass seine Worte auf willigen Boden fielen ... lässig, wenn nicht ein Reiz aus der eigenen Seele ihn antrieb, aber eifrig, feurig und durchgreifend, wo dies wohl der Fall war ... dazu freundlich, gebildet in seinen Manieren und untadelhaft im Wandel: so mögt ihr euch Havelaar ungefähr denken!

Ich sage: ungefähr. Denn wenn überhaupt schon alle Festlegungen schwierig sind, so gilt dies vor allem von der Beschreibung einer Person, die sehr weit von der alltäglichen Grundform abweicht. Dem Umstande wird es auch wohl zuzuschreiben sein, dass Romandichter ihre Helden gewöhnlich zu Teufeln oder zu Engeln machen. Schwarz oder weiss lässt sich leicht ein Bild entwerfen, aber schwieriger ist die exakte Wiedergabe von Schattierungen, die dazwischen liegen, wenn man sich an die Wahrheit bindet und also die Farbe weder zu dunkel noch zu hell halten will. Ich fühle, dass die Skizze, die ich von Havelaar zu geben versuchte, höchst unvollkommen ist. Die Baustoffe, die mir vorliegen, sind in ihrer Art so voneinander abweichend, dass sie mich durch Übermass von Reichtum in meinem Urteil zurückhalten, und ich werde also vielleicht, indem ich die Geschehnisse aufrolle, die ich mitzuteilen wünsche, zur Ergänzung auf dies Gebiet zurücklenken. Das ist gewiss, er war ein aussergewöhnlicher Mensch und wohl die Mühe der Ergründung wert. Ich bemerke nun schon, dass ich versäumt habe, als einen seiner Hauptzüge anzugeben, dass er die lächerliche und die ernste Seite der Dinge gleich schnell und zu gleicher [80]Zeit erfasste, welcher Eigenschaft seine Weise zu sprechen, ohne dass er selbst dies wusste, eine Art Humor entlehnte, der seine Zuhörer fortwährend in Zweifel brachte, ob sie gerührt waren von dem tiefen Gefühl, das in seinen Worten lebte, oder ob sie lachen sollten über die Komik, die auf einmal dem Ernst der Sache Abbruch that.

Auffallend war es, dass sein Äusseres und selbst sein Empfinden so wenig Spuren von seinem vergangenen Leben trugen. Das Rühmen der Erfahrung ist ein lächerlicher Gemeinplatz geworden. Es giebt Leute, die fünfzig oder sechzig Jahre mittrieben in dem Strome, in dem sie zu schwimmen behaupten, und die von all dieser Zeit wenig anderes zu erzählen wüssten, als dass sie von der A-gracht nach der B-strasse verzogen waren. Nichts ist alltäglicher, als dass man auf seine Erfahrung pochen hört, und just vonseiten jener, die ihre grauen Haare so leichterweise erwarben. Andere wieder meinen ihre Ansprüche auf Erfahrung auf wirklich erlittene Schicksalswendungen gründen zu dürfen, ohne dass aber an irgend etwas es sich zeigte, dass sie durch diese Veränderungen in ihrem Seelenleben berührt wurden. Ich kann mir vorstellen, dass das Zugegensein bei wichtigen Geschehnissen, ja, selbst das unmittelbare Berührtwerden von denselben wenig oder keinen Einfluss hat auf eine grosse Gattung von Gemütern, die nicht zugerüstet sind mit der Empfänglichkeit, Eindrücke aufzufangen und zu verarbeiten. Wer daran zweifelt, frage sich doch, ob man Erfahrung all den Bewohnern Frankreichs zuzusprechen hat, die vierzig oder fünfzig Jahre alt waren im Jahre 1815? Und sie alle waren doch Menschen, die das so bedeutsame Drama, das 1789 begann, nicht allein hatten aufführen sehen, sondern sogar in mehr oder minder gewichtigen Rollen dieses Drama mitgespielt hatten.

Und umgekehrt, wie viele werden von einer ganzen Reihe von Empfindungen berührt, ohne dass die äusseren Umstände hierzu Veranlassung zu geben scheinen. Man denke an die Crusœ-Romane, an Silvio Pellicos Gefangenschaft, [81]an das allerliebste »Picciola« von Saintine, an den Kampf in der Brust einer ‚alten Jungfer‘, die ihr ganzes Leben hindurch eine Liebe hegte, ohne je durch ein Wort zu verraten, was in ihrem Herzen umging, an die Empfindungen des Menschenfreundes, der, ohne äusserlich mit dem Lauf der Geschehnisse verknüpft zu sein, ein feuriges Interesse hat am Wohlsein von Mitbürger oder Mitmensch. Man stelle sich vor, wie er wechselnd hofft und fürchtet, wie er jede Veränderung beobachtet, sich begeistert für einen schönen Gedanken und glüht vor Entrüstung, wenn er ihn verdrängt und zertreten sieht von den vielen, die, für einen Augenblick wenigstens, stärker waren als jener schöne Gedanke. Man denke an den Philosophen, der von seiner Zelle aus das Volk zu lehren trachtet, was Wahrheit ist, wenn er bemerken muss, dass seine Stimme überschrieen wird von pietistischer Heuchelei oder von gewinnsüchtigen Quacksalbern. Man stelle sich Sokrates vor—nicht, da er den Giftbecher leert, denn ich meine hier die Erfahrung des Gemüts, und nicht diejenige, die unmittelbar durch äussere Umstände veranlasst wird—wie bitter betrübt seine Seele gewesen sein muss, dass er, der das Gute und Wahre suchte, sich »einen Verderber der Jugend und einen Verächter der Götter« nennen hörte.

Oder besser noch: man denke an Jesus, wie er so traurig auf Jerusalem hinschaut und darüber klagt, »dass es nicht gewollt habe«.

Solch ein Schmerzensschrei—vor Giftbecher oder Kreuzholz—löst sich nicht aus einem unverwundeten Herzen. Da muss gelitten sein, viel gelitten, da ist Erfahrung!

Diese Tirade ist mir entschnappt ... sie steht nun einmal da und sie bleibe. Havelaar hatte viel durchgemacht. Wollt ihr etwas, das den Umzug von der A-gracht aufwiegt? Er hatte Schiffbruch gelitten, mehr denn einmal. Er hatte Feuersbrunst, Aufruhr, Meuchelmord, Krieg, Duelle, Lebensglanz, Armut, Hunger, Cholera, Liebe und »Lieben« in seinem Tagebuch stehen. Er hatte viele Länder besucht und Umgang [82]gehabt mit Leuten von allerlei Rasse und Stand, Sitten, Vorurteilen, Religionen und Gesichtsfarbe.

Was also die Lebensumstände angeht, konnte er viel erfahren haben. Und dass er wirklich viel erfahren hatte, dass er nicht durch das Leben gegangen war, ohne die Eindrücke aufzufangen, die es ihm so im Überfluss anbot, dafür möge uns die Beweglichkeit seines Geistes und die Empfänglichkeit seines Gemüts Bürge sein.

Nun erweckte es Verwunderung bei allen, die wussten oder vermuten konnten, wie viel er erlebt und erlitten hatte, dass hiervon so wenig auf seinem Gesicht zu lesen war. Wohl sprach aus seinen Zügen etwas wie Müdigkeit, doch das liess eher auf frühreife Jugend als auf nahendes Alter schliessen. Und nahendes Alter musste es dennoch wiederum sein, denn in Indien ist der Mann von fünfunddreissig Jahren nicht jung mehr.

Auch sein Empfinden, sagte ich, war jung geblieben. Er konnte wie ein Kind mit einem Kinde spielen, und mehrfach klagte er, dass ‚der kleine Max‘ noch zu jung sei, Drachen steigen zu lassen, denn er, ‚der grosse Max‘, hatte viel Vergnügen hieran. Mit Jungens übte er ‚Bockspringen‘, und er zeichnete sehr gern ein Muster für die Stickereiarbeit der Mädchen. Er nahm gar mehrfach diesen die Nadel aus der Hand und hatte seinen Spass an dieser Arbeit, obschon er öfters sagte, dass sie wohl etwas Besseres thun könnten als dies ‚maschinelle Stichezählen‘. Bei jungen Leuten von achtzehn Jahren war er ein junger Student, der gern sein ‚Patriam canimus‘ mitsang oder ‚Gaudeamus igitur‘ ... ja, ich bin mir dessen nicht ganz sicher, ob er nicht noch sehr kurze Zeit vorher, als er mit Urlaub zu Amsterdam war, ein Firmenschild abbrach, das ihm nicht behagte, weil ein Neger darauf gemalt war, der niedergekauert sass zu den Füssen eines Europäers mit einer langen Pfeife im Mund, und worunter natürlich zu lesen stand: ‚de rookende jonge koopman‘.

Die Babu, der er aus dem Wagen geholfen hatte, glich [83]allen Babus in Indien, wenn sie alt sind. Wenn ihr diese Art von Dienstpersonal kennt, brauche ich euch nicht erst zu sagen, wie sie aussah. Und wenn ihr sie nicht kennt, kann ich es euch nicht sagen. Von anderen Kindermädchen in Indien unterschied sie nur, dass sie sehr wenig zu thun hatte. Denn Mevrouw Havelaar war ein Muster von Fürsorge für ihr Kind, und was es für den kleinen Max oder mit ihm zu thun gab, that sie selbst, zur grossen Verwunderung vieler anderer Damen, die es nicht gut fanden, dass man sich zur ‚Sklavin seiner Kinder‘ mache. [84]

Siebentes Kapitel.

Der Resident von Bantam stellte den Regenten und den Kontrolleur dem neuen Assistent-Residenten vor. Havelaar begrüsste beide Beamte höflich. Dem Kontrolleur—die Begegnung mit einem neuen Chef hat immer etwas Peinliches—nahm er durch ein paar freundliche Worte seine Befangenheit, als wollte er von vornherein eine Art Vertraulichkeit einführen, die den Verkehr erleichtern sollte. Dem Regenten begegnete er, wie es am Platze war gegenüber einer Person, die den goldenen Pajong führt, aber gleichzeitig auch sein »jüngerer Bruder« sein sollte. Mit feiner Liebenswürdigkeit sprach er seinen Tadel über dieses Mannes allzu feurigen Diensteifer aus, der in solch einem Wetter ihn bis an die Grenzen seiner Abteilung geführt hätte, was denn auch, strikt genommen, der Regent nach den Vorschriften der Etikette nicht hätte thun brauchen.

—Wahrlich, m’nheer de Adhipatti, ich bin bös auf Euch, dass Ihr Euch um meinetwillen soviel Mühe gegeben habt! Ich dachte Euch erst in Rangkas-Betung zu begegnen.

—Ich hatte den Wunsch, den Herrn Assistent-Residenten sobald wie möglich zu sehen, um Freundschaft mit ihm zu schliessen, sagte der Adhipatti.

—Gewiss, gewiss, ich fühle mich sehr geehrt! Doch ich sehe nicht gern einen Mann von Eurem Rang und Euren Jahren sich allzusehr bemühen. Und dazu noch zu Pferde! [85]

—Ja, M’nheer de Assistent-Resident! Wo der Dienst mich ruft, bin ich noch immer stark und gut auf den Beinen.

—Das ist zu viel von Euch selbst verlangt! Nicht wahr, Resident?

—Der Herr Adhipatti. Ist. Sehr.

—Gut, aber es giebt da eine Grenze.

—Eifrig, schleppte der Resident hinterher.

—Gut, aber es giebt da eine Grenze, musste Havelaar noch einmal sagen, gleich als wolle er seine ersten Worte als nichtgesagt wieder zurückschlucken. Wenn Sie’s für gut befinden, Resident, werden wir Platz im Wagen machen. Die Babu kann hier bleiben, wir werden ihr von Rangkas-Betung aus einen Tandu schicken. Meine Frau nimmt Max auf den Schoss ... nicht wahr, Tine? Und dann haben wir Platz genug.

—Es. Ist. Mir.

—Verbrugge, wir werden auch für Sie einen Platz haben. Ich seh nicht ein ...

—Recht! sagte der Resident.

—Ich seh nicht ein, warum Sie ohne zwingenden Grund zu Pferde durch den Morast kleppern sollen ... es ist für uns alle Platz genug. Wir können dann sogleich mit einander Bekanntschaft machen. Nicht wahr, Tine, wir werden uns schon einrichten! Hier, Max ... Sehen Sie mal, Verbrugge, ist das nicht ein famoses Kerlchen? Das ist unser Junge ... unser Max!

Der Resident hatte mit dem Adhipatti in der Pendoppo Platz genommen. Havelaar rief Verbrugge, um ihn zu fragen, wem der Schimmel mit roter Schabracke gehöre. Und wie Verbrugge sich dem Eingang der Pendoppo genähert hatte, um zu sehen, welches Pferd er meine, legte Havelaar ihm die Hand auf die Schulter und fragte:

—Ist der Regent immer so diensteifrig?

—Er ist ein rüstiger Mann für seine Jahre, M’nheer Havelaar, und Sie begreifen wohl, dass er gern einen guten Eindruck auf Sie machen möchte. [86]

—Ja, das begreife ich. Ich habe viel Gutes von ihm gehört ... er besitzt Bildung, nicht wahr?

—O ja ...

—Und er hat eine grosse Familie, wie?

Verbrugge sah Havelaar an, als begriffe er diesen Übergang nicht. Das war denn auch manchmal für jemanden, der ihn nicht kannte, schwierig. Die Behendigkeit seines Geistes liess ihn in Gesprächen häufig einige Glieder in der logischen Kette überschlagen, und wenn dieser Übergang auch in seinen Gedanken ohne Stockung vor sich ging, so war es doch jemandem, der nicht so schnell auffasste oder solche Behendigkeit nicht gewohnt war, nicht übel zu deuten, wenn er bei solcher Gelegenheit ihn anstarrte mit der unausgesprochenen Frage auf den Lippen: bist du verrückt ... oder wie soll ich das sonst verstehen?

So etwas konnte man denn auch in den Zügen Verbrugges gewahren, und Havelaar musste die Frage wiederholen, bevor er antwortete:

—Ja, er hat eine sehr ausgebreitete Familie.

—Und sind Medjiets in der Abteilung in Bau begriffen? fuhr Havelaar fort, wieder in einem Ton, der, ganz in Widerspruch mit den Worten selbst, anzudeuten schien, dass ein Zusammenhang bestünde zwischen diesen Moscheen und der ‚grossen Familie‘ des Regenten.

Verbrugge antwortete, dass in der That viel an Moscheen gearbeitet werde.

—Ja, ja, das wusste ich wohl! rief Havelaar. Und sagen Sie mir nun einmal, ob da viel rückständig ist in der Bezahlung der Landrenten?

—Ja, das könnte wohl besser sein ...

—Freilich, und vor allem im Distrikt Parang-Kudjang, sagte Havelaar, als fände er es bequemer, selbst zu antworten. Wie hoch ist der Anschlag von diesem Jahr? fuhr er fort; und bemerkend, dass Verbrugge sich einigermassen unentschlossen zeigte, als wolle er sich auf die Antwort besinnen, [87]kam ihm Havelaar zuvor und setzte seine Rede in einem Atem also fort:

—Gut, gut, ich weiss es schon ... sechsundachtzigtausend und einige hunderte ... fünfzehntausend mehr als im vorigen Jahr ... doch nur sechstausend über das Jahr ’55. Das ist seit ’53 nur um achttausend gestiegen ... und auch die Bevölkerung ist sehr dünn ... nun ja, Malthus! In zwölf Jahren sind wir nur elf Prozent gestiegen, und auf diese Schätzung ist noch kein Verlass, denn die Zählungen waren früher sehr ungenau ... und sind’s noch! Von ’50 zu ’51 besteht sogar ein Rückgang. Auch der Viehbestand macht keine Fortschritte ... das ist ein schlechtes Zeichen, Verbrugge! Ei Teufel, sehen Sie doch, wie das Pferd da springt; ich glaube, es hat den Koller ... wollen mal hingehen, Max!

Verbrugge nahm wahr, dass er den neuen Assistent-Residenten wenig zu lehren haben würde, und dass nicht die Rede sein konnte von einem Übergewicht durch ‚lokale Anciennetät‘, was der gute Junge denn auch nicht begehrt hatte.

—Aber es ist natürlich, fuhr Havelaar fort, indem er Max auf den Arm nahm. Im Tjikandischen und im Bolangschen ist man sehr erfreut darüber ... und die Aufständischen in den Lampongs auch. Ich möchte Sie recht gern als Mitarbeiter gewinnen, M’nheer Verbrugge! Der Regent ist schon ein bejahrter Mann, und wir müssen also ... sagen Sie doch, ist sein Schwiegersohn noch immer Distriktshäuptling? Alles in allem halte ich ihn für eine Person, die Rücksicht verdient ... der Regent, meine ich. Ich freue mich recht, dass hier alles so zurückgeblieben und so ärmlich ist, und ... hoffe hier lange zu bleiben.

Hierauf reichte er Verbrugge die Hand, und dieser, mit ihm an den Tisch zurückkehrend, an dem der Resident, der Adhipatti und Mevrouw Havelaar sassen, merkte schon etwas deutlicher als fünf Minuten früher, dass »der Havelaar so verrückt nicht war«, wie der Kommandant meinte. Verbrugge [88]war keineswegs von Verstande entblösst, und er, der die Abteilung Lebak kannte, wohl so gut, wie ein so grosser Komplex, wo nichts gedruckt wird, von einer Person überhaupt gekannt werden kann, er begann einzusehen, dass doch Beziehungen herrschten zwischen den scheinbar zusammenhanglosen Fragen Havelaars, und gleichzeitig, dass der neue Assistent-Resident, wiewohl er nie die Abteilung betreten hatte, unterrichtet sei von dem, was da vorging. Wohl begriff er noch immer nicht diese Freude über die Armut in Lebak, doch redete er sich ein, dass er diesen Passus verkehrt verstanden haben müsse. Später allerdings, als Havelaar mehrfach dasselbe zu ihm sagte, sah er ein, wieviel Grösse und Adel hinter dieser Freude steckte.

Havelaar und Verbrugge nahmen am Tische Platz, und man wartete, indem man den Thee einnahm und über gleichgültige Dinge sprach, bis Dongso dem Residenten meldete, dass die frischen Pferde vorgespannt seien. Man packte sich so gut wie möglich in den Wagen und fuhr davon. Das Rumpeln und Stossen machte das Sprechen schwierig. Der kleine Max wurde mit einer Banane ruhig gehalten, und seine Mutter, die ihn auf dem Schosse hatte, wollte durchaus nicht wahr haben, dass sie ermüdet sei, als Havelaar ihr anbot, sie von dem schweren Jungen befreien zu wollen. In einem Augenblick unfreiwilliger Ruhe in einem Morastloch fragte Verbrugge den Residenten, ob er mit dem neuen Assistent-Residenten schon über Mevrouw Slotering gesprochen habe.

—M’nheer. Havelaar. Hat. Gesagt.

—Freilich, Verbrugge, warum nicht? Die Dame kann bei uns bleiben. Ich möchte einer Dame ...

—Dass. Es. Gut. Wäre ... schleppte der Resident mit vieler Mühe hinterher.

—Ich möchte einer Dame in ihren Umständen nicht gern mein Haus verschliessen! Sowas versteht sich von selbst ... nicht wahr, Tine?

Auch Tine war der Ansicht, dass sich das von selbst verstünde. [89]

—Sie haben zwei Häuser in Rangkas-Betung, sagte Verbrugge. Es ist Raum in Überfluss vorhanden für zwei Familien.

—Nun, wenn das auch nicht der Fall wäre ...

—Ich. Wagte. Es. Ihr.

—Ei, Resident, rief Mevrouw Havelaar, da giebt’s gar keinen Zweifel!

—Nicht. Zuzusagen. Denn. Es. Ist.

—Und wären es auch ihrer zehn, wenn sie nur vorlieb nähmen bei uns.

—Eine. Grosse. Last. Und. Sie. Ist.

—Aber das Reisen ist bei ihrer Lage unmöglich, Resident!

Ein heftiger Ruck des Wagens, der aus dem Morast gezogen wurde, setzte ein Ausrufungszeichen hinter Tines Erklärung, dass Frau Slotering unmöglich reisen könne. Jeder hatte pflichtgemäss sein erschrecktes »hopsa!« gerufen, das auf solchen Stoss folgt, Max hatte in seiner Mutter Schoss die Banane wiedergefunden, die er durch den Ruck verloren hatte, und schon war man ein ganzes Ende dem demnächst zu erwartenden Morastloch näher, als endlich der Resident beschliessen konnte, seinen Satz zu vollenden, indem er hinzufügte:

—Eine. Eingeborne. Frau.

—O, das bleibt sich gleich, suchte Mevrouw Havelaar verständlich zu machen. Der Resident nickte, als wie zufrieden, dass die Sache geregelt sei, und da das Sprechen so schwer fiel, brach man das Gespräch ab.

Die genannte Frau Slotering war die Witwe von Havelaars Vorgänger, der zwei Monate vorher gestorben war. Verbrugge, dem darauf vorläufig die Amtsfunktionen eines Assistent-Residenten übertragen waren, hätte das Recht gehabt, während dieser Zeit die geräumige Wohnung einzunehmen, die zu Rangkas-Betung so wie in jeder Abteilung von Landeswegen für das Oberhaupt der Landschaftsverwaltung hergerichtet ist. Er hatte dies jedoch nicht gethan, zum [90]Teil, weil er vielleicht fürchtete, zu bald wieder ausziehen zu müssen, zum Teil, um die Benutzung derselben jener Dame mit ihren Kindern zu überlassen. Hinwiederum wäre Raum genug gewesen, denn ausser der sehr grossen Assistent-Residentenwohnung selbst stand daneben auf demselben »Erbe« noch ein anderes Haus, das früher dieser Bestimmung gedient hatte und trotz des einigermassen baufälligen Zustandes zum Bewohnen noch immer sehr geeignet war.

Mevrouw Slotering hatte den Residenten ersucht, ihr Fürsprecher bei dem Nachfolger ihres Ehemannes zu sein, dass derselbe ihr die Benutzung des alten Hauses bis nach ihrer Entbindung gestatte, die sie in einigen Monaten zu erwarten hatte. Das war das Ersuchen, dem Havelaar und seine Frau so bereitwillig Folge gaben, etwas, das ganz in ihrer Art lag, denn gastfrei und hülfbereit waren sie in höchstem Masse.

Wir hörten den Residenten sagen, dass Mevrouw Slotering eine »eingeborene Frau« sei. Sie sprach nur Malayisch. Wir werden ihr später wieder begegnen, wenn wir mit Havelaar, Tine und dem kleinen Max in der Vorgalerie der Wohnung des Assistent-Residenten zu Rangkas-Betung, wo unsere Reisegesellschaft nach langem Gerüttel und Geschüttel endlich wohlbehalten ankam, Thee trinken.

Der Resident, der nur mitgekommen war, um den neuen Assistent-Residenten in sein Amt einzusetzen, gab den Wunsch zu erkennen, dass er noch selbigen Tages nach Serang zurückkehren möchte:

—Weil. Er.

Havelaar erklärte sich demgemäss zu aller Eile bereit ...

—So. Drängend. Zu thun. Habe.

... und es wurde die Verabredung getroffen, dass man über eine halbe Stunde in der grossen Vorgalerie der Wohnung des Regenten sich wieder zusammenfinden werde. Verbrugge, hierauf vorbereitet, hatte schon mehrere Tage vorher den Distriktshäuptlingen, dem Patteh, dem Kliwon, dem Djaksa, dem Steuereinnehmer, einigen Mantries, und [91]schliesslich allen inländischen Beamten, die dieser Feierlichkeit beiwohnen mussten, Befehl gegeben, sich am Hauptplatze zu versammeln.

Der Adhipatti nahm Abschied und ritt nach Hause. Mevrouw Havelaar besah ihre neue Wohnung und war sehr entzückt von ihr, vor allem weil der Garten gross war, was ihr so gut schien für den kleinen Max, der viel in die Luft musste. Der Resident und Havelaar waren auf ihre Zimmer gegangen, um sich umzukleiden, denn bei dem feierlichen Akt, der stattfinden sollte, war wohl das offiziell vorgeschriebene Kostüm erforderlich. Ringsherum ums Haus standen Hunderte von Menschen, die entweder zu Pferd den Wagen des Residenten begleitet hatten oder zum Gefolge der aufgerufenen Häuptlinge gehörten. Die Polizei- und Bureauaufseher liefen geschäftig hin und her. Kurzum, alles zeigte an, dass die Eintönigkeit auf diesem vergessenen Fleckchen Erde in der Westecke Javas für einen Augenblick von regem Leben unterbrochen war.

Alsbald fuhr der schöne Wagen des Adhipatti die Vorfahrt herauf. Der Resident und Havelaar, strotzend von Gold und Silber, doch ein wenig über ihre Degen strauchelnd, stiegen ein und begaben sich nach der Wohnung des Regenten, wo sie mit Musik von Gongs und Gamlangs empfangen wurden. Auch Verbrugge, der sein von Schlamm bespritztes Gewand abgelegt hatte, war dort schon eingetroffen. Die Häuptlinge geringeren Ranges sassen in grossem Kreise nach orientalischer Sitte auf Matten zu ebener Erde, und am Ende der langen Galerie stand ein Tisch, an dem der Resident, der Adhipatti, der Assistent-Resident, der Kontrolleur und sechs Häuptlinge Platz nahmen. Man reichte Thee mit Gebäck herum, und die einfache Feierlichkeit nahm ihren Anfang.

Der Resident erhob sich und verlas den Beschluss des Generalgouverneurs, nach welchem Max Havelaar zum Assistent-Residenten von Bantan-Kidul oder Süd-Bantam ernannt war, wie Lebak von den Eingeborenen genannt wird. Darauf nahm er das »Staatsblatt« zur Hand, worin der Eid [92]stand, der bei Antritt eines Amtes allgemein vorgeschrieben ist und der besagt:

»... dass man, um zur Würde des * * * * ernannt oder befördert zu werden, niemandem etwas versprochen oder gegeben habe, versprechen oder geben werde; dass man unerschütterlich treu sein werde Seiner Majestät dem König der Niederlande; gehorsam den Vertretern Seiner Majestät in den Indischen Regionen; dass man peinlich erfüllen und erfüllen lassen werde die Gesetze und Bestimmungen, die gegeben sind oder gegeben würden, und dass man sich in allem betragen werde, wie es einem guten ... (hier: Assistent-Residenten) gezieme.«

Darauf folgte natürlich das sakramentale: »So wahr mir helfe Gott der Allmächtige!«

Havelaar sprach die vorgelesenen Worte nach. Als einbegriffen in diesen Eid hätte eigentlich betrachtet werden müssen das Gelöbnis: »der eingeborenen Bevölkerung Schutz gewähren zu wollen vor Aussaugung und Unterdrückung«. Denn, indem man schwur, dass man die bestehenden Gesetze und Bestimmungen handhaben werde, brauchte man nur das Auge auf die diesbezüglichen zahlreichen Vorschriften zu wenden, um einzusehen, dass eigentlich ein besonderer Eid hierfür überflüssig sei. Doch der Gesetzgeber scheint der Ansicht gewesen zu sein, dass des Guten nicht zu viel gethan werden könne, wenigstens man fordert von dem Assistent-Residenten einen besonderen Eid, in dem diese Verpflichtung bezüglich des geringen Mannes noch einmal ausdrücklich ausgesprochen ist. Havelaar musste also ein zweites Mal »Gott den Allmächtigen« zum Zeugen anrufen bei dem Gelübde: dass er »die eingeborene Bevölkerung schützen werde vor Unterdrückung, Misshandlung und Erpressung«.

Für einen feinen Beobachter würde es sich der Mühe gelohnt haben, auf den Unterschied zu achten, der in Haltung und Ton einerseits des Residenten und andererseits Havelaars bei dieser Gelegenheit sich zeigte. Beide hatten [93]sie einer solchen Feierlichkeit zu mehreren Malen beigewohnt. Der Unterschied, von dem ich rede, lag also nicht in der grösseren oder geringeren Inanspruchnahme bei einer neuen und ungewohnten Situation, sondern er war allein zurückzuführen auf die durchaus entgegengesetzte Richtung der Charaktere und Begriffe dieser beiden Personen. Der Resident sprach wohl etwas schneller wie gewöhnlich, da er den Beschluss und die Eide nur abzulesen brauchte, was ihm die Mühe ersparte, nach seinen Schlussworten zu suchen, aber doch geschah von seiner Seite alles mit einer Würde und einem Ernst, der dem oberflächlichen Zuschauer einen sehr hohen Begriff von der Wichtigkeit einflössen musste, die er der Sache beimass. Havelaar hingegen hatte, als er mit erhobenem Finger die Eide nachsprach, in Gesicht, Stimme und Haltung etwas, das sagen zu wollen schien: »das ist selbstverständlich, auch ohne dieses »Gott der Allmächtige« würde ich das thun«, und wer Menschenkenntnis besass, würde mehr Vertrauen gesetzt haben auf seine Ungezwungenheit und scheinbare Gleichgültigkeit, als auf die würdige Amtsmiene des Residenten.

Ist es nicht in der That lächerlich, zu meinen, dass der Mann, der berufen ist Recht zu sprechen, der Mann, dem Wohl und Wehe von Tausenden in die Hände gegeben ist, sich gebunden erachten würde durch ein paar schöne Worte, so er nicht, auch ohne diese Worte, sich dazu gedrängt fühlt durch sein eigenes Herz?

Wir glauben von Havelaar, dass er die Armen und Unterdrückten, wo er sie antreffen mochte, beschirmt haben würde, auch wenn er bei »Gott dem Allmächtigen« das Gegenteil gelobt hätte.

Darauf folgte eine Ansprache des Residenten an die Häuptlinge, worauf er ihnen den Assistent-Residenten als Oberhaupt der Abteilung vorstellte, sie ermahnte, dass sie ihm gehorsam sein, ihren Verpflichtungen getreu nachkommen sollten und was der Gemeinplätze mehr waren. Die Häuptlinge wurden darauf einer nach dem anderen Havelaar bei [94]Namen vorgestellt. Er reichte jedem die Hand, und die »Installation« war vor sich gegangen.

Man nahm im Hause des Adhipatti das Mittagsmahl ein, zu dem auch der Kommandant Duclari genötigt war. Gleich nach Beendigung desselben bestieg der Resident, der gern noch selbigen Abends in Serang wieder angelangt sein wollte:

—Weil. Er. So. Besonders. Drängend. Zu thun. Habe.

... wieder seinen Reisewagen, und so kehrte zu Rangkas-Betung wieder eine Stille ein, wie man sie voraussetzt von einer javanischen Binnenstation, die von nur wenigen Europäern bewohnt wurde und überdies nicht an dem Grossen Wege gelegen war.

Die Bekanntschaft zwischen Duclari und Havelaar war bald auf einen angenehmen Ton gestimmt. Der Adhipatti gab zu erkennen, dass er sehr eingenommen sei für seinen neuen »älteren Bruder«, und Verbrugge erzählte später, dass auch der Resident, den er auf seiner Rückreise nach Serang ein Stück Weges geleitet hatte, sich über die Familie Havelaar, die auf ihrem Durchzuge nach Lebak sich einige Tage bei ihm zu Hause aufhielt, sehr günstig ausgelassen hatte. Auch sagte er, dass Havelaar, der bei der Regierung gut angeschrieben stünde, höchstwahrscheinlich schnell in ein höheres Amt befördert oder wenigstens in eine mehr »vorteilhafte« Abteilung versetzt werden würde.

Max und ‚seine Tine‘ waren erst unlängst von einer Reise nach Europa zurückgekehrt und fühlten sich ermüdet von einem Leben, das ich einst sehr eigenartig ein Kofferleben habe nennen hören. Sie erachteten sich also glücklich, nach vielem Umherschwärmen endlich einmal wieder einen Fleck zu bewohnen, wo sie zu Hause sein durften. Vor ihrer Reise nach Europa war Havelaar Assistent-Resident von Amboina gewesen, wo er mit vielen Mühsalen zu kämpfen gehabt, weil die Bevölkerung dieses Eilandes in einem gärenden und aufrührerischen Zustande verkehrte, und zwar infolge der vielen verkehrten Massnahmen, die in der letzten Zeit [95]getroffen wären. Nicht ohne Federkraft hatte er diesen Geist des Widerstandes zu unterdrücken gewusst, doch aus Verdruss über die geringe Hülfe, die man ihm hierin von hoher Hand lieh, und aus Ärger über die elende Verwaltung, die seit Jahrhunderten die herrlichen Regionen der Molukken entvölkert und verwüstet ...

Der sich interessierende Leser suche auf, was über diesen Gegenstand schon im Jahre 1825 von dem Baron Van der Capellen geschrieben wurde; er kann die Publikationen dieses Menschenfreundes im »Indischen Staatsblatt« dieses Jahres finden. Im Zustande jener Gegend ist seit dieser Zeit eine Besserung nicht erfolgt!

Wie dem sei, Havelaar that auf Amboina, was in seinen Kräften lag, doch aus Verdruss über den völligen Mangel an Mitwirkung vonseiten derjenigen, die an erster Stelle berufen waren, seine Bemühungen zu unterstützen, war er krank geworden, und dies hatte ihn bewogen, nach Europa zu verziehen. Strikt genommen, hätte er bei der Wiederplazierung Anspruch gehabt, einen günstigeren Posten zu erhalten als den in der armen, in keiner Weise gut gestellten Abteilung Lebak, da sein Wirkungskreis auf Amboina von grösserer Bedeutung war und er da, ohne Residenten über sich, ganz auf sich selbst gestellt war. Überdies war, schon bevor er nach Amboina verzog, die Rede davon gewesen, ihn zum Residenten zu befördern, und es befremdete hiernach manchen, dass ihm jetzt die Verwaltung einer Abteilung übertragen wurde, die so wenig an Kulturemolumenten aufbrachte, sintemal viele die Bedeutung einer Stellung nach den damit verknüpften Einkünften bemessen. Er selbst freilich beklagte sich darüber durchaus nicht, denn sein Ehrgeiz war keineswegs der Art, dass er hätte betteln mögen um höheren Rang oder grösseren Gewinn.

Und dieses letztere wäre ihm doch gut zustatten gekommen! Denn auf seinen Reisen in Europa hatte er das wenige verausgabt, das er in früheren Jahren erspart. Ja, er hatte Schulden dort hinterlassen und er war also mit [96]einem Wort arm. Doch nimmer hätte er sein Amt als eine Sache des Geldgewinns betrachtet, und bei seiner Ernennung nach Lebak nahm er sich in Zufriedenheit vor, den Rückstand durch Sparsamkeit einzuholen, worin ihn seine Frau, die in Geschmack und Bedürfnissen sehr einfach war, mit grosser Bereitwilligkeit unterstützen würde.

Doch Sparsamkeit war für Havelaar ein schwierig Ding. Was ihn selbst betraf, er konnte sich auf das durchaus Notwendige beschränken, ja, ohne die mindeste Anstrengung konnte er innerhalb dessen Grenzen bleiben. Allein wo andere der Hülfe bedurften, war ihm Helfen und Geben eine wahre Leidenschaft. Er selbst war sich dieser Schwäche bewusst, begründete mit all dem gesunden Verstand, der ihm gegeben war, wie unrecht er thäte, wenn er jemanden unterstützte, wo er selbst mehr Anspruch auf seine eigene Hülfe gehabt hätte ... fühlte dies Unrecht noch lebendiger, wenn auch ‚seine Tine‘ und Max, die er beide so lieb hatte, unter den Folgen seiner Freigebigkeit zu leiden hatten ... er verwies sich seine Gutherzigkeit als Schwäche, als Eitelkeit, als Sucht, gern für einen verkleideten Prinzen sich halten zu lassen ... er gelobte sich Besserung, und doch ... jedesmal, wenn dieser oder jener sich als Opfer eines widrigen Schicksals vor ihm zu gebärden wusste, vergass er alles, um zu helfen. Und das ungeachtet der bitteren Erfahrung von den Folgen dieser durch Übertreibung zum Fehler gewordenen Tugend. Acht Tage vor der Geburt des kleinen Max besass er das Nötige nicht, um die eiserne Wiege zu kaufen, worin sein Liebling ruhen sollte, und kurze Zeit vorher noch hatte er die wenigen Schmuckstücke seiner Frau geopfert, um jemandem Beistand zu leisten, der gewiss in besseren Verhältnissen lebte als er selbst.

Doch all dies lag schon wieder weit hinter ihnen, als sie zu Lebak angekommen waren. Mit heiterer Ruhe hatten sie Besitz genommen von dem Haus, »wo sie nun doch einige Zeit zu bleiben hofften«. Mit einem eigenen Wohlgefallen hatten sie in Batavia die Möbel bestellt, die alles so »comfortable« [97]und gemütlich machen sollten. Sie zeigten sich gegenseitig die Örtlichkeiten, wo sie frühstücken würden, wo der kleine Max spielen sollte, wo der Bücherschrank stehen sollte, wo er ihr des Abends vorlesen würde, was er tags geschrieben, denn er war stets eifrig daran, auf dem Papier seine Gedanken zu entwickeln ... und: »dereinst würde das auch gedruckt werden, und dann würde man sehen, wer ihr Max sei!« Doch niemals hatte er etwas dem Druck übergeben von dem, was in seinem Kopfe umging, weil eine gewisse Scheu ihn erfüllte, die wohl einen Zug von Keuschheit hatte. Er selbst wenigstens wusste diese Scheu nicht besser zu beschreiben, als indem er denen, die ihn zu öffentlichem Auftreten anfeuerten, die Frage vorlegte: »Würdet ihr eure Tochter auf die Strasse laufen lassen ohne Hemd?«

Das war dann wieder eine von den vielen »Schrullen«, die seiner Umgebung das Wort eingaben, dass »dieser Havelaar doch ein sonderbarer Mensch« sei, und wovon ich nicht das Gegenteil behaupte. Doch wenn man sich die Mühe genommen hätte, seinen ungewöhnlichen Ausdruck zu verdolmetschen, so würde man in dieser sonderbaren Frage mit dem Bezug auf die Toilette eines Mädchens vielleicht den Text gefunden haben für eine Abhandlung über die Keuschheit des Geistes, der Scheu empfindet vor den Blicken des interesselos Vorüberbummelnden und sich zurückzieht in sein Gehäuse mädchenhafter Sprödigkeit.

Ja, sie wollten glücklich sein zu Rangkas-Betung, Havelaar und seine Tine! Die einzige Sorge, die sie drückte, waren die Schulden, die sie in Europa zurückgelassen hatten, erhöht um die noch unbezahlten Kosten der Rückreise nach Indien und um die Ausgaben für die Möblierung ihrer Wohnung. Doch Not war keine. Sie sollten doch auch wohl von der Hälfte, von einem Drittel seiner Einkünfte leben können? Vielleicht auch, ja wahrscheinlich, würde er schnell Resident werden, und dann wurde alles leicht und in kurzer Zeit geregelt ...

—Wiewohl es mir arg wider den Strich gehen würde, [98]Tine, wenn ich Lebak verlassen müsste, denn es ist hier viel zu thun. Du musst recht sparsam sein, Beste, dann können wir vielleicht alles uns vom Halse schaffen, auch ohne Beförderung ... und dann hoffe ich lange hier zu bleiben, recht lange!

Nun brauchte er sie nicht zur Sparsamkeit anspornen. Sie war wahrlich nicht Schuld daran, dass Sparsamkeit nötig geworden war, doch sie war so in sein Ich verschmolzen, dass sie diese Anspornung nicht als einen Tadel auffasste, was sie auch nicht bedeuten sollte. Denn Havelaar wusste sehr gut, dass er allein gefehlt hatte durch seine zu weit getriebene Freigebigkeit, und dass ihr Fehler—wenn überhaupt ein Fehler auf ihrer Seite zu suchen war—allein darin gelegen hatte, dass sie aus Liebe zu Max alles gutgeheissen hatte, was er that.

Ja, sie hatte es gut gefunden, dass er die beiden armen Frauen aus der Nieuwstraat, die niemals Amsterdam verlassen hatten und niemals »aus gewesen« waren, auf dem Haarlemer Jahrmarkt herumführte, unter dem ergötzlichen Vorwande, dass der König ihn betraut habe mit »der Sorge für das Amusement von alten Frauen, die sich so gut betragen hätten«. Sie fand es gut, dass er die Waisenkinder aus allen Stiften Amsterdams auf Kuchen und Mandelmilch einlud und sie mit Spielzeug überschüttete. Sie begriff vollkommen, dass er die Logisrechnung der Familie von armen Sängern bezahlte, die nach ihrem Lande zurück wollten, doch nicht gern ihre Habe zurückliessen, wozu die Harfe gehörte und die Violine und der Bass, die sie so nötig brauchten für ihren elenden Betrieb. Sie konnte es nicht missbilligen, dass er das Mädchen zu ihr brachte, das abends auf der Strasse ihn angesprochen hatte ... dass er ihm zu essen gab, ihm Unterkunft bot und das allzu wohlfeile »gehe hin und sündige nicht mehr!« nicht aussprach, bevor er ihr dies »nicht sündigen« möglich gemacht hatte. Sie fand es sehr schön von ihrem Max, dass er das Klavier zurückbringen liess in die Wohnung des Familienvaters, den er hatte sagen hören, [99]wie weh es ihm thue, dass die Mädchen »nach dem Bankerott« die Musik entbehren müssten. Sie begriff sehr gut, dass ihr Max die Sklavenfamilie zu Menado freikaufte, die so bitter betrübt war darüber, dass sie auf den Tisch des Auktionators steigen musste. Sie fand es natürlich, dass Max den Alfuren in der Minahassa, deren Pferde von den Offizieren der »Bayonnaise« totgeritten waren, dafür andere Pferde wiedergab. Sie hatte nichts dagegen, dass er zu Menado und auf Amboina die Schiffbrüchigen der ‚whalers‘, der Walfischfänger, in sein Haus rief und sie versorgte, und sich zu sehr Grandseigneur erachtete, als dass er der Amerikanischen Regierung eine Verpflegungsrechnung vorgelegt hätte. Sie begriff vollkommen, warum die Offiziere beinahe jedes angekommenen Kriegsschiffes grösstenteils bei Max logierten, und dass sein Haus ihnen ihr geliebtes Absteigequartier bedeutete.

War er nicht ihr Max? War es nicht wirklich klein, nichtig, war es nicht ungereimt, ihn, der so fürstlich dachte, binden zu wollen an die Vorschrift der Sparsamkeit und des Haushaltens, die für andere gilt? Und zudem, mochte denn bisweilen auch für einen Augenblick keine Übereinstimmung bestehen zwischen Einkünften und Ausgaben, war Max, ihr Max, nicht bestimmt für eine glänzende Laufbahn? Musste er nicht alsbald in Verhältnisse kommen, die ihn in stand setzen würden, ohne Überschreitung seiner Einkünfte seinen grossherzigen Neigungen freien Lauf zu lassen? Musste ihr Max nicht Generalgouverneur werden über das liebe Indien, oder ... ein König? Ja, war es nicht sonderbar, dass er nicht schon König war?

Wenn ein Fehler bei ihr gefunden werden konnte, dann war hier die Schuld, dass sie so sehr eingenommen war für Havelaar, und wenn je, dann galt hier das Wort: dass man viel vergeben müsse dem, der viel geliebt!

Doch man hatte ihr nichts zu verzeihen. Ohne nun die übertriebenen Vorstellungen zu teilen, die sie sich von ihrem Max bildete, ist es doch erlaubt, anzunehmen, dass er eine [100]gute Laufbahn vor sich hatte, und wenn diese gegründete Aussicht sich verwirklicht hätte, wären in der That die unangenehmen Folgen seiner Freigebigkeit bald aus dem Wege zu räumen gewesen. Aber noch ein Grund von ganz anderer Art entschuldigte ihre und seine scheinbare Sorglosigkeit.

Sie hatte sehr jung ihre Eltern verloren und war bei Angehörigen von ihr aufgezogen. Als sie heiratete, teilte man ihr mit, dass sie ein kleines Vermögen besitze, und man zahlte es ihr auch aus; doch Havelaar entdeckte aus einzelnen Briefen früherer Zeit und aus einigen losen Aufzeichnungen, die sie in einer von ihrer Mutter ererbten Kassette aufbewahrte, dass ihre Familie sowohl von väterlicher wie mütterlicher Seite sehr reich gewesen war, ohne dass ihm gleichwohl deutlich werden wollte, wo, wodurch oder wann dieser Reichtum verloren gegangen war. Sie selbst, die sich nie um Geldsachen bekümmert hatte, wusste wenig oder nichts zu antworten, als Havelaar sich angelegen sein liess, bezüglich der früheren Besitzverhältnisse ihrer Verwandten einige Auskunft von ihr zu erlangen. Ihr Grossvater, der Baron van W., war mit Wilhelm V. nach England entwichen und im Heer des Herzogs von York Rittmeister gewesen. Er schien mit den entkommenen Gliedern der Statthalterfamilie ein lustiges Leben geführt zu haben, was denn auch von vielen als Ursache des Niederganges seiner günstigen Vermögensverhältnisse angegeben wurde. Später, bei Waterloo, fiel er bei einem Angriff unter den Husaren von Boreel. Rührend war es, die Briefe ihres Vaters zu lesen—damals eines Jünglings von achtzehn Jahren, der als Leutnant bei diesem Korps in demselben Angriff einen Säbelhieb über den Kopf bekam, an dessen Folgen er acht Jahre später im Irrsinn sterben sollte—Briefe an seine Mutter, in denen er ihr sein Weh klagte, wie er ergebnislos auf dem Schlachtfelde nach dem Leichnam seines Vaters gesucht hatte.

Was ihre Abkunft mütterlicherseits angeht, erinnerte sie sich, dass ihr Grossvater auf sehr ansehnlichem Fusse gelebt hatte, und aus einigen Papieren wurde ersichtlich, dass [101]dieser im Besitz des Postbetriebes in der Schweiz gewesen war, in der Art wie jetzt noch in einem grossen Teile Deutschlands und Italiens dieser Einkommenszweig die »Apanage« der Fürsten von Thurn und Taxis ausmacht. Dies liess ein grosses Vermögen voraussetzen, aber auch hiervon war durch gänzlich unbekannte Ursachen nichts oder wenigstens sehr wenig auf das zweite Glied übergegangen.

Havelaar vernahm das wenige, was darüber zu vernehmen war, erst nach seiner Eheschliessung, und bei seinen Nachforschungen erweckte es seine Verwunderung, dass die Kassette, von der ich soeben sprach—und die sie mit dem Inhalt aus einem Gefühl der Pietät aufbewahrte, ohne zu ahnen, dass darin Stücke enthalten sein könnten, die in geldlicher Hinsicht von Wert waren—auf unbegreifliche Weise verloren gegangen war. Wie uneigennützig auch, er gründete auf diese und viele andere Umstände die Meinung, dass dahinter ein ‚roman intime‘ sich verstecke, und man mag es ihm nicht übel deuten, dass er, der er für seine kostspielige Veranlagung viel nötig hatte, mit Freude diesen Roman ein glückliches Ende hätte nehmen sehen. Wie es nun auch sein möge mit dem wirklichen Bestehen dieses Romans, und ob nun »Raub« stattfand oder nicht, gewiss ist, dass in Havelaars Phantasie etwas geboren wurde, was man einen »Millionentraum« nennen könnte.

Doch eigenartig war es wiederum, dass er, der so genau und scharf dem Rechte eines andern—wie tief es auch begraben sein mochte unter staubigen Akten und dicken Gespinnsten von Advokatenkniffen—nachgespürt und es verteidigt haben würde, dass er hier, wo sein eigenes Interesse im Spiel war, nachlässig den Augenblick verpasste, wo vielleicht die Sache hätte angefasst werden müssen. Er schien eine gewisse Scham zu empfinden, hier, wo es seinen eigenen Vorteil galt, und ich glaube bestimmt, wenn ‚seine Tine‘ mit einem anderen verheiratet gewesen wäre, mit jemandem, der sich an ihn mit dem Ersuchen gewendet hätte, er möchte das Spinnengewebe zerstören, worin der grossväterliche Wohlstand [102]hängen geblieben war, ich glaube, dass es ihm geglückt wäre, ‚die interessante Waise‘ in den Besitz des Vermögens zu setzen, das ihr gehörte. Doch nun war diese interessante Waise seine Frau, ihr Vermögen war das seine, und so fand er etwas Kaufmännisches, Entwürdigendes darin, in ihrem Namen zu fragen: »Seid ihr mir nicht noch etwas schuldig?«

Und doch konnte er diesen Millionentraum nicht von sich schütteln, und wäre dies auch nur gewesen, um eine Rechtfertigung dafür bei der Hand zu haben, wenn er, was häufig vorkam, es an sich tadelte, dass er zu viel Geld ausgab.

Erst kurz vor der Rückkehr nach Java, als er schon viel gelitten hatte unter dem Drucke des Geldmangels, als er sein trotziges Haupt hatte beugen müssen unter die furca caudina so manchen Gläubigers, war es ihm gelungen, seine Trägheit oder seine Scheu zu überwinden, um die Millionen gegenständlich zu machen, die er noch zu gute zu haben meinte. Und man antwortete ihm mit einer alten Rechnungsaufstellung ... ein Argument, wie man weiss, gegen das nichts ins Feld zu führen ist.

Doch sie würden so sparsam sein zu Lebak! Und warum auch nicht? Es irren in so einem unkultivierten Lande nicht spät abends Mädchen über die Strasse, die ein wenig Ehre zu verkaufen haben für ein wenig Essen. Es schwärmen da nicht so viel Menschen herum, die von problematischen Berufen leben. Da kommt es nicht vor, dass eine Familie auf einmal zu Grunde geht durch Schicksalswendung ... und derart waren doch gewöhnlich die Klippen, an denen die guten Vorsätze Havelaars scheiterten. Die Zahl der Europäer in dieser Abteilung war so gering, dass sie nicht in Anschlag kam, und der Javane in Lebak zu arm, als dass er—bei welcher Wendung des Loses immer—die Aufmerksamkeit erregen könnte durch noch grössere Armut. Tine überdachte dies alles wohl nicht so—hierzu hätte sie sich doch deutlicher, als sie es aus Liebe zu Max thun mochte, Rechenschaft geben müssen von den Ursachen ihrer nicht sehr günstigen Verhältnisse—aber es lag in ihrer neuen [103]Umgebung etwas, das Ruhe atmete, und es mangelten hier alle Anlässe, die—mit mehr oder minder romanhaftem Hintergrunde—früher Havelaar so oftmals hatten sagen lassen:

—Nicht wahr, Tine, das ist nun doch ein Fall, dem ich mich nicht entziehen kann?

Und worauf sie stets geantwortet hatte:

—Freilich nein, Max, dem kannst du dich nicht entziehen!

Wir werden sehen, wie das einfache, scheinbar unbewegte Lebak Havelaar mehr kostete als alle früheren Exzesse seines Herzens zusammengenommen. Aber das wussten sie nicht! Sie sahen mit Vertrauen in die Zukunft und fühlten sich so glücklich in ihrer Liebe und im Besitz ihres Kindes ...

—O, sieh doch, wieviel Rosen in dem Garten, rief Tine, und da auch Rampeh und Tjempaka, und so viel Melattis, und sieh mal die schönen Lilien ...

Und, Kinder, die sie waren, hatten sie eine unschuldige Freude an ihrem Hause. Und als abends Duclari und Verbrugge nach einem Besuch bei Havelaars nach ihrer gemeinschaftlichen Wohnung zurückkehrten, sprachen sie viel über die kindliche Fröhlichkeit der neu angekommenen Familie.

Havelaar begab sich auf sein Bureau und blieb dort die Nacht über bis zum folgenden Morgen. [104]

Achtes Kapitel.

Havelaar hatte den Kontrolleur ersucht, die Häuptlinge, die in Rangkas-Betung anwesend waren, zu veranlassen, dass sie noch bis zum folgenden Tage dort verweilten, um der Sebah beizuwohnen, die er belegen wollte. Solch eine Versammlung fand gewöhnlich einmal im Monat statt, doch sei es, dass er einzelnen Häuptlingen, die etwas weit vom Hauptplatze entfernt wohnten—denn die Abteilung Lebak ist sehr ausgedehnt—das unnötige Hin- und Herreisen ersparen wollte, oder sei es, dass es sein Wunsch war, sogleich und ohne den festgesetzten Tag abzuwarten in feierlicher Weise zu ihnen zu sprechen ... er hatte den ersten Sebah-Tag für den folgenden Tag angesetzt.

Links vor seiner Wohnung, doch auf demselben »Erbe« und gegenüber dem Hause, das Mevrouw Slotering bewohnte, stand ein Gebäude, das zum Teil die Bureaux der Assistent-Residentschaft enthielt, wozu auch die Landeskasse gehörte, und zum andern Teil aus einer ziemlich geräumigen, offenen Galerie bestand, die recht geeignet war zur Abhaltung solch einer Versammlung. Dort waren denn auch den folgenden Morgen die Häuptlinge frühzeitig vereinigt. Havelaar trat ein, grüsste und nahm Platz. Er empfing die geschriebenen Monatlichen Berichte über Landbau, Viehstand, Polizei und Gerichtspflege und legte sie zu näherer Prüfung beiseite.

Jeder erwartete hierauf eine Ansprache gleich der, welche der Resident am Tage zuvor gehalten hatte, und es [105]ist nicht so ganz und gar sicher, dass Havelaar selbst die Absicht hatte, etwas anderes zu sagen; doch man musste ihn bei solchen Gelegenheiten gehört und gesehen haben, um sich vorstellen zu können, wie er bei Ansprachen wie dieser sich begeisterte und durch seine eigene Art zu reden den bekanntesten Dingen eine neue Farbe verlieh, wie sich dann seine Haltung aufrichtete, wie sein Blick Feuer sprühte, wie seine Stimme vom schmeichelnd-sanften überging zu Lanzettenschärfe, wie die Bilder von seinen Lippen flossen, als streue er Kleinodien um sich her, die ihn doch nichts kosteten, und wie ihn, wenn er anhielt, jeder anstarrte mit offenem Munde, als wolle er fragen: »Mein Gott, wer bist du?«

Es ist wahr, dass er selbst, der bei solchen Gelegenheiten sprach wie ein Apostel, wie ein Seher, später nicht wusste, wie er gesprochen hatte, und seine grosse Beredtheit hatte denn auch mehr die Eigenschaft, Erstaunen hervorzurufen und zu packen, als durch Bündigkeit der Beweisführung zu überzeugen. Er hätte die Kriegslust der Athener, sobald der Krieg gegen Philippus beschlossen war, anfeuern können bis zu vernichtender Raserei, doch nicht so gut wäre es ihm wahrscheinlich, falls es seine Aufgabe war, gelungen, sie durch logische Folgerungen zu diesem Kriege zu bewegen. Seine Ansprache an die Häuptlinge von Lebak wurde natürlich in malayischer Sprache gehalten, und sie entlehnte dem Umstande noch um so mehr Eigenart, als die Einfachheit der orientalischen Sprachen vielen Ausdrücken eine Kraft verleiht, die unseren Idiomen durch litterarische Gekünsteltheit verloren gegangen ist, während auf der andern Seite wieder das süssfliessende des Malayischen schwerlich in irgend einer anderen Sprache wiederzugeben ist. Man bedenke überdies, dass die Mehrzahl seiner Zuhörer aus einfältigen, doch keineswegs dummen Menschen bestand, und zugleich, dass es Orientalen waren, deren Eindrücke sehr verschieden sind von den unseren.

Havelaar muss ungefähr also gesprochen haben: [106]

—Mynheer de Radhen Adhipatti, Regent von Bantan-Kidul, und Ihr, Radhens Dhemang, die Ihr Häupter seid der Distrikte in dieser Abteilung, und Ihr, Radhen Djaksa, der Ihr die Justiz zum Amte habt, und auch Ihr, Radhen Kliwon, der Ihr Autorität übt am Hauptplatze, und Ihr, Radhens, Mantries und alle, die Ihr Häupter seid in der Abteilung Bantan-Kidul ... ich grüsse Euch!

Und ich sage Euch, dass ich Freude fühle in meinem Herzen, nun ich hier Euch alle versammelt sehe, lüsternd nach den Worten von meinem Munde.

Ich weiss, dass da unter Euch welche sind, die hervorragen durch Kenntnis und durch Vortrefflichkeit des Herzens: ich hoffe meine Kenntnis durch die Eure zu vermehren, denn sie ist nicht so gross, wie ich wohl wünschte. Und ich habe wohl die Vortrefflichkeit lieb, doch manchmal gewahre ich, dass in meinem Gemüte Mängel sind, die die Vortrefflichkeit überschatten und ihr den fröhlichen Wuchs nehmen ... Ihr alle wisset, wie der grosse Baum den kleinen verdrängt und ihn tötet. Darum werde ich schauen auf die unter Euch, die durch ihre Tugend hervorragen, um zu versuchen, besser zu werden, als ich bin.

Ich grüsse Euch alle sehr.

Als der Generalgouverneur mir gebot, zu Euch zu gehen, dass ich Assistent-Resident sei in dieser Abteilung, da war mein Herz sehr erfreut. Es kann Euch bekannt sein, dass ich niemals Bantan-Kidul betreten hatte. Ich liess mir Schriftwerk geben, das über Eure Abteilung handelt, und ich habe gesehen, dass viel Gutes ist in Bantan-Kidul. Euer Volk besitzt Reisfelder in den Thälern, und es sind Reisfelder auf den Bergen. Und Ihr wünschet in Frieden zu leben und begehret nicht zu wohnen in Landstrichen, die bewohnt werden von andern. Ja, ich weiss, dass da viel Gutes ist in Bantan-Kidul!

Aber nicht darum allein war mein Herz erfreut. Denn auch in andern Geländen würde ich viel Gutes gefunden haben. [107]

Doch ich gewahrte, dass Eure Bevölkerung arm ist, und hierüber war ich froh im Innersten meiner Seele.

Denn ich weiss, dass Allah den Armen lieb hat und dass Er Reichtum giebt dem, den Er prüfen will. Doch zu den Armen sendet Er, wer sein Wort spricht, auf dass sie sich aufrichten in ihrem Elend.

Giebt Er nicht Regen, wo der Halm verdorrt, und einen Tautropfen in den Blumenkelch, der Durst hat?

Und ist es nicht schön, ausgesendet zu werden, dass man die Ermüdeten suche, die zurückblieben nach der Arbeit und niedersanken am Wege, da ihre Kniee nicht stark mehr waren, hinaufzugehen nach dem Orte des Lohnes? Sollte ich nicht erfreut sein, die Hand reichen zu dürfen dem, der in die Grube fiel, und einen Stab zu geben dem, der die Berge erklimmt? Sollte nicht mein Herz aufspringen vor Lust, wenn es sich erwählet sieht unter vielen, aus Klagen ein Gebet zu machen und Danksagung aus Weinen?

Ja, ich bin froh aus Herzens Grunde, gerufen zu sein nach Bantan-Kidul!

Ich habe gesagt zu der Frau, die meine Sorgen teilt und mein Glück grösser macht: freue dich, denn ich sehe, dass Allah Segen giebt auf das Haupt unseres Kindes! Er hat mich gesendet an einen Ort, wo nicht alle Arbeit abgelaufen ist, und er schätzte mich würdig, da zu sein vor der Zeit der Ernte. Denn nicht im Schneiden des Padie ist die Freude: die Freude ist im Schneiden des Padie, den man gepflanzt hat. Und die Seele des Menschen wächst nicht vom Lohne, sondern von der Arbeit, die den Lohn verdient. Und ich sagte zu ihr: Allah hat uns ein Kind gegeben, das dereinstmals sagen wird: »Wisset Ihr, dass ich sein Sohn bin?« Und dann werden da welche sein im Lande, die ihn grüssen mit Liebe und die die Hand auf sein Haupt legen werden, und sie werden sagen: »Setze dich nieder zu unserm Mahl, und bewohne unser Haus, und nimm deinen Teil von dem, was wir haben, denn ich habe deinen Vater gekannt.« [108]

Häupter von Lebak, es ist viel zu arbeiten auf Eurem Landstrich!

Sagt mir, ist nicht der Landmann arm? Reift nicht Euer Padie so oft zur Speise für die, die nicht gepflanzt haben? Sind da nicht viele Verkehrtheiten in Eurem Lande? Ist nicht die Anzahl Eurer Kinder gering?

Ist nicht Scham in Euren Seelen, wenn der Bewohner von Bandung, das da gen Osten liegt, Eure Landschaft besucht und fragt: »Wo sind die Dörfer und wo die Besteller des Landes? Und warum höre ich den Gamlang nicht, der Freudigkeit spricht mit kupfernem Munde, noch das Gestampfe des Padie von Euren Töchtern?«

Ist es Euch nicht bitter, von hier zu reisen nach der Südküste und die Berge zu sehen, die kein Wasser tragen auf ihren Seiten, oder die Flächen, wo nimmer ein Büffel den Pflug zog?

Ja, ja, ich sage Euch, dass Eure und meine Seele darüber betrübt ist! Und darum just sind wir Allah dankbar, dass Er uns Macht gegeben hat, hier zu arbeiten.

Denn wir haben in diesem Lande Äcker für viele, obschon der Bewohner wenige sind. Und es ist nicht der Regen, der mangelt, denn die Gipfel der Berge saugen die Wolken des Himmels zur Erde nieder. Und nicht überall sind Felsen, die der Wurzel Platz verwehren, denn an vielen Stellen ist der Grund weich und fruchtbar und schreit nach dem Samenkorn, das er uns wiedergeben will in gebogenem Halm. Und es ist kein Krieg im Lande, der den Padie zertritt, wenn er noch grün ist, noch Krankheit, der Euren lockernden Patjol nutzlos macht. Noch sind da Sonnenstrahlen, die heisser wären als nötig ist, das Getreide reifen zu lassen, das Euch und Eure Kinder nähren soll, noch Banjirs, deren wilde Wogen alles überfluten und niederreissen und Euch jammern lassen: »Zeig’ mir den Platz, wo ich gesäet habe!«

Wo Allah Wasserströme sendet, die die Äcker wegnehmen ... wo Er den Boden hart macht wie trockenen Stein ... wo Er Seine Sonne glühen lässet, dass alles versenget [109]werde ... wo Er Krieg sendet, der die Felder niederlegt ... wo Er schlägt mit Krankheiten, die die Hände erschlaffen lassen, oder mit Trockenheit, die die Ähren tötet ... da, Häupter von Lebak, beugen wir demütig das Haupt und sagen: »Er will es so!«

Doch nicht also in Bantan-Kidul!

Ich bin hierher gesandt, Euer Freund zu sein, Euer älterer Bruder. Würdet Ihr Euren jüngeren Bruder nicht warnen, wenn Ihr einen Tiger sähet auf seinem Wege?

Häupter von Lebak, wir haben wohl öfter Fehlgriffe gethan, und unser Land ist arm, weil wir so viele Fehler begingen.

Denn in Tjikandi und Bolang und im Krawangschen und in der Umgegend von Batavia sind viele, die geboren sind in unserem Lande und die unser Land verlassen haben.

Warum suchen sie Arbeit fern von dem Platz, wo sie ihre Eltern begruben? Warum fliehen sie die Dessah, wo sie die Beschneidung empfingen? Warum wählen sie die Kühle des Baumes, der dort wächst, vor dem Schatten unserer Haine?

Und dort im Nordwesten jenseit der See sind viele, die unsere Kinder sein müssten, doch die Lebak verlassen haben, um herumzuirren in fremden Landstrichen mit Kris und Klewang und Schiessgewehr. Und sie kommen elendig um, denn es ist Macht von der Regierung da, die die Aufständischen erschlägt.

Ich frage Euch, Häuptlinge von Bantan-Kidul, warum sind da so viele, die weggingen, um nicht begraben zu werden, wo sie geboren sind? Warum fragt der Baum, wo der Mann sei, den er als Kind spielen sah an seinem Fusse?


Havelaar hielt hier einen Augenblick inne. Um einigermassen den Eindruck zu begreifen, den seine Sprache machte, hätte man ihn hören und sehen müssen. Als er von seinem Kinde sprach, war in seiner Stimme etwas Sanftes, etwas unbeschreiblich Rührendes, das zu der Frage lockte: »Wo ist [110]der Kleine? Jetzt schon will ich das Kind küssen, das seinen Vater so sprechen lässt!« Doch als er kurz darauf, scheinbar mit wenig Planmässigkeit in dem allen, überging zu den Fragen, warum Lebak arm sei und warum so viele Bewohner dieser Gegenden anderswohin verzögen, da nahm seine Stimme einen Klang an, der an das Kreischen des Bohrers erinnert, der mit Kraft in hartes Holz geschraubt wird. Dennoch sprach er nicht laut, noch betonte er einzelne Worte besonders, und sogar eintönig schien seine Stimme, aber—sei hier nun Absicht oder Natur im Spiel—gerade diese Eintönigkeit verstärkte den Eindruck seiner Worte auf Gemüter, die so besonders empfänglich waren für solche Sprache.

Seine Bilder, die stets aus dem Leben genommen waren, das ihn umringte, waren für ihn wirklich Hülfsmittel zum Begreiflichmachen dessen, was er im Auge hatte, und nicht, wie sonst so häufig, lästige Anhängsel, die die Sätze der Redner beschweren, ohne nur einige Deutlichkeit dem Begriff der Sache hinzuzufügen, die man zu erklären vorgiebt. Wir sind jetzt gewöhnt an den bei uns gar nicht gerechtfertigten Ausdruck: »stark wie ein Löwe«; doch wer in Europa dies Bild zuerst anwendete, zeigte, dass er seinen Vergleich nicht aus der Seelenpoesie geschöpft hatte, die Bilder giebt für logische Folgerungen und nicht anders sprechen kann, sondern dass er seinen Gemeinplatz einfach aus diesem oder jenem Buch—aus der Bibel vielleicht—abgeschrieben hatte, worin ein Löwe vorkam. Denn niemand seiner Zuhörer hatte jemals die Stärke des Löwen erfahren, und es wäre also viel eher nötig gewesen, sie diese Stärke erkennen zu lassen durch Vergleich des Löwen mit etwas, dessen Kraft ihnen aus Erfahrung bekannt war, als umgekehrtermassen.

Man wird belehrt, dass Havelaar wirklich Dichter war. Jeder fühlt, dass er, von den Reisfeldern sprechend, die auf den Bergen wären, die Augen dorthin richtete durch die offene Seite der Halle und dass er die Felder in der That sah. Man sieht ein, als er den Baum fragen liess, wo der Mann sei, der als Kind an seinem Fusse gespielt, dass dieser Baum [111]dastand und in der Einbildung von Havelaars Zuhörern in Wirklichkeit fragend umherspähte nach den ausgewanderten Bewohnern von Lebak. Auch ersann er nichts: er hörte den Baum sprechen und glaubte nur nachzusagen, was er in seiner dichterischen Auffassung so deutlich verstanden hatte.

Wenn vielleicht jemand die Bemerkung machen sollte, dass die Ursprünglichkeit in Havelaars Art zu sprechen nicht so unbestreitbar sei, da seine Sprache an den Stil der Propheten des Alten Testaments erinnert, den muss ich daran erinnern, dass ich schon gesagt habe, wie er in Augenblicken der Entrücktheit wirklich etwas von einem Seher hatte. Genährt durch die Eindrücke, die das Leben in Wäldern und auf Bergen ihm zu teil werden liess, umgeben von der poesie-ausströmenden Atmosphäre des Ostens, und also aus gleichartiger Quelle schöpfend wie die mahnenden und richtenden Seher des Altertums, mit denen ihn zu vergleichen man sich bisweilen genötigt sah ... da vermuten wir, dass er nicht anders gesprochen haben würde, auch wenn er niemals die herrlichen Dichtungen des Alten Testaments gelesen hätte. Finden wir nicht schon in den Versen, die aus seiner Jugendzeit datieren, Zeilen wie die folgenden, die auf dem Salak geschrieben waren—einem der Riesen, doch nicht der grösste, unter den Bergen der Preanger Regentschaften—worin gleichfalls wieder der Beginn die Sanftheit seiner Empfindungen darthut, um auf einmal überzugehen in das Nachsprechen des Donners, den er unter sich hört:

Wie herrlich ist’s, hier seinen Schöpfer laut zu loben ...

Wie freudig schwingt von Höh’ zu Höh’ sich dein Gebet ...

Mehr denn im Thal wächst hier das Herz nach oben:

Du fühlst von Gottes Nähe dich umweht!

Hier schuf Er Selbst sich in Altar und Tempelchören,

Wo noch kein Priester Gottes Wort geschmäht,

Hier lässt Er sich in grollenden Gewittern hören ...

Und rollend ruft sein Donner: Majestät!

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

... und fühlt man nicht, dass er diese letzten Verse nicht so hätte schreiben können, wenn er nicht wirklich hören und [112]verstehen zu können glaubte, wie Gottes Donner ihm diese Worte in prasselndem Widerhall, an den erbebenden Bergwänden zurief?

Doch er liebte Verse nicht. »Es wäre ein hässliches Schnürleib«, sagte er, und wenn er dazu bewegt wurde, etwas vorzulesen von dem, was er, wie er sich ausdrückte, »begangen« hatte, so suchte er sein Vergnügen darin, sein eigenes Werk zu verderben, indem er es entweder in einem Tone vortrug, der es lächerlich machen musste, oder indem er auf einmal, gewöhnlich bei einem hochernsten Passus, abbrach und ein Witzwort dazwischen warf, das die Zuhörer peinlich berührte, doch bei ihm nichts anderes war als eine blutige Satire auf die schlechte Übereinstimmung zwischen diesem Schnürleib und seiner Seele, die sich so beengt darin fühlte.

Es waren unter den Häuptlingen nur wenige, die sich der herumgereichten Erfrischungen bedienten. Havelaar hatte nämlich durch einen Wink befohlen, den bei derartigen Gelegenheiten unvermeidlichen Thee mit Maniessan herumzureichen. Es schien, dass er mit Vorbedacht nach den letzten Worten seiner abgebrochenen Ansprache einen Ruhepunkt eintreten liess. Und hierzu war Grund. »Wie—mussten die Häuptlinge denken—er weiss schon, dass so viele unsere Abteilung verliessen, mit Bitterkeit im Herzen? Schon ist ihm bekannt, wie viele Familien in benachbarte Gegenden auswanderten, um der Armut zu entweichen, die hier herrscht? Und sogar weiss er, dass soviel Bantamer sind unter den Banden, die in den Lampongs die Fahne des Aufstandes entrollt haben gegen die Niederländische Herrschaft? Was will er? Was bezweckt er? Wem gelten seine Fragen?«

Und es waren welche, die sahen Radhen Wiera Kusuma an, das Distriktshaupt von Parang-Kudjang. Doch die meisten schlugen die Augen zur Erde.

»Komm mal her, Max!« rief Havelaar, seines Kindes gewahr werdend, das auf dem Hof spielte, und der Regent nahm den Kleinen auf den Schoss. Doch der war zu wild, [113]um es lange dort auszuhalten. Er sprang fort und lief in dem grossen Kreise der Männer herum und ergötzte die Häuptlinge mit seinem Gepappel und spielte mit den Knäufen ihrer Dolche. Als er zu dem Djaksa kam, der des Kindes Aufmerksamkeit erregte, weil er prächtiger gekleidet war als die andern, schien dieser irgendwas auf dem Kopfe des kleinen Max dem Kliwon zu zeigen, der neben ihm sass und sein Ohr einer zugeflüsterten Bemerkung darüber zu neigen schien.

—Geh nun, Max, sagte Havelaar, Papa hat den Herren etwas zu sagen.

Der Kleine lief fort, nachdem er den Männern Kusshändchen zugeworfen.

Hierauf fuhr Havelaar also fort:

—Häupter von Lebak! Wir alle stehen im Dienste des Königs von Niederland. Doch Er, der rechtfertig ist und will, dass wir unsere Pflicht thun, ist ferne von hier. Dreissig-mal-tausend-mal-tausend Seelen, ja, mehr noch als soviel, sind gehalten, seinen Befehlen zu gehorchen, doch er kann nicht allen nahe sein, die abhängen von seinem Willen.

Der Grosse-Herr zu Buitenzorg ist rechtfertig und will, dass jeder seine Pflicht thue. Doch auch dieser, mächtig wie er ist und gebietend über alles, was Gewalt hat in den Städten, und über alle, die in den Dörfern die ältesten sind, und bestimmend über die Heeresmacht und über die Schiffe, die auf See fahren ... auch er kann nicht sehen, wo Unrecht gethan ist, denn das Unrecht bleibt ferne von ihm.

Und der Resident zu Serang, der Herr ist über den Landesteil Bantam, wo fünf-mal-hundert-tausend Menschen wohnen, will, dass Recht geschehe in seinem Gebiet, und dass da Gerechtigkeit herrsche in den Landschaften, die ihm gehorsamen. Doch wo Unrecht ist, da ist es fern von seiner Wohnung. Und wer Bosheit thut, verbirgt sich vor seinem Angesicht, weil er Strafe fürchtet. [114]

Und der Herr Adhipatti, der Regent ist von Süd-Bantam, will, dass jeder lebe, der dem Guten nachtrachtet, und dass da keine Schande laste auf dem Landstrich, der seine Regentschaft ist.

Und ich, der ich gestern den Allmächtigen Gott zum Zeugen nahm, dass ich rechtfertig und langmütig sein würde, dass ich Recht würde thun sonder Furcht und sonder Hass, dass ich sein werde: »ein guter Assistent-Resident« ... auch ich habe den Willen, zu thun, was meine Pflicht ist.

Häupter von Lebak, diesen Willen haben wir alle!

So aber etliche unter uns sein mögen, die ihre Pflicht Gewinnes halber verwahrlosen, die das Recht verkaufen für Geld, oder die den Büffel dem Armen nehmen, und die Früchte, die denen gehören, die da Hunger haben ... wer wird sie strafen?

Wenn einer von Euch es wüsste, er würde es hindern. Und der Regent würde nicht dulden, dass so etwas geschähe in seiner Regentschaft. Und auch ich werde dem entgegentreten, wo ich kann. Doch wenn weder Ihr, noch der Adhipatti, noch ich es erführen ...

Häuptlinge von Lebak, wer doch soll dann Recht thun in Bantan-Kidul?

Höret auf mich, wenn ich Euch sagen werde, wie dann Recht wird gethan werden.

Es kommt eine Zeit, dass unsere Frauen und Kinder wehklagen werden bei dem Herrichten unseres Totenkleides, und wer da vorbeigeht, wird sagen: »Da ist ein Mensch gestorben.« Dann wird, wer da ankommt in den Dörfern, Nachricht bringen von dem Tode desjenigen, der gestorben ist, und der ihn beherbergt, wird ihn fragen: »Wer war der Mann, der gestorben ist?« Und man wird sagen:

»Er war gut und rechtfertig. Er sprach Recht und verstiess den Kläger nicht von seiner Thür. Er hörte geduldig an, wer zu ihm kam, und gab wieder, was genommen war. Und wer den Pflug nicht treiben konnte durch den [115]Grund, weil ihm der Büffel aus dem Stall geholt war, dem half er suchen nach dem Büffel. Und wo die Tochter geraubt war aus dem Hause der Mutter, suchte er den Dieb und brachte die Tochter wieder. Und wo man gearbeitet hatte, vorenthielt er den Lohn nicht, und er nahm die Früchte denen nicht ab, die den Baum gepflanzt hatten. Er kleidete sich nicht mit dem Kleide, das andere decken musste, noch nährte er sich mit Nahrung, die dem Armen gehörte.«

Dann wird man sagen in den Dörfern: »Allah ist gross, Allah hat ihn zu sich genommen. Sein Wille geschehe ... es ist ein guter Mensch gestorben.«

Doch ein andermal wird der Vorübergehende stillstehen vor einem Hause und fragen: »Was ist dies, dass der Gamlang schweigt und der Gesang der Mädchen?« Und wiederum wird man sagen: »Da ist ein Mann gestorben.«

Und wer rundreist in den Dörfern, wird am Abend sitzen bei seinem Gastherrn, und um ihn her die Söhne und Töchter des Hauses und die Kinder derer, die das Dorf bewohnen, und er wird sagen:

»Da starb ein Mann, der gelobte, rechtfertig zu sein, und er verkaufte das Recht dem, der ihm Geld gab. Er düngte seinen Acker mit dem Schweisse des Arbeiters, den er abgerufen hatte vom Acker der Arbeit. Er vorenthielt dem Arbeitsmann seinen Lohn und er nährte sich mit der Nahrung des Armen. Er ist reich geworden von der Armut der andern. Er hatte viel Goldes und Silber und edle Steine in Menge, doch der Bebauer des Landes, der in der Nachbarschaft wohnt, wusste den Hunger seines Kindes nicht zu stillen. Er hatte ein Lächeln wie ein glücklicher Mensch, doch man hörte Zähneknirschen von dem Kläger, der Recht suchte. Es war Zufriedenheit auf seinem Gesicht, doch keine Milch in den Brüsten der Mütter, die säugten.«

Dann werden die Bewohner der Dörfer sagen: »Allah ist gross ... wir fluchen niemandem!«

Häupter von Lebak, einst sterben wir alle! [116]

Was wird da gesagt werden in den Dörfern, wo wir Gewalt hatten? Und was von den Vorübergehenden, die das Begräbnis ansehen?

Und was werden wir antworten, wenn nach unserem Tode eine Stimme spricht zu unserer Seele und fragt: »Warum ist da Weinen in den Feldern, und warum verbergen sich die Jünglinge? Wer nahm die Ernte aus den Scheuern und aus den Ställen den Büffel, der das Feld pflügen sollte? Was hast du mit dem Bruder gethan, den ich dir zu bewachen gab? Warum ist der Arme traurig und flucht der Fruchtbarkeit seiner Frau?«

Hier hielt Havelaar wieder inne, und nach kurzem Schweigen fuhr er im einfachsten Ton von der Welt und als sei von nichts die Rede gewesen, das Eindruck machen musste, fort:

—Ich wünsche sehr, in gutem Einvernehmen mit Euch zu leben, und darum ersuche ich Euch, mich als einen Freund zu betrachten. Wer geirrt haben mag, kann sich eines milden Urteils von meiner Seite versehen, denn da ich selbst so manches Mal irre, werde ich nicht streng sein ... wenigstens nicht in den gewöhnlichen Dienstvergehen oder Nachlässigkeiten. Allein, wo Nachlässigkeit zur Gewohnheit werden sollte, werde ich ihr entgegentreten. Über Vergehen gröberer Art ... über Erpressung und Unterdrückung spreche ich nicht. So etwas wird nicht vorkommen, nicht wahr, m’nheer de Adhipatti?

—O nein, m’nheer de Assistent-Resident, so etwas wird nicht vorkommen in Lebak.

—Wohl dann, Ihr Herren Häuptlinge von Bantan-Kidul, lasset es uns eine Freude sein, dass unsere Abteilung so zurückgeblieben und so arm ist. Wir haben Schönes zu thun. Wenn Allah uns am Leben erhält, werden wir Sorge tragen, dass Wohlfahrt einzieht. Der Grund ist fruchtbar genug und die Bevölkerung willig. So jeder im Genuss seiner Mühen gelassen wird, unterliegt es keinem Zweifel, dass binnen kurzer Zeit die Bevölkerung zunehmen wird, so an [117]Seelenzahl wie an Besitzungen und an Gesittung, denn das geht meistens Hand in Hand. Ich ersuche Euch nochmals, mich als einen Freund anzusehen, der Euch helfen wird, wo er kann, vor allem, wo es sich darum handelt, Unrecht entgegenzutreten. Und hiermit halte ich mich Eurer Mitwirkung sehr anempfohlen.

Ich werde Euch die empfangenen Berichte über Landbau, Viehzucht, Polizei und Gerichtspflege mit meinen Anordnungen zurückgeben lassen.

Häupter von Bantan-Kidul! Ich habe gesprochen. Ihr könnet zurückkehren, ein jeder nach seiner Wohnung. Ich grüsse Euch alle sehr!«——


Er verneigte sich, bot dem alten Regenten den Arm und geleitete ihn über das Erbe nach dem Wohnhaus, wo Tine ihn auf der Vorgalerie erwartete.


—Kommen Sie, Verbrugge, gehen Sie noch nicht nach Hause! Kommen Sie ... ein Glas Madeira! Und ... ja, das muss ich wissen, Rhaden Djaksa, höret einmal!

So rief Havelaar, als alle Häuptlinge nach vielen Verbeugungen sich anschickten, nach ihren Wohnungen zurückzukehren. Auch Verbrugge war im Begriff, das Erbe zu verlassen, kehrte jedoch mit dem Djaksa zurück.

—Tine, ich möchte Madeira trinken, Verbrugge auch. Djaksa, lasst hören, was habt Ihr doch dem Kliwon über meinen Jungen gesagt?

—Mintah ampong ... d. i.: ich bitte um Verzeihung ... mynheer de Assistent-Resident, ich betrachtete sein Haupt, weil mynheer gesprochen hatte.

—I was denn! was hat sein Kopf damit zu thun? Ich weiss selbst schon nicht mehr, was ich gesagt habe.

—Mynheer, ich sagte zu dem Kliwon ...

Tine trat an die Gruppe heran; es wurde über ihren kleinen Max gesprochen. [118]

—Mynheer, ich sagte zu dem Kliwon, dass der junge Herr ein Königskind wäre.

Das that Tine wohl: sie fand es auch!

Der Adhipatti besah den Kopf des Kleinen, und in der That, auch er sah auf dem Scheitel den doppelten Haarwirbel, der nach dem Aberglauben auf Java bestimmt ist, dereinst eine Krone zu tragen.

Da die Etiquette nicht zuliess, dass man dem Djaksa einen Platz anbot in Gegenwart eines Regenten, nahm er Abschied, und man war einige Zeit beieinander, ohne etwas zu berühren, das zum »Dienst« in Beziehung stand. Doch auf einmal—und also im Widerspruch mit dem in so hohem Masse höflichen Volkscharakter—fragte der Regent, ob gewisse Gelder, die der Steuerkollekteur zu gute hatte, nicht ausbezahlt werden könnten.

—O nein, rief Verbrugge, mynheer de Adhipatti wissen doch, dass dies nicht eher geschehen kann, als bis er Rechenschaft abgelegt hat.

Havelaar spielte mit Max. Doch es zeigte sich, dass dies ihn nicht abhielt, auf dem Gesicht des Regenten zu lesen, dass Verbrugges Antwort ihm wider den Strich ging.

—Nun, Verbrugge, lassen Sie uns keine Schwierigkeiten machen, sagte er. Und er liess einen Schreiber vom Bureau rufen. Wir wollen das nur ausbezahlen ... der Rechenschaftsbericht wird schon für gut befunden werden.

Nachdem der Adhipatti sich zurückgezogen hatte, sagte Verbrugge, der sich gern an die »Staatsblätter« hielt:

—Aber, M’nheer Havelaar, das geht nicht! Des Kollekteurs Rechenschaftsbericht ist noch immer zur Prüfung in Serang ... wenn nun ein Manco sich herausstellt?

—Dann lege ich es drauf, sagte Havelaar.

Verbrugge konnte es nicht begreifen, welchem Umstande dies dem Steuerkollekteur erwiesene weitgehende Entgegenkommen zuzuschreiben war. Der Schreiber kam alsbald mit einigem Schriftsatz zurück. Havelaar zeichnete und sagte, dass man Eile hinter die Auszahlung setzen solle [119]

—Verbrugge, ich will Ihnen sagen, warum ich dies thue! Der Regent hat keinen Deut im Hause: sein Schreiber hat es mir gesagt; und zudem ... das brüske Fragen! Die Sache ist deutlich. Er selbst hat das Geld nötig, und der Kollekteur will es ihm vorschiessen. Ich übertrete lieber auf eigene Verantwortung eine Form, als dass ich einen Mann von seinem Range und in seinen Jahren in der Verlegenheit lassen sollte. Schliesslich, Verbrugge, es wird in Lebak greulich Missbrauch getrieben mit der Amtsgewalt. Das müssen Sie wissen. Wissen Sie’s?

Verbrugge schwieg. Er wusste es.

—Ich weiss es, fuhr Havelaar fort, ich weiss es! Ist nicht M’nheer Slotering gestorben im November? Nun, den Tag nach seinem Tode hat der Regent Volk aufgerufen, um seine Sawahs zu bearbeiten ... ohne Bezahlung! Sie hätten dies wissen müssen, Verbrugge. Wussten Sie’s?

Dieses wusste Verbrugge nicht.

—Als Kontrolleur hätten Sie es wissen müssen! Ich weiss es, fuhr Havelaar fort. Da liegen die Monatsaufstellungen von den Distrikten—und er wies auf einen Packen Schriftwerk, das er in der Versammlung erhalten hatte—sehen Sie, ich habe nichts geöffnet. Darin sind unter anderm enthalten die Angaben über für den Hauptplatz zum Herrendienst gelieferte Arbeiter. Nun, sind diese Angaben richtig?

—Ich habe sie noch nicht gesehen ...

—Ich auch nicht! Aber doch frage ich: sind sie richtig? Waren die Angaben vom vorigen Monat richtig?

Verbrugge schwieg.

—Ich will’s Ihnen sagen: Sie waren falsch! Denn es war dreimal mehr Volk aufgerufen, um für den Regenten zu arbeiten, als die Bestimmungen bezüglich Herrendienstes zulassen, und dies durfte man natürlich in den Aufstellungen nicht angeben. Ist es wahr, was ich sage?

Verbrugge schwieg. [120]

—Auch die Aufstellungen, die ich heute empfing, sind falsch, fuhr Havelaar fort. Der Regent ist arm. Die Regenten von Bandung und Tjiandjur sind Glieder des Geschlechts, von dem er das Haupt ist. Der von Tjiandjur hat nur den Rang eines Tommongong, unser Regent ist Adhipatti, und dennoch erlauben ihm, weil Lebak kein Land für Kaffee ist und ihm also keine Emolumente aufbringt, seine Einkünfte nicht, in Glanz und Pracht zu wetteifern mit einem einfachen Dhemang in Preanger, der den Steigbügel halten würde, wenn seine Vettern zu Pferde steigen. Ist das wahr?

—Ja, so ist es.

—Er hat nichts als sein Gehalt, und darauf liegt eine Kürzung zur Abbezahlung eines Vorschusses, den die Regierung ihm gegeben hat, als er ... wissen Sie’s?

—Ja, ich weiss es.

—Als er eine neue Moschee bauen lassen wollte, wozu viel Geld nötig war. Obendrein, viele Glieder seiner Familie ... wissen Sie’s?

—Ja, ich weiss es.

—Viele Glieder seiner Familie—die ja eigentlich nicht in Lebak zu Hause ist und darum auch beim Volk kein Ansehen hat—scharen sich wie eine Plünderbande um ihn und pressen ihm Geld ab. Ist das wahr?

—Es ist die Wahrheit, sagte Verbrugge.

—Und wenn seine Kasse leer ist, was öfters vorkommt, nehmen sie in seinem Namen der Bevölkerung ab, was ihnen ansteht. Ist dies so?

—Ja, es ist so.

—Ich bin also gut unterrichtet, doch darüber später. Der Regent, der in die Jahre kommt und den Tod fürchtet, wird von der Sucht beherrscht, sich durch Gaben an Geistliche verdienstlich zu machen. Er giebt viel Geld aus für Reisekosten von Pilgern nach Mekka, die ihm allerlei Lumpereien zurückbringen, Reliquien, Talismans und Djimats. Ist es nicht so?

—Ja, das ist wahr. [121]

—Nun, durch alles das ist er so arm. Der Dhemang von Parang-Kudjang ist sein Schwiegersohn. Wo der Regent aus Scham vor seinem Range nicht zu nehmen wagt, ist es dieser Dhemang—doch er ist es nicht allein—der dem Adhipatti den Hof macht, indem er Geld und Gut von der armen Bevölkerung erpresst und die Leute von ihren eigenen Reisfeldern wegholt, um sie vor sich her zu treiben nach den Sawahs des Regenten. Und dieser ... ach, ich will ja glauben, dass er gern anders möchte, aber die Not zwingt ihn, Gebrauch zu machen von solchen Mitteln. Ist dies alles nicht wahr, Verbrugge?

—Ja, es ist wahr, sagte Verbrugge, der mehr und mehr einzusehen begann, dass Havelaar einen scharfen Blick hatte.

—Ich wusste, sagte dieser weiter, dass er kein Geld im Hause hatte, als er soeben über die Abrechnung mit dem Unterkollekteur zu reden anfing. Sie haben heute morgen gehört, dass es mein Vorsatz ist, meine Pflicht zu thun. Unrecht dulde ich nicht, bei Gott, ich dulde es nicht!

Und er sprang auf, und in seinem Ton lag nun etwas ganz anderes, als am Tage vorher bei seinem offiziellen Eide.

—Doch, fuhr er fort, ich will meine Pflicht thun mit Milde. Ich will nicht zu peinlich forschen, was geschehen ist. Doch was von heute ab geschieht, fällt unter meine Verantwortung, dafür werde ich Sorge tragen! Ich hoffe hier lange zu bleiben. Wissen Sie, Verbrugge, dass herrlich schön ist, wozu wir berufen sind? Doch wissen Sie auch, dass ich alles, was ich Ihnen soeben sagte, eigentlich von Ihnen hätte hören müssen? Ich kenne Sie ebensogut, wie ich weiss, welche Leute ‚garem glap‘, d. h. Schmuggelsalz machen an der Südküste, um das scheussliche Monopol zu umgehen. Sie sind ein braver Mensch ... auch das weiss ich. Doch warum haben Sie mir nicht gesagt, dass hier so vieles verkehrt ist? Während zweier Monate sind Sie dienstthuender Assistent-Resident gewesen und obendrein sind Sie hier [122]schon lange als Kontrolleur ... Sie mussten es also wissen, nicht wahr?

—M’nheer Havelaar, ich habe niemals gedient unter jemandem wie Sie. Sie haben etwas besonderes, nehmen Sie es mir nicht übel.

—Durchaus nicht! Ich weiss wohl, dass ich nicht bin wie andere Menschen, doch was thut das zur Sache?

—Insoweit hat es damit zu thun, als Sie einem Begriffe und Vorstellungen mitteilen, die früher nicht bestanden.

—Nein, die eingeschlummert waren durch den verfluchten offiziellen Schlendrian, der seinen Stil sucht in »ich habe die Ehre« und die Ruhe seines Gewissens in der »hohen Zufriedenheit der Regierung«. Nein, Verbrugge! lästern Sie nicht sich selbst! Sie brauchen von mir nichts zu lernen. Habe ich Ihnen zum Beispiel heute morgen in der Sebah etwas Neues erzählt?

—Nein, Neues nichts, doch Sie sprachen anders als andere ...

—Ja, das kommt daher ... dass meine Erziehung etwas verwahrlost ist: ich rede frei von der Leber. Aber Sie sollten mir sagen, warum Sie so still geschwiegen haben zu allem, was Verkehrtes geschah in Lebak.

—Ich habe noch nie so die Empfindung gehabt von einer Initiative. Überdies, alles das ist immer so gewesen in dieser Gegend.

—Ja, ja, das weiss ich wohl! Es kann nicht jeder ein Prophet oder Apostel sein, das Holz würde teuer werden durchs Kreuzigen! Aber Sie wollen mir doch wohl helfen, alles ins rechte Lot zu bringen? Sie wollen doch wohl Ihre Pflicht thun?

—Gewiss! Vor allem unter Ihnen. Doch nicht jeder würde das so streng fordern, noch es selbst gut aufnehmen, und dann kommt man so leicht in die Position jemandes, der gegen Windmühlen kämpft.

—Nein! Dann sagen die, die das Unrecht lieben, [123]weil sie davon leben, dass es kein Unrecht gäbe, um das Vergnügen zu haben, Sie und mich zu Don Quixotes machen zu können und zugleich ihre Windmühlen in Drehung zu erhalten. Doch, Verbrugge, Sie hätten nicht auf mich warten brauchen, um Ihre Pflicht zu thun! M’nheer Slotering war ein tüchtiger und ehrlicher Mann: er wusste, was da vorging, er missbilligte es und setzte sich dagegen zur Wehr ... sehen Sie hier!

Havelaar nahm aus einem Portefeuille zwei Bogen Papier, und sie Verbrugge hinhaltend, sagte er:

—Wessen Hand ist dies?

—Das ist die Hand M’nheer Sloterings.

—Richtig! Nun, das sind die ersten Niederschriften von Notas, offenbar Gegenstände enthaltend, worüber er mit dem Residenten sprechen wollte. Da lese ich ... sehen Sie: 1) Über den Reisbau. 2) Über die Wohnungen der Dorfhäuptlinge. 3) Über die Eintreibung der Landrenten u. s. w. Dahinter stehen zwei Ausrufungszeichen. Was wollte M’nheer Slotering damit sagen?

—Wie kann ich das wissen? rief Verbrugge.

Ich weiss es! Das bedeutet, dass viel mehr Landrenten aufgebracht werden, als in die Landeskasse fliessen. Doch ich werde Ihnen dann etwas zeigen, das wir beide verstehen, weil es in Buchstaben und nicht in Zeichen geschrieben ist. Sehen Sie:

»12) Über den Missbrauch, der von den Regenten und niedrigeren Häuptlingen mit der Bevölkerung getrieben wird. (Über das Halten verschiedener Wohnungen auf Kosten der Bevölkerung u. s. w.)«

Ist das deutlich? Sie sehen, dass der Herr Slotering wohl einer war, der »Initiative« schätzte und selbst kannte. Sie hätten sich also ihm anschliessen können. Hören Sie weiter:

»15) Dass viele Personen von den Familien und Bediensteten der inländischen Häuptlinge auf den Auszahlungslisten figurieren, die in der That nicht teilnehmen an den Kulturarbeiten, sodass die Vorteile [124]hiervon ihnen anheimfallen, zum Schaden der wirklich beteiligt gewesenen. Auch werden sie in den unrechtmässigen Besitz von Sawahfeldern gesetzt, während diese allein denen zukommen, die Anteil haben an der Kultur.«

Hier habe ich eine andere Nota: und zwar in Bleistift. Sehen Sie mal, auch darin steht etwas sehr Deutliches:

»Die Verminderung des Volksstandes zu Parang-Kudjang ist allein zuzuschreiben dem weitgehenden Missbrauch, dem die Bevölkerung ausgesetzt ist.«

Was sagen Sie davon? Sehen Sie wohl, dass ich nicht so excentrisch bin, wie es scheint, wenn ich daran gehe, Recht zu schaffen? Sehen Sie nun, dass auch andere dies thaten?

—Es ist wahr, sagte Verbrugge, der Herr Slotering hat über all diese Dinge mehrfach mit dem Residenten gesprochen.

—Und was folgte darauf?

—Dann wurde der Regent gerufen: es wurde abouchiert ...

—Jawohl, mündlich verhandelt! Und weiter?

—Der Regent leugnete gewöhnlich alles. Dann mussten Zeugen kommen ... niemand wagte, gegen den Regenten zu zeugen ... ach, M’nheer Havelaar, diese Dinge bieten soviel Schwierigkeiten!

Der Leser wird, noch ehe er mein Buch ausgelesen hat, ebensogut wie Verbrugge gewahr werden, warum diese Dinge als so besonders schwierig sich erwiesen.

—Mynheer Slotering hatte viel Ärgernis deswegen, fuhr Verbrugge fort, er schrieb scharfe Briefe an die Häuptlinge ...

—Ich habe sie gelesen ... heute nacht, sagte Havelaar.

—Und ich habe ihn mehrfach sagen hören, dass er, wenn keine Änderung einträte, und wenn der Resident nicht »durchgriffe«, sich direkt an den Generalgouverneur wenden [125]würde. Dies hat er auch den Häuptlingen selbst gesagt auf der letzten Sebah, der er präsidierte.

—Da würde er sehr verkehrt gehandelt haben. Der Resident war sein Chef, den er auf keinen Fall umgehen durfte. Und warum sollte er das auch? Es ist doch nicht anzunehmen, dass der Resident von Bantam Unrecht und Willkür gutheissen wird?

—Gutheissen ... nein! Aber man klagt nicht gern bei der Regierung einen Häuptling an.

—Ich klage nie gern jemanden an, wer es auch sei, doch wenn es sein muss, einen Häuptling so gut wie einen andern. Doch von Anklagen ist nun hier, Gott sei Dank, noch keine Rede! Morgen besuche ich den Regenten. Ich werde ihm die Unrechtmässigkeit einer ungesetzlichen Herrschaftsübung vor Augen führen, vor allem, wo es sich handelt um den Besitz von armen Menschen. Doch in Abwartung der gehörigen Einrenkung werde ich ihm in seinen wirklich heiklen Verhältnissen zur Seite stehen, so gut ich kann. Sie begreifen nun doch wohl, weshalb ich dem Kollekteur das Geld sofort habe auszahlen lassen, nicht wahr? Auch habe ich die Absicht, die Regierung zu ersuchen, sie möge den Regenten von der Tilgung seines Vorschusses auf dem Erlasswege entbinden. Und Sie, Verbrugge, ersuche ich, mit mir vereint zu thun, was unsere Pflicht ist. So lange es geht, mit Sanftmut, doch wenn es sein muss, ohne Furcht! Sie sind ein ehrlicher Mann, das weiss ich, doch Sie sind schüchtern. Reden Sie fortan tapfer heraus, wie die Dinge liegen, advienne que pourra! Werfen Sie die Halbheit von sich, bester Kerl ... und nun: bleiben Sie bei uns zum Essen: wir haben holländischen Blumenkohl in Büchse ... doch alles ist sehr einfach, denn ich muss sehr sparsam sein ... ich bin arg zurückgekommen in puncto Geld: die Reise nach Europa, begreifen Sie? Komm, Max ... sapperlot, Junge, was wirst du schwer!

Und mit Max auf der Schulter, gefolgt von Verbrugge, trat er ein in die Binnengalerie, wo Tine sie am gedeckten [126]Tisch erwartete, der, wie Havelaar gesagt hatte, wirklich sehr einfach war! Duclari, der kam, um Verbrugge zu fragen, ob er noch vor dem Mittagmahl nach Hause zurückkehren werde oder nicht, wurde mit zu Tische genötigt, und wenn dem Leser mit etwas Abwechslung in meiner Erzählung gedient ist, so sei er auf das folgende Kapitel verwiesen, worin ich mitteile, was so alles gesprochen wurde bei diesem Mahle. [127]

Neuntes Kapitel.

Ich gäbe viel darum, Leser, wenn ich recht wüsste, wie lange ich wohl eine Heldin in der Luft schweben lassen könnte, bis du, bei der Beschreibung eines Schlosses, mein Buch mutlos aus der Hand legen würdest, ohne abzuwarten, bis das Weib auf den Boden gekommen ist. Wenn ich in meiner Geschichte so einen Luftsprung nötig hätte, würde ich vorsichtshalber doch immer nur das erste Stockwerk als Ausgangspunkt ihres Sprunges wählen, und ein Schloss, von dem es wenig zu berichten gäbe. Sei aber vorläufig ruhig: Havelaars Haus hatte keine Etage, und die Heldin meines Buches—du lieber Himmel, die liebe, treue, anspruchslose Tine eine Heldin!—ist niemals aus einem Fenster gesprungen.

Wenn ich das vorige Kapitel schloss mit der Verheissung grösserer Abwechslung im folgenden, so war dies eigentlich mehr ein oratorischer Kniff und mehr um einen Schluss zu haben, der gut »klappte«, als dass ich wirklich meinte, dass das folgende Kapitel allein »als Abwechslung« Wert haben sollte. Ein Autor ist eitel wie ... ein Mann. Sprich Übles von seiner Mutter oder von der Farbe seiner Haare, sage, er habe einen amsterdamschen Accent—was ein Amsterdamer niemals zugeben wird—vielleicht verzeiht er dir diese Dinge. Aber ... rühre niemals nur an die Aussenseite des untergeordnetsten Teiles einer Nebensache von etwas, das mal bei seinem Geschreib gelegen hat ... denn das vergiebt er dir [128]nicht! Wenn du also mein Buch nicht schön findest und du begegnest mir mal, thue dann so, als ob wir uns nicht kennten.

Nein, selbst so ein Kapitel »zur Abwechslung« kommt mir durch das Vergrösserungsglas meiner Autoreneitelkeit höchst belangreich und gar unentbehrlich vor, und wenn du es überschlügest und darnach nicht nach Gebühr eingenommen wärest von meinem Buch, würde ich nicht säumen, dir dies Überschlagen vorzuhalten als Ursache, dass du mein Buch nicht recht beurteilen konntest, denn du hättest just das Essentielle nicht gelesen. So würde ich—denn ich bin Mann und Autor—jedes Kapitel für essentiell halten, das du in unverzeihlichem Leserleichtsinn überschlagen.

Ich stelle mir vor, dass deine Frau fragt: Ist denn an dem Buch was »dran«? Und du sagst zum Beispiel—horribile auditu für mich—mit dem Wortreichtum, der verheirateten Männern eigen ist:

—Hm ... so ... ich weiss noch nicht.

Holla, Barbar, lies weiter! Das Bedeutungsvolle steht just vor der Thür. Und mit bebenden Lippen starre ich dich an und messe die Dicke der umgeschlagenen Blätter und ich suche auf deinem Gesicht nach dem Widerschein des Kapitels, das »so schön« ist ...

Nein, sage ich, da ist er noch nicht. Gleich wird er aufspringen und, ausser sich, irgend etwas umarmen, seine Frau vielleicht ...

Doch du liesest weiter. Das »schöne Kapitel« muss vorbei sein, dünkt mich. Du bist nicht im mindesten aufgesprungen, hast nichts und niemanden umarmt ...

Und schon dünner wird das Teil Blätter unter deinem rechten Daumen, und schon meine Hoffnung ärmer auf die Umarmung ... ja, wahrhaftig, ich hatte gar Anspruch erhoben auf eine Thräne!

Und du hast den Roman ausgelesen bis dahin, »wo sie sich kriegen«, und du sagst—eine andere Form von Gesprächigkeit im Ehestande—gähnend: [129]

—So ... so! Es ist ein Buch, das ... hm! Ach, sie schreiben soviel im Augenblick!

Aber weisst du denn nicht, Untier, Tiger, Europäer, Leser, dass du da eine Stunde zugebracht hast mit Knabbern auf meinem Geiste wie auf einem Zahnstocher? Mit Nagen und Kauen an Fleisch und Bein von deinem Geschlecht? Menschenfresser, darin steckte meine Seele, meine Seele, die du zermahlen hast, wie eine Kuh ihr vorher vertilgtes Gras! Es war mein Herz, was du da aufgeschlürft hast wie eine Leckerei! Denn in dieses Buch hatte ich dieses Herz und diese Seele niedergelegt, und es fielen so viel Thränen auf diese Handschrift, und mein Blut wich aus den Adern in dem Masse als ich fortschrieb, und ich gab dir dies alles und du kaufst es für wenige Stüber ... und du sagst: »hm!«

Der Leser begreift, dass ich hier nicht von meinem Buch rede.

»Es war man, dass ich sagen wollte«, um mit Abraham Blankaart zu reden ...


—Wer ist das, Abraham Blankaart? fragte Luise Rosemeyer, und Fritz erzählte es ihr, womit mir ein grosser Gefallen gethan war, denn das gab mir Gelegenheit, mal aufzustehen und, für diesen Abend wenigstens, der Vorlesung ein Ende zu machen. Du weisst, dass ich Makler in Kaffee bin—Lauriergracht Nr. 37—und dass ich für mein Fach alles über habe. Jeder wird also ermessen können, wie wenig ich zufrieden war mit der Arbeit von Stern. Ich hatte auf Kaffee gehofft, und er gab uns ... ja, der Himmel weiss, was!

Mit seinem Thema hat er uns schon drei Kränzchenabende aufgehalten, und, was das ärgste ist, die Rosemeyers finden es schön. So sagen sie wenigstens. Wenn ich eine Bemerkung für nötig halte, beruft er sich auf Luise. Ihre [130]Zustimmung, sagt er, wiege ihm schwerer, als aller Kaffee von der Welt, und überdies »wenn das Herz mir glüht ...« u. s. w.—Siehe diese Tirade auf Seite soundsoviel, oder lieber, siehe sie nicht.—Da steh ich denn und weiss nicht, was thun! Das Paket von Shawlmann ist ein wahres Trojanisches Pferd. Auch Fritz ist davon angestochen. Er hat, wie ich bemerke, Stern geholfen, denn dieser Abraham Blankaart ist viel zu holländisch für einen Deutschen. Sie sind beide so eingenommen von sich, so superklug, dass ich wahrhaftig in Verlegenheit gerate wegen der Sache. Das Schlimmste ist, dass ich mit Gaafzuiger einen Vertrag eingegangen bin, nach welchem ein Buch herausgegeben wird, das von den Kaffeeauktionen handeln muss—ganz Niederland wartet darauf—und da geht mir nun der Stern einen ganz andern Weg hinaus! Gestern sagte er: »Beruhigen Sie sich, alle Wege führen nach Rom. Warten Sie nur erst den Schluss von der Einleitung ab«—ist das alles noch Einleitung?—»ich verspreche Ihnen, dass schliesslich die Sache hinauslaufen wird auf Kaffee, Kaffee, auf nichts als Kaffee! Denken Sie an Horatius, fuhr er fort, hat nicht er schon gesagt: omne tulit punctum, qui miscuit ... Kaffee mit was anderm? Handeln Sie selbst nicht ebenso, wenn Sie Zucker und Milch in Ihre Tasse thun?«

Und dann muss ich schweigen. Nicht weil er recht hat, sondern weil ich der Firma Last & Co. gegenüber verpflichtet bin, dafür Sorge zu tragen, dass der alte Stern nicht Busselinck & Waterman in die Finger falle, die ihn schlecht bedienen würden, weil es niederträchtige Pfuscher sind.

Bei dir, Leser, schütte ich mein Herz aus, und damit du nach dem Lesen von Sterns Geschreibsel—hast du’s wirklich gelesen?—deinen Zorn nicht ausgiessen mögest über ein unschuldiges Haupt—denn ich frage dich, wer wird einen Makler nehmen, von dem man ‚Menschenfresser‘ geschimpft wird?—so ist mir daran gelegen, dass du überzeugt bist von meiner Unschuld. Ich kann doch diesen Stern nicht aus der Firma meines Buches drängen, nun die Sachen [131]einmal so weit gediehen sind, dass Luise Rosemeyer, wenn sie aus der Kirche kommt—die Jungens scheinen ihr aufzulauern—fragt, ob er nicht ein bisschen früh kommen werde heute abend, um recht viel von Max und Tine vorzulesen!

Doch da du das Buch gekauft hast oder Leihgeld dafür bezahlt im Vertrauen auf den honetten Titel, der etwas Solides erwarten lässt, so erkenne ich deine Ansprüche auf was Gutes für dein Geld an, und darum schreibe ich selbst nun wieder ein paar Kapitel. Du bist nicht in dem Kränzchen von den Rosemeyers, Leser, und also glücklicher daran als ich, der alles mit anhören muss. Dir steht es frei, die Kapitel überzuschlagen, die nach deutscher Übergeschnapptheit riechen, und dich allein abzugeben mit dem, was von mir geschrieben ist, von mir, einem honetten Manne und Makler in Kaffee.

Mit Befremden habe ich aus Sterns Schreiberei entnommen—und aus Shawlmanns Paket hat er mir nachgewiesen, dass es wahr sei—dass in der Abteilung Lebak kein Kaffee gepflanzt wird. Dies ist sehr verkehrt, und ich werde meine Mühe reichlich belohnt erachten, wenn die Regierung durch mein Buch auf diesen Fehler aufmerksam gemacht wird. Nach den Papieren von Shawlmann möchte es scheinen, dass der Boden in diesen Gegenden für die Kaffeekultur nicht geeignet ist. Aber in diesem Umstande liegt durchaus keine Entschuldigung, und ich behaupte, dass man sich unverzeihlicher Pflichtversäumnis schuldig macht gegenüber Niederland im allgemeinen und den Kaffeemaklern im besonderen, ja, gegenüber den Javanen selbst, indem man nicht diesen Boden verändert—der Javane hat doch nichts anderes zu thun—oder, wenn man das nicht zu können vermeint, die Menschen, die da wohnen, nicht nach anderen Gebieten schickt, wo der Boden wohl gut ist für Kaffee.

Ich sage niemals etwas, das ich nicht gut erwogen habe, und darf behaupten, dass ich hier mit Sachkenntnis spreche, da ich über diesen Gegenstand reiflich nachgedacht habe, vor [132]allem seit ich die Predigt von Pastor Wawelaar in dem Bittgottesdienst für die Bekehrung der Heiden hörte.

Es war Mittwoch abend. Du musst wissen, Leser, dass ich meine Pflichten als Vater ängstlich erfülle und dass mir die sittliche Aufziehung meiner Kinder sehr am Herzen liegt. Da nun Fritz seit einiger Zeit in Ton und Manieren etwas angenommen hat, das mir nicht gefällt—es kommt alles von dem verwünschten Paket!—so habe ich ihn einmal gut unter die Finger genommen und zu ihm gesagt:

»Fritz, ich bin nicht mit dir zufrieden! Ich habe dir stets das Gute vorgehalten, und doch weichst du vom rechten Wege ab. Du bist dünkelhaft und widerhaarig, und du machst Verse, und du hast Betsy Rosemeyer einen Kuss gegeben. Die Furcht des Herrn ist der Anfang aller Weisheit, du musst also die Rosemeyers nicht küssen und musst nicht so furchtbar dünkelhaft sein. Sittenlosigkeit leitet zum Verderben, Junge. Lies in der Schrift und achte mal auf diesen Shawlmann. Er hat die Wege des Herrn verlassen: nun ist er arm und wohnt auf einer kleinen Kammer ... da hast du die Folgen von Unsittlichkeit und schlechtem Betragen! Er hat unpassende Artikel in der »Indépendance« geschrieben und hat die »Aglaja« fallen lassen.—So geht es, wenn man weise ist in seinen eigenen Augen. Er weiss nun nicht einmal, wie spät es ist, und sein kleiner Junge hat nur eine halbe Hose an. Bedenke, dass dein Körper ein Tempel Gottes ist, und dass dein Vater stets hart hat arbeiten müssen für den Unterhalt—das ist die Wahrheit!—Schlage also das Auge nach oben und trachte darnach, dass du zu einem achtbaren Makler aufgewachsen bist, wenn ich auf meine alten Tage nach Driebergen gehe. Und sieh dir doch all die Menschen an, die nicht auf guten Rat hören wollen, die Religion und Sittlichkeit mit Füssen treten, und spiegle dich in diesen Menschen. Und stelle dich nicht mit Stern in eine Reihe, dessen Vater so reich ist und der immer genug Geld haben wird, wenn er auch schliesslich nicht Makler werden will und ab und zu auch mal etwas Unrechtes thut. Bedenke doch, dass alles [133]Böse seine Strafe findet: da sieh dir wieder diesen Shawlmann an, der keinen Winterrock hat und aussieht wie so’n Schauspieler. Gieb doch gut acht in der Kirche und rücke nicht hin und her auf der Bank, als wenn du Langeweile hättest, Junge, denn ... was muss Gott davon denken? Die Kirche ist Sein Heiligtum, weisst du wohl? Und laure nicht jungen Mädchen auf, wenn es aus ist, denn das macht die ganze Erbauung zu Schanden. Bringe auch Marie nicht zum Lachen, wenn ich beim Essen aus der Schrift lese. Das passt sich nicht in einem achtbaren Haushalt. Du hast auch Figuren auf Bastians Löschblatt gemalt, als er wieder mal nicht da war—weil er manchmal die Gicht hat—das hält die Leute auf dem Kontor von der Arbeit ab, und es steht in Gottes Wort, dass solche Thorheiten zum Verderben führen. Der Shawlmann hat auch allerlei unnütze Sachen gemacht, als er noch jung war: er hat als Kind auf dem Westermarkt einen Griechen geschlagen ... natürlich: nun ist er faul, dünkelhaft und kränklich, siehst du? Mache also nicht immer soviel dummes Zeug mit Stern, Junge, und bedenke, dass sein Vater ja reich ist. Thu so, als sähest du es nicht, wenn er dem Buchhalter Gesichter schneidet. Und wenn er nach Kontorschluss sich mit Versen abgiebt, so sage ihm mal so beiläufig, dass er es hier bei uns so gut hat und dass Marie Pantoffeln für ihn gestickt hat mit echter Florseide. Frage ihn—weisst du, so nebenbei!—ob er glaubt, dass sein Vater zu Busselinck & Waterman gehen wird, und sage ihm, dass das niederträchtige Pfuscher sind. Siehst du, das ist man seinem Nächsten schuldig—so bringst du ihn auf den guten Weg, meine ich,—und ... all das Versemachen ist doch Albernheit. Sei doch brav und gehorsam, Fritz, und zupfe das Dienstmädchen nicht am Rock, wenn es Thee aufs Kontor bringt, und mache mir keine Schande, denn dann verschüttet es, und Apostel Paulus sagt, dass nimmer ein Sohn seinem Vater Verdruss bereiten soll. Ich besuche zwanzig Jahre die Börse und kann sagen, dass ich geachtet bin dort an meinem Pfeiler. Höre also auf meine Vermahnungen, [134]Fritz, und sei brav und hole deinen Hut und zieh deinen Rock an und geh mit mir in die Betstunde, das wird dir gut thun!«

So habe ich gesprochen, und ich bin überzeugt, dass ich Eindruck auf ihn gemacht habe, vor allem da Pastor Wawelaar zum Text seiner Rede gewählt hatte: die Liebe Gottes, sichtbar aus Seinem Zorn gegen Ungläubige, nach Anleitung der Vermahnung Sauls durch Samuel: I. Sam. XV, Vers 23 b.

Beim Anhören dieser Predigt dachte ich fortwährend daran, was für ein himmelhoher Unterschied doch zwischen menschlicher und göttlicher Weisheit ist. Ich sagte schon, dass in dem Paket von Shawlmann unter viel unnützem Zeug doch auch dieses und jenes war, das ins Auge fiel durch Solidität der Beweisführung. Aber, ach, wie wenig hat doch so etwas zu bedeuten, wenn man es vergleicht mit einer Sprache wie die von Pastor Wawelaar! Und nicht aus eigner Kraft—denn ich kenne Wawelaar und halte ihn für einen, der wahrlich nicht hoch fliegt—nein, durch die Kraft, die von oben kommt. Dieser Unterschied kam um so deutlicher zum Vorschein, als er etliche Punkte berührte, die auch von Shawlmann behandelt waren, denn ihr habt gesehen, dass in seinem Paket viel über Javanen und andere Heiden vorkam. Fritz sagt, dass die Javanen keine Heiden sind, doch ich nenne jeden, der einen verkehrten Glauben hat, einen Heiden. Denn ich halte mich an Jesum Christum, den Gekreuzigten, und das wird jeder anständige Leser wohl auch thun.

Sowohl weil ich aus Wawelaars Vortrag meine Meinung geschöpft habe bezüglich der totalen Unzulässigkeit der Einziehung der Kaffeekultur zu Lebak, worauf ich gleich zurückkommen werde, als auch, weil ich als ehrlicher Mann nicht will, dass der Leser absolut nichts erhält für sein Geld, werde ich hier einige Bruchstücke aus der Predigt mitteilen, die ganz besonders treffend waren.

Er hatte kurz Gottes Liebe aus den angezogenen Textworten bewiesen und war sehr schnell zu dem Punkte übergegangen, [135]worauf es hier eigentlich ankam, nämlich auf die Bekehrung der Javanen, Malayen und wie all das Volk da mehr heissen möge. Hört, was er davon sagte:

»So, meine Geliebten, war der herrliche Beruf von Israel—er meinte das Ausrotten der Bewohner von Kanaan—und so ist der Beruf von Niederland! Nein, es soll nicht gesagt werden, dass das Licht, das uns bestrahlt, unter den Scheffel gestellt werde, noch auch, dass wir geizig seien im Mitteilen des Brotes des ewigen Lebens! Werfet das Auge auf die Eilande des indischen Oceans, bewohnt von Millionen und Millionen Kindern des verstossenen Sohnes—und des zu Recht verstossenen Sohnes des edlen, gottgefälligen Noah! Da kriechen sie umher in den eklen Schlangenhöhlen heidnischer Unwissenheit, da beugen sie das schwarze, kraushaarige Haupt unter das Joch von eigennutzbeseelten Priestern! Da beten sie zu Gott unter Anrufung eines falschen Propheten, der ein Greuel ist vor den Augen des Herrn! Und, Geliebte, es sind da selbst solche, die, als wäre es nicht genug, einem falschen Propheten zu gehorchen, selbst solche sind da, die einen andern Gott, was sage ich, die Götter anbeten, Götter von Holz oder Stein, die sie selbst gemacht haben nach ihrem Bilde, schwarz, abscheulich, mit platten Nasen und teufelhaft! Ja, Geliebte, beinahe verhindern mich Thränen, hier fortzufahren, noch tiefer ist die Verderbtheit von Hams Geschlechte! Es sind welche unter ihnen, die keinen Gott kennen, unter welchem Namen auch! Die meinen, dass es genügend sei, den Gesetzen zu gehorchen der bürgerlichen Gesellschaft! Die ein Erntelied, worin sie Freude ausdrücken über den Erfolg ihrer Arbeit, als hinreichenden Dank betrachten an das Höchste Wesen, das diese Ernte reifen liess! Es leben da Verirrte, meine Geliebten—wenn solch eine greuliche Existenz Leben genannt werden mag!—da findet man Wesen, die behaupten, dass es genügend sei, Frau und Kinder lieb zu haben und seinem Nächsten nicht zu nehmen, was einem nicht gehört, um des Abends ruhig das Haupt niederlegen zu können zum Schlafe! Schaudert euch nicht [136]bei diesem Bilde? Krampft euer Herz sich nicht zusammen bei dem Gedanken, welches das Los sein wird von all diesen Bethörten, sobald die Posaune ertönen wird, die die Toten aufruft zur Scheidung in Gerechte und Ungerechte? Höret ihr nicht—ja, ihr hört es, denn aus den verlesenen Worten des Textes habt ihr gesehen, dass euer Gott ist ein mächtiger Gott und ein Gott der gerechten Rache—ja, ihr höret das Krachen der Gebeine und das Prasseln der Flammen in dem ewigen Gehenna, wo Heulen ist und Zähneklappern! Da, da brennen sie und vergehen nicht, denn ewig ist die Strafe! Da leckt die Flamme mit nimmer befriedigter Zunge an den heulenden Schlachtopfern des Unglaubens! Da stirbt der Wurm nicht, der ihre Herzen durch und durch nagt, doch ohne sie zu vernichten, auf dass da stets ein Herz zu nagen übrig bleibe in der Brust des Gottlosen! Sehet, wie man das schwarze Fell dem ungetauften Kinde abzieht, das, kaum geboren, hinweggeschleudert wird von der Mutter Brust in den Pfuhl der ewigen Verdammnis ...«

Da fiel eine Frau in Ohnmacht.

»Doch, Geliebte«, fuhr Pastor Wawelaar fort, »Gott ist ein Gott der Liebe! Er will nicht, dass der Sünder verloren gehe, sondern dass er selig werde mit der Gnade, in Christo, durch den Glauben! Und darum ist Niederland auserlesen, von den Unseligen zu erretten, was zu erretten ist! Dazu hat Er in Seiner unerforschlichen Weisheit einem Lande, klein von Umfang, doch gross und stark durch die Kenntnis Gottes, Macht gegeben über die Bewohner dieser Gebiete, auf dass sie durch das heilige, nimmer genug gepriesene Evangelium gerettet werden von den Strafen der Hölle! Die Schiffe von Niederland befahren die grossen Wasser und bringen Bildung, Religion, Christentum den verirrten Javanen! Nein, unser glückliches Niederland begehrt nicht für sich allein die Seligkeit: wir wollen sie auch mitteilen den unglücklichen Geschöpfen an fernen Stranden, die da gebunden liegen in den Fesseln des Unglaubens, des Aberglaubens und der Sittenlosigkeit! Die Betrachtung der Pflichten, die hinsichtlich [137]dessen auf uns ruhen, wird den siebenten Teil meiner Rede ausmachen.«

Denn was voraufging, war der sechste. Unter den Pflichten, die wir in Ansehung dieser armen Heiden zu erfüllen haben, wurden genannt:

Ich weiss wohl, dass ich diesen letzten Punkt schon unter No. 1 genannt habe, aber er wiederholte ihn, und dieser Überfluss scheint mir im Feuer der Rede wohl erklärlich.

Doch, Leser, hast du auf No. 5 e acht gegeben? Nun, just dieser Vorschlag erinnerte mich so an die Kaffeeauktionen und an die vorgegebene Unfruchtbarkeit des Bodens in Lebak, dass es dir nun nicht mehr so befremdlich scheinen wird, wenn ich versichere, dass dieser Punkt seit Mittwoch abend mir keinen Augenblick mehr aus den Gedanken gewichen ist. Pastor Wawelaar hat die Berichte der Missionare vorgelesen; niemand kann ihm also eine gründliche Sachkenntnis abstreiten. Nun, wenn er mit diesen Rapporten vor sich und mit dem Auge auf Gott behauptet, dass viel Arbeit günstig wirken muss auf die Eroberung der javanischen Seelen für das Reich Gottes, dann kann ich doch wohl constatieren, dass ich nicht so ganz abseits aller Wahrheit spreche, wenn ich sage, dass zu Lebak sehr gut Kaffee gepflanzt werden kann. Und stärker noch: dass vielleicht das Höchste Wesen just darum allein diesen Boden für die Kaffeekultur ungeeignet gemacht hat, um durch die Arbeit, die nötig sein wird, um einen anderen Grund dahin zu verpflanzen, die Bevölkerung dieser Gegend empfänglich zu machen für die Seligkeit.

Ich hoffe doch, dass mein Buch dem König vor Augen kommt, und dass alsbald durch grössere Auktionen es klärlich werden möge, wie eng die rechte Kenntnis Gottes mit dem wohlerfassten Interesse des ganzen Bürgertums verknüpft ist! Seht doch nur, wie der einfältige und demütige Wawelaar ohne alle irdische Weisheit—der Mann hat niemals einen Fuss in die Börse gesetzt—aber durch die Gnade des Evangeliums, die ihm vorleuchtet und eine Lampe [139]ist auf seinem Pfad, mir, Makler in Kaffee, da auf einmal einen Wink giebt, der für ganz Niederland nicht nur wichtig ist, sondern der sogar mich in den Stand setzen wird, wenn Fritz gut aufpasst—er hat leidlich still gesessen in der Kirche—vielleicht fünf Jahre früher nach Driebergen zu gehen. Ja, Arbeit, Arbeit, das ist mein Losungswort! Arbeit für den Javanen, das ist mein Grundsatz! Und meine Grundsätze sind mir heilig.

Ist nicht das Evangelium das höchste Gut? Geht wohl etwas über die Seligkeit? Ist es also nicht meine Pflicht, diese Menschen selig zu machen? Und wenn, als Hülfsmittel hierzu, Arbeit nötig ist—ich selbst habe zwanzig Jahre die Börse besucht!—dürfen wir dann dem Javanen Arbeit versagen, wo seine Seele derer so dringend bedürftig ist, um später nicht zu brennen? Selbstsucht würde es sein, schändliche Selbstsucht, wenn wir nicht alle Versuche daran wendeten, um diese armen, verirrten Menschen zu bewahren vor der schrecklichen Zukunft, die Pastor Wawelaar so beredt geschildert hat. Es ist eine Frau in Ohnmacht gefallen, als er von dem schwarzen Kind sprach ... vielleicht hatte sie einen kleinen Jungen, der etwas dunkel aussah. Frauen sind so!

Und sollte ich nicht auf Arbeit dringen, ich, der ich selbst vom Morgen bis zum Abend ans Geschäft denke? Ist nicht schon dieses Buch—das Stern mir so sauer macht—ein Beweis, wie gut ich es meine mit der Wohlfahrt unseres Vaterlandes und wie ich dafür alles übrig habe? Und wenn ich so schwer arbeiten muss, ich, der ich getauft bin—in der Amstelkirche—sollte man dann von dem Javanen nicht verlangen können, dass er, der seine Seligkeit erst verdienen soll, die Hände rühre?

Wenn die Vereinigung—von Nr. 5e meine ich—zu stande kommt, schliesse ich mich ihr an. Und ich werde auch die Rosemeyers hierfür zu gewinnen suchen, weil die Zuckerraffinadeure auch daran interessiert sind, obgleich ich nicht glaube, dass sie zweifelsohne sind in ihren Gesinnungen [140]—die Rosemeyers meine ich—denn sie halten ein katholisches Mädchen.

Wie es auch sei, ich werde meine Pflicht thun. Das habe ich mir selbst gelobt, als ich mit Fritz von der Betstunde nach Hause ging. In meinem Hause wird dem Herrn gedient, dafür werde ich sorgen. Und dies mit um so mehr Eifer, da ich je länger desto mehr einsehe, wie weise doch alles geordnet ist, wie liebreich die Wege sind, die wir geführt werden an Gottes Hand, und wie Er uns erhalten will für das ewige und für das zeitliche Leben, denn der Boden von Lebak kann sehr gut geeignet gemacht werden für die Kaffeekultur. [141]

Zehntes Kapitel.

Wiewohl ich, wo Grundsätze in Frage stehen, niemanden schone, so habe ich doch die Einsicht, dass ich bei Stern einen andern Weg einschlagen muss als bei Fritz, und da zu erwarten ist, dass mein Name—die Firma ist Last & Co., doch ich heisse Droogstoppel: Batavus Droogstoppel—sich mit einem Buch verknüpfen wird, in dem Sachen vorkommen, die sich nicht mit der Achtung vertragen, die jeder anständige Mann und Makler sich selber schuldig ist, so erachte ich es für meine Pflicht, hier mitzuteilen, wie ich mir Mühe gab, auch den Stern auf den rechten Weg zurückzubringen.

Ich habe ihm nicht vom Herrn gesprochen—denn er ist Lutheraner—aber ich habe auf sein Gemüt und auf sein Ehrgefühl gewirkt. Man sehe, wie ich das angefangen habe, und beachte dabei, wie weit man es mit Menschenkenntnis bringt. Ich hatte ihn sagen hören: »auf Ehrenwort!« und fragte, was er darunter verstände.

—Nun, sagte er, dass ich meine Ehre verpfände für die Wahrheit dessen, was ich sage.

—Das ist sehr viel, entgegnete ich. Sind Sie so fest überzeugt, dass Sie immer die Wahrheit sagen?

—Ja, erklärte er, die Wahrheit sage ich stets. Wenn die Brust mir erglüht ...

Der Leser weiss den Rest.

—Das ist ja sehr schön, sagte ich, und ich that so einfältig, als ob ich es glaubte. [142]

Aber hierin lag gerade die Feinheit der Schlinge, die ich ihm legte mit der Absicht, den jungen Herrn—ohne Gefahr zu laufen, den alten Stern in die Hände von Busselinck & Waterman fallen zu sehen—doch einmal gut in seine Schranken zu verweisen und ihn merken zu lassen, wie gross der Abstand ist zwischen einem, der eben anfängt—macht sein Vater gleichwohl grosse Geschäfte—und einem Makler, der zwanzig Jahre die Börse besucht hat. Es war mir nämlich bekannt, dass er allerhand Versekram aus dem Kopf wusste—er sagt: »auswendig«—und da Verse stets Lügen enthalten, war ich mir gewiss, dass ich ihn sehr schnell auf Unwahrheiten ertappen würde. Das dauerte denn auch nicht lange. Ich sass im Zimmer nebenan, und er war im Salon ... wir haben nämlich einen Salon. Marie war beim Stricken, und er sollte ihr was erzählen. Ich hörte andächtig zu, und als er zu Ende war, fragte ich ihn, ob er das Buch besässe, in dem das Ding stände, das er da soeben hergeleiert hätte. Er sagte ja und brachte es mir. Es war ein Band der Werke von einem gewissen Heine. Am andern Morgen gab ich ihm—Stern, meine ich—die folgenden

Betrachtungen

bezüglich der Wahrheitsliebe jemandes, der das folgende Machwerk von Heine einem jungen Mädchen vorsagt, das im Salon sitzt und strickt.

Auf Flügeln des Gesanges,

Herzliebchen, trag’ ich dich fort ...

»Herzliebchen«? Marie Ihr »Herzliebchen«? Wissen Ihre Eltern davon und Luise Rosemeyer? Ist es wohl in der Ordnung, dies einem Kinde zu sagen, das durch so etwas seiner Mutter doch sehr leicht ungehorsam werden kann, indem es sich in den Kopf setzt, dass es mündig ist, da man es »Herzliebchen« nennt? Was bedeutet das »Forttragen auf Ihren Flügeln«? Sie haben keine Flügel und Ihr Gesang auch nicht. Probieren Sie es mal über die Lauriergracht, die gar nicht einmal breit ist. Aber hätten Sie auch Flügel, dürfen [143]Sie dann wohl einem Mädchen, das noch nicht eingesegnet ist, dergleichen Dinge vorreden? Und wenn auch das Kind die Einsegnung schon hinter sich hätte, was bedeutet das Anerbieten, zusammen wegfliegen zu wollen? Pfui!

Fort nach den Fluren des Ganges,

Dort weiss ich den schönsten Ort.

Gehen Sie meinetwegen allein dahin und mieten sich ein Zimmer, aber nehmen Sie nicht ein Mädchen mit, das seiner Mutter im Haushalt helfen muss! Aber Sie meinen das auch gar nicht so! Zunächst haben Sie nie den Ganges gesehen und können also nicht wissen, ob da gut leben ist. Soll ich Ihnen mal sagen, wie die Sachen stehen? Das sind alles Lügen, die Sie nur darum erzählen, weil Sie sich bei all dem Versezeug zum Sklaven von Mass und Reim machen. Wenn die erste Zeile vielleicht auf Senf, Zuckerteig oder Leberthran geendigt hätte, so hätten Sie Marie gefragt, ob Sie mitginge nach Genf, Braunschweig oder Teheran, und so weiter. Sie sehen also, dass Ihre vorgeschlagene Reiseroute nicht ernsthaft gemeint war, und dass alles hinausläuft auf ein albernes Wortgeklingel ohne Sinn und Verstand. Wie wär’s, wenn Marie nun wirklich Lust kriegte, die verrückte Reise zu machen? Ich rede nun gar nicht einmal von der unbequemen Methode, die Sie da vorschlagen! Doch sie ist, dem Himmel sei Dank, zu verständig, um Verlangen nach einem Lande zu haben, von dem Sie sagen:

Dort liegt ein rotblühender Garten

Im stillen Mondenschein;

Die Lotosblumen erwarten

Ihr trautes Schwesterlein.

Die Veilchen kichern und kosen,

Und schaun nach den Sternen empor;

Heimlich erzählen die Rosen

Sich duftende Märchen ins Ohr.

Was würden Sie in diesem Garten bei Mondenschein mit Marie anstellen wollen, Stern? Ist das sittlich, ist das in der Ordnung, ist das anständig? Wollen Sie, dass ich beschämt dastehe, so wie Busselinck & Waterman, mit denen [144]kein anständiges Handelshaus etwas zu thun haben will, weil ihre Tochter weggelaufen ist, und weil es niederträchtige Pfuscher sind? Was sollte ich wohl zur Antwort geben, wenn man mich auf der Börse fragte, warum meine Tochter so lange in dem roten Garten geblieben ist? Denn das begreifen Sie doch, dass niemand mir glauben würde, wenn ich sagte, dass sie dahin müsste, um den Lotosblumen einen Besuch abzustatten, die, wie Sie sagen, sie schon lange erwarteten. Ebenso würde jeder verständige Mensch mich auslachen, wenn ich so albern wäre, zu sagen: Marie ist da in dem roten Garten—warum rot und nicht gelb oder lila?—um zu horchen auf das Quasseln und Quatschen der Veilchen oder auf die Märchen, die die Rosen sich heimlich ins Ohr blasen. Könnte so was auch wahr sein, was hätte Marie davon, wenn es doch so heimlich geschähe, dass sie nichts davon verstehen könnte? Doch Lügen sind das eben, faule Lügen! Und hässlich sind sie auch noch dazu, denn nehmen Sie doch mal einen Bleistift und zeichnen eine Rose mit einem Ohr, und sehen Sie sich mal an, wie das aussieht! Und was bedeutet das, dass diese »Märchen« so »duftend« sind? Soll ich es Ihnen mal sagen in der Sprache, die man im gewöhnlichen Leben spricht? Das will sagen ... na, noch gelinde gesagt ... dass ein Lüftchen von diesen albernen Märchen ausgeht ... da haben Sie’s!

Es hüpfen herbei und lauschen

Die frommen, klugen Gazell’n;

Und in der Ferne rauschen

Des heiligen Stromes Well’n.

Dort wollen wir niedersinken

Unter dem Palmenbaum,

Und Lieb’ und Ruhe trinken

Und träumen seligen Traum.

Können Sie nicht nach »Artis« gehen, unserm Zoologischen Garten—Sie haben doch wohl Ihrem Vater geschrieben, dass ich Mitglied bin?—sagen Sie, kommen Sie denn nicht mit »Artis« aus, wenn Sie denn durchaus fremde Tiere sehen wollen? Müssen es gerade Gazellen am Ganges [145]sein, die doch im wilden Zustande nicht so gut zu beobachten sind, wie hinter einem sauber geteerten Eisengitter? Warum nennen Sie diese Tiere fromm und klug? Das letztere lasse ich ja gelten—sie machen wenigstens solche dummen Verse nicht—aber: fromm? Was heisst das! Ist das nicht Missbrauch getrieben mit einem heiligen Ausdruck, der nur auf Menschen vom wahren Glauben angewendet werden sollte? Und dann der »heilige Strom«? Thun Sie recht, Marie Dinge zu erzählen, die sie zur Heidin zu machen geeignet sind? Dürfen Sie sie in der Überzeugung wankend machen, dass es kein anderes heiliges Wasser giebt denn das der Taufe, und keinen anderen heiligen Strom denn den Jordan? Ist das nicht Untergrabung von Sittlichkeit, Tugend, Religion, Christentum und Anstand?

Denken Sie über dies alles einmal nach, Stern! Ihr Vater ist ein sehr achtbares Haus, und ich bin mir gewiss, dass er es gut findet, dass ich so auf Ihr Gemüt wirke, und dass er gern mit jemandem Geschäfte macht, der Tugend und Religion hochhält. Ja, Grundsätze sind mir heilig, und ich scheue mich nicht, geradeaus zu sagen, was ich meine. Machen Sie also kein Geheimnis aus dem, was ich Ihnen sage, schreiben Sie ruhig an Ihren Vater, dass Sie hier in einer soliden Familie sind und dass ich Sie immer so aufs Gute weise. Und fragen Sie sich selbst einmal, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie zu Busselinck & Waterman gekommen wären! Da würden Sie auch solche Verse aufgesagt haben, und da hätte man nicht auf Ihr Gemüt gewirkt, weil es niederträchtige Pfuscher sind. Schreiben Sie das ruhig an Ihren Vater, denn wenn Grundsätze in Frage stehen, schone ich niemanden. Da würden die Mädchen mitgegangen sein mit Ihnen nach dem Ganges, und dann lägen Sie da nun vielleicht unter dem Baum im nassen Gras, während Sie nun, weil ich Sie so väterlich verwarnte, hier bei uns bleiben können in einem anständigen Hause. Schreiben Sie das alles an Ihren Vater und sagen Sie ihm, dass Sie so dankbar sind, dass Sie zu uns gekommen sind, und dass ich so gut für Sie [146]sorge, und dass die Tochter von Busselinck & Waterman durchgegangen ist, und grüssen Sie ihn sehr von mir, und schreiben Sie ihm, dass ich noch 1/16 Prozent von den Maklerspesen unter deren Gebot heruntergehen werde, weil ich die Unterbieter nicht ausstehen kann, die einem Konkurrenten das Brot aus dem Munde stehlen durch günstigere Bedingungen.

Und thun Sie mir doch den Gefallen, in Ihren Vorlesungen aus Shawlmanns Paket mehr etwas Solides zu bringen. Ich habe darin Aufstellungen gesehen von der Kaffeeproduktion der letzten zwanzig Jahre aus allen Residentschaften auf Java: lesen Sie doch so etwas mal vor! Sehen Sie, dann können die Rosemeyers, die in Zucker machen, einmal zu hören kriegen, was da vor sich geht in der Welt. Und Sie müssen auch die Mädchen und uns alle, wie Sie das an einer Stelle des Buches thun, nicht so als Kannibalen hinstellen, die etwas von Ihnen aufgefressen haben ... das ist nicht in der Ordnung, mein bester Junge. Glauben Sie doch jemandem, der weiss, was in der Welt passiert! Ich habe Ihren Vater schon vor seiner Geburt bedient—seine Firma meine ich, nein ... unsere Firma meine ich: Last & Co.—früher hiess sie Last & Meyer, aber die Meyers sind schon lange raus. Sie begreifen also, dass ich es gut mit Ihnen meine. Und spornen Sie Fritz an, dass er besser aufpasst, und lehren Sie ihn nicht Verse machen, und thun Sie so, als wenn Sie es nicht sehen, wenn er dem Buchhalter Gesichter schneidet und all solche Dinge mehr. Geben Sie ihm ein gutes Beispiel, da Sie doch so viel älter sind, und suchen Sie ein ernstes und würdevolles Wesen in ihn zu pflanzen, denn er soll Makler werden.

Ich bin Ihr väterlicher Freund

Batavus Droogstoppel.

(Firma: Last & Co., Makler in Kaffee,

Lauriergracht No. 37.) [147]

Elftes Kapitel.

»Es war man, dass ich sagen wollte«—um mit Abraham Blankaart zu reden—dass ich dieses Kapitel als »essentiell« betrachte, weil wir darin nach meiner Meinung Havelaar noch besser kennen lernen, und er scheint nun doch einmal der Held der Geschichte zu sein.

—Tine, was sind das für Gurken? Liebes Kind, mache niemals Essig an Früchte! Gurken mit Salz, Ananas mit Salz, Pompelmuscitrone mit Salz, alles, was aus der Erde kommt, mit Salz. Essig an Fisch und an Fleisch ... es steht was darüber im ‚Liebig‘ ...

—Bester Max, fragte Tine lachend, was denkst du denn, wie lange wir hier sind? Diese Gurken sind von Mevrouw Slotering.

Und Havelaar hatte Mühe, sich zu erinnern, dass er erst gestern hier angekommen war und dass Tine mit dem besten Willen noch nichts hätte herrichten können in Küche oder Haushalt. Er selbst war schon lange in Rangkas-Betung! Hatte er nicht die ganze Nacht zugebracht mit Lesen im Archiv, und war nicht schon allzuviel durch seine Seele gegangen, das mit Lebak in Verbindung stand, als dass er sich so schnell daran erinnern konnte, dass er erst seit gestern hier war? Tine begriff dies wohl: sie begriff ihn stets!

—Ach ja, das ist wahr, sagte er, aber trotzdem musst du mal was von Liebig lesen. Verbrugge, haben Sie viel von Liebig gelesen? [148]

—Wer ist das? fragte Verbrugge.

—Das ist jemand, der viel über das Einlegen von Gurken geschrieben hat. Auch hat er entdeckt, wie man Gras in Wolle verwandelt ... Sie verstehen doch?

—Nein, sagten Verbrugge und Duclari zugleich.

—Nun, die Sache selbst war doch immer bekannt: Treiben Sie ein Schaf auf die Weide ... und Sie werden sehen! Doch er hat die Art und Weise erforscht, wie das geschieht. Andere Gelehrte sagen wieder, dass er wenig davon wisse. Nun ist man daran, nach Mitteln zu suchen, um das ganze Schaf bei der Herstellung überschlagen zu können ... o, diese Gelehrten! Molière kannte sie wohl ... ich schätze Molière nach mancher Richtung. Wenn Sie wollen, werden wir ein paarmal in der Woche uns zu Leseabenden vereinigen. Tine macht auch mit, wenn Max zu Bett ist.

Duclari und Verbrugge gefiel dies. Havelaar sagte, dass er nicht viele Bücher besässe, aber darunter wären doch Schiller, Goethe, Heine, Vondel, Lamartine, Thiers, Say, Malthus, Scialoja, Smith, Shakespeare, Byron ...

Verbrugge sagte, dass er nicht Englisch lese.

—Aber, zum Teufel, Sie sind doch über die Dreissig! Was haben Sie denn all die Zeit über getrieben? Das muss doch sehr beschwerlich für Sie auf Padang gewesen sein, wo soviel Englisch gesprochen wird. Haben Sie Miss Mata-api gekannt?

—Nein, ich kenne den Namen nicht.

—Ihr Name war das auch nicht. Sie nannten sie Miss Mata-api—d. h.: »Jungfer Feuerauge«—weil ihre Augen so sprühten. Das war aber 43. Sie wird nun wohl verheiratet sein ... es ist schon so lange her! Niemals habe ich so etwas gesehen ... ja doch, in Arles ... da müssen Sie mal hingehen! Das ist das Schönste, was ich gefunden habe auf all meinen Reisen. Es giebt nichts auf der Welt, dünkt mich, das Ihnen so klar die Schönheit in abstracto darstellt ... als sichtbares Bild des Wahren, des [149]Unstofflich-Reinen ... als eine schöne Frau. Glauben Sie mir, gehen Sie mal hin nach Arles und Nîmes ...

Duclari, Verbrugge und—ich muss es zugeben—auch Tine konnten ein lautes Lachen nicht unterdrücken bei dem Gedanken, so auf einmal von der Westecke Javas hinüberzuspringen nach Arles oder Nîmes im Süden von Frankreich. Havelaar, der wahrscheinlich in seiner Phantasie auf dem Turme stand, der von den Sarazenen auf dem Kreisbau um die Arena von Arles errichtet ist, musste sich einigermassen anstrengen, bis er den Grund dieser Heiterkeit heraus hatte, und darauf fuhr er fort:

—Nun ja, ich meine ... wenn Sie da mal in die Gegend kommen. So etwas bin ich niemals irgendwo wieder begegnet. Ich war an Enttäuschungen gewöhnt beim Anschauen alles dessen, was so sehr in den Himmel erhoben wird. Sehen Sie sich zum Beispiel die Wasserfälle an, von denen man so viel spricht und schreibt. Was mich betrifft, ich habe wenig oder nichts empfunden zu Tondano, zu Maros, zu Schaffhausen, am Niagara. Man muss die Nase in seinen Baedeker stecken, um dabei das vorgeschriebene Mass von Bewunderung über »soundsoviel Fuss Fall« und »soundsoviel Kubikfuss Wasser in der Minute« bei der Hand zu haben, und wenn dann die Ziffern hoch sind, muss man »Donnerwetter!« sagen. Ich werde mir niemals wieder Wasserfälle ansehen, wenigstens nicht, wenn ich deshalb einen Umweg machen soll. Diese Dinge sagen mir nichts! Bauwerke sprechen mir eine gewaltige Sprache, besonders, wenn es Blätter aus der Geschichte sind. Doch hier spricht eine Empfindung ganz anderer Art mit! Man ruft die Vergangenheit wach und lässt die Schatten des Dahingegangenen Revue passieren. Darunter sind sehr abscheuliche, und man findet also, wie interessevoll das manchmal auch sein mag, bei seinen Wahrnehmungen nicht immer Befriedigung für das Schönheitsgefühl—ungemischte wenigstens niemals! Und ohne Herbeirufung der Geschichte ist wohl viel Schönes an manchen Bauwerken, aber es wird gewöhnlich verdorben durch [150]Führer—von Papier, von Fleisch und Bein ... es kommt auf eins heraus!—Führer, die euch den Eindruck rauben durch ihr eintöniges: »diese Kapelle ist errichtet vom Bischof von Münster im Jahre 1423 ... die Säulen sind 63 Fuss hoch und ruhen auf ... ich weiss nicht was, und es kommt mir auch gar nicht darauf an. Das Gebabbel langweilt einen, denn man fühlt, dass man dann genau dreiundsechzig Fuss Bewunderung bereit halten muss, wenn man nicht in mancher Augen als Vandale gelten will oder als Geschäftsreisender ... ach, ist das eine Rasse!

—Die Vandalen?

—Nein, die andern. Nun könnte man sagen: so behalte deinen Führer im Sack, wenn er gedruckt ist, und lass ihn draussen stehen oder schweigen im andern Fall! Doch abgesehen davon, dass man, um zu einem einigermassen richtigen Urteil zu gelangen, wirklich manchmal der Erläuterung bedarf, man würde, könnte man auch immer die Erläuterung entbehren, doch vergeblich im Gebäude an sich etwas suchen, das länger als einen sehr kurzen Augenblick unser Verlangen nach dem Schönen beantwortet, weil es keine Bewegung zeigt. Dies gilt, glaube ich, auch für Werke der Skulptur und der Malerei. Natur ist Bewegung. Wachstum, Hunger, Denken, Fühlen ist Bewegung ... Stillstand ist der Tod! Ohne Bewegung kein Schmerz, kein Gefühl, kein Empfinden! Versuchen Sie einmal, dazusitzen ohne sich zu rühren, Sie werden sehen, wie schnell Sie einen gespenstischen Eindruck auf jeden andern machen und selbst auf Ihre eigene Vorstellung. Beim schönsten Tableau-vivant verlangt man sehr schnell nach einer folgenden Nummer, wie herrlich auch der Eindruck zu Anfang war. Da nun unsere Schönheitssucht mit einem Blick auf das Schöne nicht befriedigt ist, sondern das Bedürfnis nach einer sich anschliessenden Reihe von Augengenüssen fühlt, das Verlangen nach der Bewegung des Schönen, so macht sich ein Unbefriedigtsein fühlbar beim Anschauen dieser Art von Kunstwerken, und darum behaupte ich, dass eine schöne Frau—wenn es keine äusserliche [151]Porträtschönheit ist, die ohne Bewegung ist—dem Ideal des Göttlichen am nächsten kommt. Wie gross das Bedürfnis nach der Bewegung ist, von der ich spreche, kann man einigermassen nach dem Ekel ermessen, den eine Tänzerin, sei es selbst die Elssler oder die Taglioni, verursacht, wenn sie nach Beendigung eines Tanzes auf dem linken Bein steht und dem Publikum zugrinst.

—Das gilt hier nicht, sagte Verbrugge, denn das ist absolut hässlich.

—Das finde ich auch. Aber sie giebt es doch als schön und als Klimax auf all das Vorhergehende, worin wirklich viel Schönes gewesen sein kann. Sie giebt es als die Pointe des Epigramms, als das »aux armes!« der Marseillaise, die sie mit ihren Füssen sang, als das Rauschen der Weiden auf dem Grabe der soeben besprungenen Liebe. O, schauderhaft! Und dass auch die Zuschauer, die gewöhnlich—wie mehr oder minder wir alle—ihren Geschmack auf Gewohnheit und Nachahmung gründen, diesen Moment als den packendsten aufnehmen, ist daraus zu ersehen, dass man just dann in tosenden Beifall ausbricht, wie wenn man zu erkennen geben wollte: all das Vorhergehende war auch wohl schön, aber nun kann ich es wahrhaftig nicht länger aushalten vor Bewunderung! Sie sagten, dass diese Schlusspose absolut hässlich sei—ich sag’s ja auch!—doch woher kommt dies? Weil die Bewegung aufhielt und damit die Geschichte, die die Tänzerin erzählte. Glauben Sie mir: Stillstand ist der Tod!

—Aber, warf Duclari ein, Sie haben auch die Wasserfälle verworfen als Ausdruck des Schönen. Wasserfälle haben doch Bewegung!

—Ja, aber ... ohne Geschichte! Sie bewegen sich, doch kommen nicht von der Stelle. Sie bewegen sich wie ein Schaukelpferd, doch noch minus dem »va et vient«. Sie machen Geräusch, doch sprechen nicht. Sie rufen: hrru ... hrru ... hrru, und niemals etwas anderes: Rufen Sie mal sechstausend Jahre oder länger: hrru, hrru ... und [152]sehen Sie zu, wie wenige Sie für einen unterhaltenden Menschen ansehen werden.

—Ich will keinen Versuch machen, sagte Duclari, aber ich bin doch noch nicht mit Ihnen eins darin, dass die von Ihnen geforderte Bewegung so durchaus notwendig sein soll. Ich schenke Ihnen nun die Wasserfälle, aber ein gutes Gemälde, dünkt mich, kann doch viel ausdrücken.

—O gewiss, aber nur für einen Augenblick. Ich will versuchen, meine Meinung durch ein Beispiel klar zu machen. Es ist heute der 18. Februar ...

—O nein, sagte Verbrugge, wir haben noch Januar ...

—Nein, nein, es ist heute der 18. Februar 1587, und Sie sind im Kastell Fotheringhay eingeschlossen ...

—Ich? fragte Duclari, der nicht recht verstanden zu haben glaubte.

—Ja, Sie. Sie langweilen sich und suchen Zerstreuung. Da in der Mauer ist eine Öffnung, doch sie ist zu hoch, um hindurchsehen zu können, und das wollen Sie doch. Sie setzen Ihren Tisch davor und darauf einen Stuhl mit drei Beinen, von denen das eine etwas schwach ist. Sie sahen auf der Kirmess mal einen Akrobaten, der sieben Stühle aufeinander stellte und sich selbst darauf, mit dem Kopf nach unten. Wahnwitz und Langeweile verleiten Sie nun, ähnlich zu thun. Sie erklimmen etwas unsicher den Stuhl ... erreichen das erwünschte Ziel ... werfen einen Blick durch die Öffnung und rufen: o Gott! Und Sie fallen! Wissen Sie mir nun zu sagen, warum Sie »o Gott!« riefen und gefallen sind?

—Ich denke mir, dass das dritte Bein von dem Stuhl brach, sagte Verbrugge belehrend.

—Nun ja, das Bein brach vielleicht, aber nicht darum sind Sie gefallen. Vor jeder anderen Öffnung hätten Sie es ein Jahr lang auf diesem Stuhl ausgehalten, und nun mussten Sie fallen, und wären auch dreizehn Beine unter dem Stuhl gewesen, ja, und hätten Sie auf dem Boden gestanden.

—Nun, meinetwegen, sagte Duclari. Ich sehe, dass Sie [153]sich absolut in den Kopf gesetzt haben, mich fallen zu lassen, koste es, was es wolle. Ich liege da nun so lang ich bin ... doch ich weiss wahrhaftig nicht, warum!

—I, das ist doch sehr einfach! Sie sahen da eine Frau, schwarz gekleidet, vor einem Blocke knieend. Sie beugte das Haupt, und weiss wie Silber war der Hals, der sich vom schwarzen Sammet abhob. Und ein Mann mit einem grossen Schwert stand da, und er hielt es hoch, und sein Blick war auf den weissen Hals geheftet, und er suchte den Bogen, den sein Schwert beschreiben sollte, um da ... da, zwischen diesen Wirbeln hin, hindurchgetrieben zu werden mit Genauigkeit und Kraft ... und da fielen Sie, Duclari. Sie fielen, weil Sie das alles sahen, und darum riefen Sie: o Gott! Keineswegs, weil nur drei Beine unter Ihrem Stuhl waren. Und lange nachdem Sie aus Fotheringhay befreit waren—auf Fürsprache ihres Vetters, denke ich, oder weil es den Menschen langweilig wurde, Ihnen da länger unverpflichtet Kost zu gewähren wie einem Kanarienvogel—lange nachher, ja, bis heute noch träumen Sie wachend von dieser Frau, und im Schlafe selbst schrecken Sie auf und fallen mit schwerem Fall nieder auf Ihre Lagerstätte, weil Sie den Arm des Henkers packen wollen. Ist das nicht wahr?

—Ich will’s schon glauben, aber sicher kann ich es wahrhaftig nicht sagen, weil ich niemals zu Fotheringhay durch ein Loch in der Mauer geguckt habe.

—Gut, gut, ich auch nicht. Aber nun nehme ich ein Gemälde, das die Enthauptung der Maria Stuart darstellt. Nehmen wir an, dass die Darstellung vollkommen ist. Da hängt es, in vergoldetem Rahmen, an einer roten Schnur, wenn Sie wollen ... ich weiss, was Sie sagen wollen, gut! Nein, nein, Sie sehen den Rahmen nicht, Sie vergessen sogar, dass Sie Ihren Stock am Eingang der Galerie abgegeben haben ... Sie vergessen Ihren Namen, Ihr Kind, die Kommissmütze neuen Modells, und also alles, um nicht ein Gemälde in dem Geschauten zu sehen, sondern wirklich Maria Stuart: ganz genau wie zu Fotheringhay. Der Henker steht vollkommen [154]so, wie er wirklich gestanden haben muss, ja, ich will so weit gehen, Sie den Arm ausstrecken zu lassen, um den Schlag abzuwehren! So weit, Sie rufen zu lassen: »Lass die Frau leben, vielleicht bessert sie sich!« Sie sehen, ich gebe Ihnen vollkommen freies Spiel, was die Ausführung des Gemäldes betrifft ...

—Ja, aber was dann weiter? Ist denn der Eindruck nicht ebenso packend, als wie ich dasselbe in Wirklichkeit zu Fotheringhay sah?

—Nein, durchaus nicht, und wohl darum, weil Sie nicht auf einen Stuhl mit drei Beinen geklettert waren. Sie nehmen einen Stuhl—mit vier Beinen diesmal, und am liebsten einen Fauteuil—Sie setzen sich vor dem Gemälde nieder, um gut und lange zu geniessen—wir »geniessen« nun einmal beim Anschauen von etwas Grausigem—und, was meinen Sie, welchen Eindruck das Gemälde auf Sie macht?

—Nun, Schreck, Angst, Mitleid, Rührung—genau so wie damals, als ich durch die Öffnung in der Mauer guckte. Wir haben angenommen, dass das Gemälde ein vollkommenes sei, ich muss also davon ganz denselben Eindruck haben wie von der Wirklichkeit.

—Nein, innerhalb zwei Minuten fühlen Sie Schmerz in Ihrem rechten Arm, aus Mitgefühl für den Henker, der so lange das schwere Stück Stahl unbeweglich in die Höhe halten muss.

—Mitgefühl für den Henker?

—Ja! Mitleidenschaft, Gleichgefühl, verstehen Sie? Und zugleich mit der Frau, die da so lange in unbequemer Haltung und wahrscheinlich in unangenehmer Stimmung vor dem Blocke liegt. Sie haben noch immer Mitleid mit ihr, aber diesmal nicht, weil sie enthauptet werden soll, sondern weil man sie so lange warten lässt, ehe sie enthauptet wird, und wenn Sie noch etwas zu sagen oder zu rufen hätten, so würde es schliesslich—angenommen, dass Sie sich veranlasst fühlen, sich mit der Sache zu befassen—nichts anderes [155]sein als: »Schlag’ doch in Gottes Namen zu, Mann, das Geschöpf wartet drauf!« Und wenn Sie später das Gemälde wiedersehen und mehrfach wiedersehen, so ist gar schon der erste Eindruck: »Ist die Geschichte noch nicht vorbei? Steht er und liegt sie da noch

—Aber was ist denn für eine Bewegung in der Schönheit der Frauen in Arles? fragte Verbrugge.

—O, das ist etwas anderes! Sie spielen eine Geschichte aus in ihren Zügen. Karthago blüht und baut Schiffe auf ihrer Stirn ... höret den Hannibalsschwur gegen Rom ... da flechten sie Sehnen für die Bogen ... da brennt die Stadt ...

—Max, Max, ich glaube wahrhaftig, dass du da in Arles dein Herz verloren hast, neckte Tine.

—Ja, für einen Augenblick ... doch ich fand es wieder: ihr werdet es hören. Stellt euch vor ... ich sage nicht: da habe ich ein Weib gesehen, das so oder so schön war, nein: alle waren sie schön, und es war unmöglich, da sich Hals über Kopf zu verlieben, weil jede folgende Frau die vorige aus der Bewunderung verdrängte, und ich dachte dabei wahrhaftig an Caligula oder Tiberius—von wem erzählt man doch diese Fabel?—der dem ganzen menschlichen Geschlecht nur ein Haupt wünschte. So nämlich stieg unwillkürlich der Wunsch in mir auf, dass die Frauen zu Arles ...

—Nur ein Haupt hätten alle miteinander?

—Ja ...

—Um es abzuschlagen?

—O nein! Um ... es zu küssen auf die Stirn, wollte ich sagen, aber das ist es nicht! Nein, um unverwandt daraufhin zu schauen, und davon zu träumen, und um ... gut zu sein!

Duclari und Verbrugge fanden wahrscheinlich diesen Schluss wieder besonders eigentümlich. Aber Max bemerkte ihre Verwunderung nicht und fuhr fort:

—Denn so edel waren die Züge, dass man etwas wie Scham fühlte, nur ein Mensch zu sein und nicht ein Funke [156]... ein Strahl—nein, das wäre stofflich!... ein Gedanke! Aber ... dann sass da plötzlich ein Bruder oder ein Vater neben diesen Frauen, und ... Gott bewahre mich, ich habe eine gesehen, die sich schnäuzte.

—Ich wusste wohl, dass du wieder einen schwarzen Strich darüber ziehen würdest, sagte Tine verdriesslich.

—Kann ich dafür? Ich hätte sie lieber tot umfallen sehen! Soll so ein Mädchen sich profanieren?

—Aber, Mynheer Havelaar, wenn sie nun einmal den Schnupfen hat?

—Nein, sie durfte keinen Schnupfen haben mit solch einer Nase!

—Ja, aber ...

Als wenn der Teufel sein Spiel triebe: auf einmal musste Tine niesen ... und ehe sie daran dachte, hatte sie ihre Nase geputzt!

—Lieber Max, willst du nicht böse drum sein? fragte sie mit verhaltenem Lachen.

Er antwortete nicht. Und, wie närrisch es auch scheint oder wirklich ist ... ja, er war wirklich böse deshalb! Und was auch sonderbar klingt: Tine war erfreut darüber, dass er böse war und von ihr erheischte, dass sie mehr sei als die phönizischen Frauen zu Arles, hatte sie auch immerhin keinen Grund, stolz auf ihre Nase zu sein.

Wenn Duclari noch meinte, dass Havelaar »verrückt« sei, hätte man es ihm nicht übel deuten können, wenn er sich in dieser Meinung bestärkt fühlte bei der Wahrnehmung der kurzen Verstörtheit, die, nach dem Naseschnauben und wegen desselben, auf Havelaars Gesicht einen Augenblick zu lesen war. Aber dieser war von Karthago zurückgekehrt, und er las—mit der Schnelligkeit, mit der er lesen konnte, wenn er nicht zu weit von Hause war mit seinem Geiste—auf den Gesichtern seiner Gäste, dass sie die beiden folgenden Thesen aufstellten:

1) Wer nicht will, dass seine Frau sich die Nase putzt, ist verrückt.

[157]

2) Wer glaubt, dass eine in schönen Linien gezeichnete Nase nicht geputzt werden braucht, thut verkehrt, diesen Glauben auf Mevrouw Havelaar anzuwenden, deren Nase sich ein bisschen der Kartoffel nähert.

Die erste These liess Havelaar auf sich beruhen, aber ... die zweite!

—O, rief er, als ob er zu antworten hätte, obschon seine Gäste so höflich gewesen waren, ihre Thesen nicht auszusprechen—das will ich Ihnen erklären. Tine ist ...

—Bester Max! sagte sie flehend.

Das bedeutete: »Erzähle doch nicht den Herren, warum ich in deiner Schätzung erhaben sein müsste über Erkältung!«

Havelaar schien zu verstehen, was Tine meinte, denn er antwortete:

—Gut, Kind!—Aber wissen Sie denn auch, meine Herren, dass man sich manchmal täuscht in dem Urteil über die Rechte mancher Menschen auf stoffliche Unvollkommenheit?

Sicherlich hatten die Gäste niemals was von diesen Rechten gehört.

—Ich habe auf Sumatra ein Mädchen gekannt, fuhr er fort, die Tochter eines Datu. Nun, ich bin der Ansicht, dass sie auf diese Unvollkommenheit kein Recht hatte. Und doch habe ich sie ins Wasser fallen sehen bei einem Schiffbruch ... genau wie eine andere. Ich, ein Mann, habe ihr helfen müssen, dass sie wieder an Land kam.

—Aber ... hätte sie denn fliegen sollen wie eine Möwe?

—Freilich, oder ... nein, sie hätte keinen Körper haben sollen. Soll ich Ihnen erzählen, wie ich mit ihr bekannt wurde? Es war ’42. Ich war Kontrolleur von Natal ... sind Sie dagewesen, Verbrugge?

—Ja.

—Nun, dann wissen Sie, dass Pfefferkultur im Natalschen betrieben wird. Die Pfeffergärten liegen bei Taloh-Baleh, nördlich von Natal an der Küste. Ich musste sie inspizieren, und da ich keine Ahnung von Pfeffer hatte, nahm ich auf meiner Segelprauw einen Datu mit, der mehr davon [158]verstand. Sein Töchterchen, damals ein Kind von dreizehn Jahren, ging mit. Wir segelten die Küste entlang und langweilten uns ...

—Und da haben Sie Schiffbruch gelitten?

—O nein, es war schönes Wetter, allzu schön. Der Schiffbruch, auf den Sie hinaus wollen, passierte viel später. Sonst würde ich mich nicht gelangweilt haben. So segelten wir die Küste entlang, und es war eine Bärenhitze. So eine Prauw bietet wenig Gelegenheit, sich irgendwie zu beschäftigen, und dazu war ich gerade in einer verdriesslichen Stimmung, wozu viele Ursachen das ihrige beitrugen. Ich hatte, primo, eine unglückliche Liebe, zum zweiten eine ... unglückliche Liebe, zum dritten ... nun ja, noch etwas von der Art, u. s. w. Ach, das gehört so zum Leben. Aber obendrein befand ich mich auf einer Station zwischen zwei Anfällen von Ehrgeiz. Ich hatte mich zum König aufgeworfen und war wieder entthront. Ich war auf einen Turm geklommen und war wieder heruntergefallen ... ich will jetzt nur überschlagen, wie das kam! Genug, ich sass da in der Prauw mit saurem Gesicht und schlechtem Humor und war, was die Deutschen nennen: »ungeniessbar«. Ich fand unter anderm, dass es keine Sache sei, mich Pfeffergärten inspizieren zu lassen, und dass ich längst als Gouverneur eines Sonnensystems hätte angestellt werden müssen. Hierbei kam es mir vor wie ein moralischer Mord, dass man einen Geist wie den meinen in eine Prauw setzte mit diesem dummen Datu und seinem Kind.

Ich muss Ihnen sagen, dass ich sonst die malayischen Häuptlinge wohl leiden mochte und gut mit ihnen auszukommen wusste. Sie besitzen sogar vieles, das sie mich vorziehen lässt vor den javanischen Grossen. Ja, ich weiss wohl, Verbrugge, dass Sie darin nicht einer Meinung mit mir sind, es giebt nur wenige, die mir hier zustimmen ... aber das lasse ich nun auf sich beruhen.

Wenn ich die kleine Reise an einem andern Tage gemacht hätte—mit etwas weniger Spinneweben im Schädel, [159]meine ich—würde ich wahrscheinlich sogleich mit dem Datu ein Gespräch angefangen haben, und vielleicht hätte ich dann auch das Mädchen zum Sprechen gebracht, und das hätte mich dann gewiss gut unterhalten und ergötzt, denn ein Kind hat meistens etwas ursprüngliches ... obschon ich bekennen muss, dass ich selbst damals noch zuviel Kind war, um den Wert der Ursprünglichkeit recht schätzen zu können. Jetzt ist das anders. Nun sehe ich in jedem Mädchen von dreizehn Jahren ein Manuskript, in dem noch wenig oder nichts durchstrichen ist. Man überrascht den Autor en négligé, und das ist manchmal eine recht interessante Sache.

Das Kind reihte Korallen auf eine Schnur und schien all seine Aufmerksamkeit dabei nötig zu haben. Drei rote, eine schwarze ... drei rote, eine schwarze: es war schön!

Sie hiess Si Upi Keteh. Das bedeutet auf Sumatra soviel wie: Kleines Fräulein ... ja, Verbrugge, Sie wissen das wohl, aber Duclari hat immer auf Java gedient. Sie hiess Si Upi Keteh, doch in meinen Gedanken nannte ich sie »Gänschen« oder so ähnlich, weil ich nach meiner Schätzung so himmelhoch über sie erhaben war.

Es wurde Mittag ... Abend beinahe, und die Korallen wurden eingepackt. Das Land schob sich langsam an uns vorbei, und kleiner und kleiner wurde der Berg Ophir hinter uns. Links im Westen, über der weiten, weiten See, die keine Grenze hat bis wo Madagaskar liegt und Afrika dahinter, senkte sich die Sonne und liess ihre Strahlen in stetig stumpfer werdender Beugung über die Wogen hüpfen, und sie suchte Kühlung in der See. Wie, zum Teufel, war doch gleich das Ding?

—Was für ein Ding? Die Sonne?

—Ach, nein ... ich machte Verse in den Tagen! O, entzückend! Hören Sie einmal an:

Du fragst, warum der Ocean,

Der Natals Strand bespült,

An andern Küsten lieb und hold,

So ungestüm hier braust und grollt

Und ewig kocht und wühlt?

[160]

Du fragst—und kaum erhört im Kahn

Der Fischerknabe dich,

So blitzt sein dunkler Augenstern

Hinüber unermesslich fern,

Und westwärts weist er dich.

Und westwärts bohrt er seinen Blick

Ins Unermessene hinein,

Und zeigt dir, bis ans Firmament,

Nur Wasser, Wasser ohne End’

Und See und See allein!

Und darum peitscht der Ocean

So wild den Ufersand:

Nur See erblickst du weit umher

Und Wasser, Wasser immermehr,

Bis Madagaskars Strand!

Und manches Opfer heischte schon

Der Ocean empört,

Und manchen Schrei, erstickt im Meer,

Ihn hörten Weib und Kind nicht mehr,

Nur Gott hat ihn erhört!

Und manche Hand, in letzter Angst,

Erhob sich aus dem Grab,

Und fühlt’ und griff und sucht’ ohn’ End’,

Und suchte, dass sie Stütze fänd’,

Und sank zuletzt hinab.

Und ...

Und ... und ... ich weiss den Rest nicht mehr.

—Der ist wiederzufinden, indem man an Krygsman schreibt, Ihren Clerk zu Natal. Der hat das Übrige, sagte Verbrugge.

—Wie kommt der daran? fragte Max.

—Vielleicht aus Ihrem Papierkorb. Doch gewiss ist, dass er das Fehlende hat! Folgt nicht darauf die Legende von der ersten Sünde, die die Insel ins Meer sinken liess, durch die früher die Reede von Natal geschützt wurde? Die Geschichte von Djiwa mit den beiden Brüdern?

—Ja, das ist wahr. Diese Legende ... war keine Legende. Es war eine Parabel, die ich machte, und die vielleicht über ein paar Jahrhunderte Legende werden wird, [161]wenn Krygsman das Ding reichlich herleiert. So begannen alle Mythologien. »Djiwa« ist »Seele«, wie Sie wissen; Seele, Geist oder so etwas. Ich machte eine Frau daraus, die unvermeidliche, nichtsnutzige Eva ...

—Nun, Max, wo bleibt unser kleines Fräulein mit seinen Korallen? fragte Tine.

—Die Korallen waren eingepackt. Es war sechs Uhr, und da unter dem Äquator—Natal liegt um wenige Minuten nach Norden: wenn ich über Land nach Ayer-Bangie ging, stapfte ich zu Pferde über ihn hin ... man konnte wahrhaftig drüber stolpern!—da unter dem Äquator war sechs Uhr das Signal für Abendgedanken. Nun finde ich, dass der Mensch des Abends immer etwas besser ist—oder richtiger: weniger nichtsnutzig—als des Morgens, und das ist ganz natürlich. Morgens »nimmt man sich zusammen«, man ist Gerichtsdiener oder Kontrolleur oder ... nein, das genügt schon! Ein Gerichtsdiener »nimmt sich zusammen«, dass er nun heute mal recht schön seine Pflicht thue ... Gott, was für eine Pflicht! Wie mag das »zusammengenommene« Herz aussehen! Ein Kontrolleur—ich sage das nicht für Sie, Verbrugge!—ein Kontrolleur reibt sich die Augen aus und sieht verdriesslich dem Moment entgegen, wo er dem neuen Assistent-Residenten begegnen soll, der bei seinen paar Jahren mehr Dienstzeit ein lächerliches Übergewicht annehmen will, und von dem er so viel Sonderbares gehört hat ... auf Sumatra. Oder er muss den Tag Felder vermessen und steht in Zweifelsnöten zwischen seiner Ehrlichkeit—Sie wissen das nicht so, Duclari, weil Sie Militär sind, aber es giebt wirklich ehrliche Kontrolleure!—dann steht er da, hin und her schwankend zwischen der Ehrlichkeit und der Furcht, dass Radhen Dhemang Soundso von ihm den Schimmel zurückerbitten werde, der so guten Passgang hat. Oder auch, er muss den Tag mannhaft »ja« oder »nein« sagen auf Kabinettsschreiben No. soundsoviel. Kurz, des Morgens beim Erwachen fällt einem die Welt aufs Herz, und daran hat es seine Last, selbst wenn es stark ist. Aber des Abends hat [162]man eine Pause. Es liegen zehn volle Stunden zwischen dem Jetzt und dem Augenblick, da man seinen Dienstrock wiedersieht. Zehn Stunden: sechsunddreissigtausend Sekunden, um Mensch zu sein! Das ist jedem ein Wohlgefallen. Das ist der Augenblick, da ich zu sterben hoffe, um jenseits anzukommen mit einem inoffiziellen Gesicht. Das ist der Augenblick, wo deine Frau in deinem Gesicht etwas wiederfindet von dem, was sie gefangen nahm, als sie dich das Taschentuch behalten liess mit einem gekrönten E1 in der Ecke ...

—Und wo sie noch nicht das Recht hatte, erkältet zu sein, sagte Tine.

—Ach, necke mich nicht! Ich will nur sagen, dass man des Abends »gemütlicher« ist.

Als also die Sonne allmählich verschwand, fuhr Havelaar fort, wurde ich ein besserer Mensch. Und als erstes Anzeichen dieser Besserung möge gelten, dass ich zu dem kleinen Fräulein sagte:

»Es wird nun kühler werden.«

»Ja, Tuwan!« antwortete sie.

Doch ich beugte meine Hoheit noch tiefer zu diesem »Gänschen« nieder und fing ein Gespräch mit ihr an. Mein Verdienst war um so grösser, als sie sehr wenig antwortete. Ich hatte recht in allem, was ich sagte ... was ebenfalls verflucht langweilig wird, und mag man noch so ein eingebildeter Kerl sein.

»Würdest du das nächste Mal gern wieder mitgehen nach Taloh-Baleh?« fragte ich.

»Wie es Tuwan-Kommandeur befiehlt.«

»Nein, ich frage dich, ob du so eine Reise angenehm findest!«

»Wenn mein Vater nichts dagegen hat«, antwortete sie.

Sagen Sie, meine Herren, war es nicht, um toll zu werden? Gleichwohl, ich wurde nicht toll. Die Sonne war [163]hinunter, und ich war gemütlich genug aufgelegt, um noch nicht abgeschreckt zu werden durch soviel Dummheit. Oder besser, ich glaube, dass ich schliesslich Gefallen daran fand, meine Stimme zu hören—es giebt wenige unter uns, die nicht gern sich selbst zuhörten—allein nach meiner Stummheit den ganzen Tag über glaubte ich, nun ich endlich ins Reden gekommen war, etwas Besseres verdient zu haben, als die allzu einfältigen Antworten von Si Upi Keteh.

Ich werde ihr ein Märchen erzählen, dachte ich, dann höre ich mich selbst gleichzeitig und ich habe ihre Antworten nicht nötig. Nun wissen Sie doch, dass, ebenso wie beim Löschen eines Schiffes das zuletzt verladene Gut zuerst wieder zum Vorschein kommt, ebenso auch wir gewöhnlich den Gedanken oder die Erzählung löschen, die zuletzt verladen ist. In der »Zeitschrift für Niederländisch-Indien« hatte ich kurz vorher eine Erzählung von Jeronimus gelesen: »Der Japanische Steinhauer« ... Ach, nun erinnere ich mich auf einmal, wie ich soeben irrtümlicherweise an das Lied geraten bin, worin des Fischerknaben Blick aus »dunklem Augenstern« sich wohl gar bis zum Schielendwerden nach einer Richtung »westwärts bohrt« ... zu kurios! Das war eine Gedankenverkettung. Meine Verstörtheit an diesem Tage stand in Verbindung mit der Gefährlichkeit der Natalschen Küste ... Sie wissen, Verbrugge, dass kein Kriegsschiff die Reede anlaufen darf, vor allem nicht im Juli ... ja, Duclari, der Westmūsson ist dort im Juli am stärksten, gerade umgekehrt wie hier. Nun, das Gefährliche an dieser Reede verknüpfte sich fest mit meinem gekränkten Ehrgeiz, und dieser Ehrgeiz hängt wieder zusammen mit dem Liede über Djiwa. Ich hatte dem Residenten mehrfach den Vorschlag gemacht, zu Natal eine Seewehr herstellen zu lassen oder mindestens einen Kunsthafen in der Mündung des Flusses, mit der Absicht, den Handel in die Abteilung Natal zu leiten, die die so bedeutsamen Battahlande mit der See verbindet. Anderthalb Millionen Menschen im Binnenlande wussten keinen Absatz für ihre Produkte, weil die Natalsche Reede—und zu Recht!—[164]in einem so schlechten Rufe stand. Gleichwohl, diesen Anträgen wurde durch den Residenten nicht zugestimmt, oder wenigstens: er behauptete, dass die Regierung ihnen nicht zustimmen würde, und Sie wissen, dass ein ordentlicher Resident niemals etwas vorschlägt, von dem er nicht vorher berechnen kann, es werde der Regierung gefallen. Die Anlegung eines Hafens zu Natal widerstritt im Prinzip dem herrschenden System der Abschliessung, und weit entfernt, dass man Schiffe dahin lockte, war es selbst verboten—es sei denn, dass force majeure im Spiele war—Rahschiffe in die Reede einlaufen zu lassen. Wenn nun doch ein Schiff kam—es waren meist amerikanische Walfischfänger oder Franzosen, die Pfeffer geladen hatten in den unabhängigen Reichen der nördlichen Ecke Sumatras—liess ich mir stets durch den Kapitän einen Brief schreiben, in dem er um die Erlaubnis nachsuchte, Trinkwasser einzunehmen. Der Verdruss über das Missglücken meiner Versuche, etwas zum Vorteile Natals zu bewirken, oder besser die gekränkte Eitelkeit ... war es nicht hart für mich, so wenig Bedeutung zu haben, dass ich nicht einmal einen Hafen machen lassen konnte, wo ich wollte? ... nun, dies alles in Verbindung mit meiner Kandidatur für die Leitung eines Sonnensystems hatte mich an dem Tage so unliebenswürdig gemacht. Als ich durch den Untergang der Sonne einigermassen genas—denn Unzufriedenheit ist eine Krankheit—brachte mir just diese Krankheit den »Japanischen Steinhauer« in den Sinn, und vielleicht dachte ich diese Geschichte nur darum überlaut, um—indem ich mir selbst weismachte, ich thäte es aus Wohlwollen für das Kind—verstohlenerweise den letzten Tropfen von dem Trank einzunehmen, dessen ich mich bedürftig fühlte. Doch siehe, das Kind schenkte mir Gesundheit—für einige Tage wenigstens—mehr jedenfalls als meine Erzählung, die ungefähr also gelautet haben muss:


»Upi, es war einmal ein Mann, der Steine hieb aus dem Felsen. Seine Arbeit war sehr schwer, und er [165]arbeitete viel, doch sein Lohn war gering, und zufrieden war er nicht.

Er seufzte, weil seine Arbeit schwer war. Und er rief: Ach, dass ich reich wäre, um zu ruhen auf einer Baleh-baleh mit Klambu von roter Seide.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie du gesagt hast.

Und er war reich. Und er ruhte auf einer Baleh-baleh, und die Klambu war von roter Seide.

Und der König des Landes zog vorbei, mit Reitern vor seinem Wagen. Und auch hinter dem Wagen waren Reiter, und man hielt den goldenen Pajong über das Haupt des Königs.

Und da der reiche Mann dieses sah, verdross es ihn, dass kein goldener Pajong über sein Haupt gehalten wurde. Und zufrieden war er nicht.

Er seufzte und rief: Ich wünschte, ich wäre König.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie du gesagt hast.

Und er war König. Und vor seinem Wagen her ritten viele Reiter, und auch waren da Reiter hinter seinem Wagen, und über sein Haupt hielt man den goldenen Pajong.

Und die Sonne schien mit heissen Strahlen und verbrannte das Erdreich, sodass der Graswuchs verdorrte.

Und der König klagte, dass die Sonne ihm das Antlitz sengte und Macht hatte über ihn. Und zufrieden war er nicht.

Und er seufzte und rief: Ich wünschte, ich wäre die Sonne.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie du gesagt hast.

Und er war die Sonne. Und er sandte seine Strahlen nach oben und hernieder, nach der rechten Seite und nach der linken Seite und überall umher.

Und er versengte den Graswuchs auf dem Erdreich und das Angesicht der Fürsten, die auf Erden waren. [166]

Und eine Wolke stellte sich zwischen die Erde und ihn, und die Strahlen der Sonne prallten von ihr zurück.

Und er wurde zornig, dass seiner Macht widerstanden wurde, und er klagte, dass die Wolke mächtig war über ihn. Und zufrieden war er nicht.

Er wollte die Wolke sein, die so mächtig war.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie du gesagt hast.

Und er wurde eine Wolke und stellte sich auf zwischen Sonne und Erde und fing die Sonne auf, also dass das Gras grün wurde.

Und die Wolke regnete in grossen Tropfen auf das Erdreich und liess die Ströme schwellen, und Banjirs schwemmten die Herden hinweg.

Und er verwüstete durch viel Wasser das Feld.

Und er fiel nieder auf einen Fels, der nicht wich. Und er goss in grossen Strömen, doch der Fels wich nicht.

Und er wurde zornig, dass der Fels nicht weichen wollte und die Stärke seiner Ströme eitel war. Und zufrieden war er nicht.

Er rief: Diesem Felsen ist Macht gegeben über mir. Ich wünschte, ich wäre dieser Fels.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie du gesagt hast.

Und er wurde Fels und rührte sich nicht, so die Sonne schien, und nicht, so es regnete.

Und da kam ein Mann mit Hacke und mit spitzigem Meissel und mit schwerem Hammer, der hieb Steine aus dem Felsen.

Und der Fels sagte: Was ist dies, dass dieser Mann Macht hat über mir und Steine schlägt aus meinem Schosse? Und zufrieden war er nicht.

Er rief: Ich bin schwächer als dieser ... ich wünschte, ich wäre dieser Mann.

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: Dir geschehe, wie du gesagt hast. [167]

Und er war ein Steinhauer. Und er hieb Steine aus dem Felsen, mit schwerer Arbeit, und er arbeitete sehr schwer für wenig Lohn, und er war zufrieden ...


—Recht fein, sagte Duclari, doch nun sind Sie uns noch den Beweis schuldig, dass Ihre kleine Upi imponderabel hätte sein müssen.

—Nein, ich habe Ihnen diesen Beweis nicht versprochen! Ich habe nur erzählen wollen, wie ich Bekanntschaft mit ihr machte. Als meine Erzählung zu Ende war, fragte ich:

»Und du, Upi, was würdest du erwählen, so ein Engel aus dem Himmel käme, dich zu fragen, was du begehrtest?«

»Wahrlich, Herr, ich würde ihn bitten, dass er mich mitnähme nach dem Himmel.«

—Ist das nicht bezaubernd? fragte Tine ihre Gäste, die es vielleicht ganz verrückt fanden ...

Havelaar stand auf und fegte sich etwas von der Stirn. [168]


1 Note des Übersetzers: Multatuli-Dekker-Havelaars Frau hiess: Everdine (d. i.: Tine) Huberte, geb. Baronesse van Wynbergen.

Zwölftes Kapitel.

—Lieber Max, sagte Tine, unser Dessert ist so dürftig. Möchtest du nicht ... du weisst ja ...

—Noch was erzählen, zum Ersatz für Gebäck? Zum Teufel, ich bin heiser. Verbrugge ist jetzt dran.

—Ja, M’nheer Verbrugge, lösen Sie Max mal ab, bat Mevrouw Havelaar.

Verbrugge bedachte sich einen Augenblick und begann:—Es war einmal ein Mann, der einen Truthahn stahl ...

—O, Sie Schwerenöter, das haben Sie von Padang! Und wie geht es weiter?

—Es ist aus. Wer kennt den Schluss von dieser Historie?

—Na, ich! Ich habe ihn aufgegessen, im Verein mit ... noch jemand. Wissen Sie, warum ich in Padang vom Amte suspendiert war?

—Man sagte, dass in Ihrer Kasse zu Natal ein Defizit war, erwiderte Verbrugge.

—Das war nicht ganz unwahr, doch wahr war es auch nicht. Ich war zu Natal durch allerlei Ursachen recht nachlässig gewesen in meinen geldlichen Verantwortlichkeiten, und es war in Bezug darauf wirklich viel auszusetzen. Doch dies fiel in jenen Tagen so häufig vor! Die Verhältnisse im Norden von Sumatra waren kurz nach der Einnahme von Barūs, Tapūs und Singkel so verwirrt, alles war so unruhig, dass man es einem jungen Mann, der lieber zu Pferde sass, [169]als dass er Geld zählte oder Kassenbücher führte, nicht übelnehmen konnte, wenn nicht alles so ordentlich und geregelt ging, wie man es wohl von einem Amsterdamer Buchhalter hätte fordern können, der weiter nichts zu thun hat. Die Battahlande waren in Aufruhr, und Sie wissen, Verbrugge, wie stets alles, was bei den Battahs vorfällt, auf Natal zurückschlägt. Ich schlief des Nachts vollständig in den Kleidern steckend, um schnell auf dem Posten zu sein, was denn auch häufig notwendig war. Dazu hat die Gefahr—einige Zeit vor meiner Ankunft war ein Komplott entdeckt worden, nach welchem mein Vorgänger ermordet und der Aufstand proklamiert werden sollte—die Gefahr hat etwas Anziehendes, vor allem, wenn man erst zweiundzwanzig Jahre alt ist. Dieses Anziehende kann einen dann wohl unbrauchbar machen für Bureauarbeit oder für die peinliche Genauigkeit, die für eine gute Verwaltung von Geldsachen nötig ist. Überdies, ich hatte allerlei Tollheiten im Kopf ...

—Traūssa! rief Mevrouw Havelaar einem Bedienten zu.

Was ist nicht nötig?

—Ich hatte gesagt, dass in der Küche noch etwas hergerichtet werden sollte ... eine Omelette oder sonstwas.

—Ah! Und das ist nun nicht mehr nötig, nun ich von meinen Tollheiten anfange? Du bist doch ein Schwerenöter, Tine. Mir ist es recht, aber die Herren haben auch eine Stimme. Verbrugge, für was entscheiden Sie sich, für Ihren Anteil an der Omelette oder für die Historie?

—Das ist eine schwierige Lage für einen höflichen Menschen, sagte Verbrugge.

—Und auch ich möchte hier lieber keine Wahl treffen, fügte Duclari hinzu, denn es handelt sich hier um eine Sache zwischen M’nheer und Mevrouw, und: »entre l’écorce et le bois, il ne faut pas mettre le doigt«; man steckt nicht gern seine Finger zwischen Thür und Angel.

—Ich will Ihnen zu Hülfe kommen, meine Herren. Die Omelette ist ... [170]

—Mevrouw, sagte der sehr höfliche Duclari, die Omelette wird doch wohl soviel wert sein wie ...

—Wie diese Historie? Gewiss, wenn sie was wert wäre! Doch es hat damit einen Haken ...

—Ich weiss, dass noch kein Zucker im Hause ist, rief Verbrugge. Ach, lassen Sie doch bei mir holen, was Sie brauchen!

—Zucker ist da ... von Mevrouw Slotering. Nein, daran hapert’s nicht. Wenn die Omelette übrigens gut wäre, hätte das nichts zu sagen, aber ...

—Wie denn, Mevrouw, ist sie ins Feuer gefallen?

—Ich wollte, dass es wahr wäre! Nein, sie kann nicht ins Feuer fallen, sie ist ...

—Aber, Tine, rief Havelaar, was sollte denn damit sein?

—Sie ist imponderabel, Max, wie deine Frauen zu Arles ... sein müssten! Ich habe keine Omelette ... ich habe nichts mehr!

—Dann in Gottes Namen die Historie! seufzte Duclari in komischer Verzweiflung.

—Aber Kaffee haben wir, rief Tine.

—Gut! Kaffeetrinken in der Vorgalerie, und lass uns Mevrouw Slotering mit ihren Mädchen hinzunötigen, sagte Havelaar, worauf die kleine Gesellschaft sich nach draussen verfügte.

—Ich denke, sie wird danken, Max! Du weisst, dass sie auch nicht gern mit uns isst, und ich kann ihr nicht unrecht geben.

—Sie wird gehört haben, dass ich Historien loslasse, sagte Havelaar, und das hat sie abgeschreckt.

—O nein, Max, das würde ihr nichts ausmachen; sie versteht kein Holländisch. Nein, sie hat mir gesagt, dass sie auch weiterhin ihren eigenen Haushalt führen will, und das begreife ich recht gut. Weisst du noch, wie du meinen Namen1 interpretiert hast? [171]

—E. H. V. W.: »Eigener Herd viel wert«.

—Nun also! Sie hat sehr recht. Ausserdem, sie kommt mir auch etwas menschenscheu vor. Denke dir, lässt sie doch alle Fremden, die das Erbe betreten, von den Aufsehern herunterjagen ...

—Ich ersuche um die Historie oder um die Omelette, sagte Duclari.

—Ich auch! rief Verbrugge. Ausflüchte werden nicht angenommen. Wir haben Anspruch auf ein vollständiges Mahl, und darum verlange ich die Geschichte von dem Truthahn.

—Die habe ich Ihnen schon gegeben, sagte Havelaar. Ich hatte das Vieh dem General Vandamme gestohlen und hab’s aufgegessen ... mit noch jemandem.

—Ehe dieser »jemand« gen Himmel fuhr, sagte Tine schalkhaft.

—Nein, das ist Bemogelei! rief Duclari. Wir müssen wissen, warum Sie diesen Truthahn ... weggenommen hatten.

—Nun, weil ich Not litt, und das war des Generals Vandamme Schuld, der mich suspendiert hatte.

—Wenn ich nicht mehr davon zu wissen kriege, bringe ich mir nächstes Mal selbst eine Omelette mit, beschwerte sich Verbrugge.

—Glauben Sie mir, es steckte nichts mehr dahinter als das. Er hatte sehr viele Truthühner, und ich hatte nichts. Man trieb die Tiere an meiner Thür vorüber ... ich nahm eins davon und sagte zu dem Manne, der sich einbildete, dass er sie hütete: »Sage dem General, dass ich, Max Havelaar, diesen Truthahn nehme, weil ich essen will«.

—Und dann das Epigramm?

—Hat Verbrugge Ihnen davon erzählt?

—Ja.

—Das hat mit dem Truthahn nichts zu schaffen. Ich machte das Ding, weil er so viele Beamte suspendierte. Es waren auf Padang gewiss sieben oder acht, die er mehr oder minder gerechtfertigt in ihren Ämtern suspendiert hatte, und [172]viele unter ihnen verdienten es viel weniger als ich. Der Assistent-Resident von Padang gar war suspendiert, und wohl wegen eines Grundes, der, wie ich glaube, ein ganz anderer war, als der in dem Beschlusse angegebene. Ich will Ihnen das wohl erzählen, obschon ich nicht versichern kann, dass ich alles genau weiss, und nur wiedererzähle, was man zu Padang für wahr hielt und was auch—vor allem im Hinblick auf die bekannten Eigenschaften des Generals—wahr gewesen sein kann.

Er hatte, müssen Sie wissen, seine Frau geheiratet, um eine Wette zu gewinnen, und damit einen Anker Wein. Er ging also oftmals des Abends aus, um ... sich überall herumzutreiben. Der Surnumerair Valkenaar muss einmal in einer Gasse nahe beim Mädchenwaisenhause seinem Inkognito so strenge Beachtung geschenkt haben, dass er ihm eine Tracht Prügel zukommen liess wie dem ersten besten Strassenflegel. Nicht weit davon wohnte Miss X. Es war ein Gerücht in Umlauf, dass diese Miss einem Kinde das Leben gegeben hätte, das ... verschwunden wäre. Der Assistent-Resident war als Haupt der Polizei verpflichtet und auch willens, diese Sache zu untersuchen, und scheint von diesem Vornehmen auf einer Whistpartie beim General etwas gesagt zu haben. Doch man höre: am folgenden Tage erhält er den Befehl, sich nach einer Abteilung zu begeben, deren amtsführender Kontrolleur wegen wahrer oder vermeintlicher Unehrlichkeit von seinem Posten suspendiert war, und in loco bestimmte Dinge zu untersuchen und dieserhalb Bericht einzureichen. Wohl war der Assistent-Resident verwundert, dass ihm ein Auftrag gegeben wurde, der durchaus nicht in Beziehung zu seiner Abteilung stand, aber da er, recht genommen, ihn als eine ehrende Auszeichnung ansehen konnte und auch mit dem General auf sehr freundschaftlichem Fusse stand, sodass er nicht Ursache hatte, an einen Fallstrick zu denken, so liess er sich durch diese Sendung nicht weiter beunruhigen und begab sich nach—ich will vergessen haben, wohin—um zu thun, was ihm befohlen war. Nach einiger Zeit kehrt [173]er zurück und erstattet einen Bericht, der nicht ungünstig für den Kontrolleur lautete. Doch es war währenddessen auf Padang durch das Publikum—das heisst: niemand und alle Welt—entdeckt worden, dass dieser Beamte nur suspendiert war, um eine Gelegenheit zu schaffen, den Assistent-Residenten vom Platze zu entfernen, zu dem Zwecke, seiner beabsichtigten Untersuchung, das verschwundene Kind betreffend, zuvorzukommen oder sie wenigstens bis auf einen Zeitpunkt zu verschieben, wo es schwer fallen würde, die Sache aufzuhellen. Ich wiederhole nun, dass ich nicht weiss, ob dieses wahr ist, doch nach den Erfahrungen, die ich selbst später mit dem General Vandamme machte, kommt mir diese Lesart glaubhaft vor. Auf Padang war niemand, der ihn nicht—was den Grad angeht, auf welchen seine Sittlichkeit gesunken war—als fähig zu so etwas einschätzte. Die meisten schrieben ihm nur eine gute Eigenschaft zu, die der Unerschrockenheit in Gefahr, und wenn ich, der ich ihn in Gefahr gesehen habe, der Meinung wäre, dass er bei alledem ein tapferer Mann war, so würde dies allein mich bewegen, Ihnen diese Geschichte nicht zu erzählen. Es ist wahr, er hatte auf Sumatra viel durch die Faust entscheiden lassen, doch wer einzelne Geschehnisse aus der Nähe beobachtet hatte, spürte Neigung, etwas von seiner Tapferkeit abzudingen, und, wie fremd es scheinen mag, ich glaube, dass er seinen Ruhm als Kriegsmann grossenteils der Sucht der Antithese zu danken hatte, die uns alle mehr oder minder beherrscht. Man sagt gern: es ist wahr, dass Peter oder Paul dies, dies oder dies ist, doch ... das ist er, das muss man ihm lassen! Und niemals kann man sicherer sein, gepriesen zu werden, als wenn man einen stark ins Auge fallenden Mangel hat. Sie, Verbrugge, sind alle Tage betrunken ...

—Ich? fragte Verbrugge, der ein Muster von Mässigkeit war.

—Ja, ich mache Sie nun betrunken, alle Tage. Sie vergessen sich so weit, dass Duclari des Abends in der Galerie über Sie stolpert. Das wird er unangenehm finden, aber sofort [174]wird er sich erinnern, etwas Gutes an Ihnen gefunden zu haben, das ihm doch früher gar nicht ins Auge fiel. Und wenn ich dann komme und ich finde Sie doch ein bisschen arg ... horizontal, dann wird er mir die Hand auf den Arm legen und ausrufen: »Ach, glauben Sie doch, er ist sonst so’n guter, braver, achtbarer Kerl!«

—Das sage ich sowieso von Verbrugge, und ist er auch vertikal.

—Nicht mit dem Feuer und mit der Überzeugung! Erinnern Sie sich mal, wie oft man sagen hört: »O, wenn der Mann auf seine Sachen passen würde, das wäre einer! Aber ...« und dann folgt die Darlegung, wie er nicht auf seine Sachen achte und also keiner sei. Ich glaube den Grund hiervon zu wissen. Auch von den Toten erfährt man immer gute Eigenschaften, von denen wir früher nichts bemerkten. Die Ursache wird wohl sein, dass sie niemandem im Wege stehen. Alle Menschen sind sich mehr oder minder Konkurrenten. Wir würden gern jeden andern ganz und gar in allem unter uns stellen. Das aber zu äussern, verbietet der gute Ton und selbst das eigene Interesse, denn uns würde sehr bald niemand mehr glauben, auch wenn wir etwas Wahres behaupteten. Es muss also ein Umweg gesucht werden, und nun seht, wie uns das gelingt. Wenn Sie, Verbrugge, sagen: »Der Leutnant Gamascho ist ein guter Soldat, er ist wahrhaftig ein guter Soldat, ich kann Ihnen nicht genug sagen, ein wie guter Soldat der Leutnant Gamascho ist ... aber ein Theoreticus ist er nicht ...«

Haben Sie nicht so gesagt, Duclari?

—Ich habe niemals einen Leutnant Gamascho gekannt oder gesehen.

—Gut, erschaffen Sie sich dann einen und sagen das von ihm.

—Gut, ich erschaffe ihn hiermit und sag’s von ihm.

—Wissen Sie, was Sie nun gesagt haben? Sie haben gesagt, dass Sie, Duclari, obenauf sind in der Theorie. Ich bin kein Haar besser. Glauben Sie mir, wir thun unrecht, [175]uns so zu erbosen über jemanden, der recht schlecht ist, denn die Guten unter uns sind dem Schlechten so nah! Lassen Sie mal die Vollkommenheit Null heissen und hundert Grad für schlecht gelten, wie unrecht thun wir dann—wir, die wir schwanken zwischen acht- und neunundneunzig!—Zeter zu schreien über jemanden, der auf hundertundeins steht! Und zudem glaube ich, dass viele nur diesen hundertsten Grad nicht erreichen aus Mangel an guten Eigenschaften, zum Beispiel an Mut, ganz zu sein, was man ist.

—Auf wieviel Grad stehe ich, Max?

—Ich habe eine Lupe nötig für die Zehntelteilung, Tine.

—Ich reklamiere, rief Verbrugge—nein, Mevrouw, nicht gegen Ihre Nullnähe!—nein, aber es sind Beamte suspendiert, ein Kind wird vermisst, ein General in Anklagezustand ... ich fordere: »la pièce!«

—Tine, sorge doch in Zukunft dafür, dass was im Hause ist! Nein, Verbrugge, Sie kriegen »la pièce« nicht, ehe ich nicht noch ein bisschen auf meinem Steckenpferde von der Antithese herumgeritten bin. Ich sagte, dass jeder Mensch in seinem Mitmenschen eine Art Konkurrenten sieht. Man darf nicht immer tadeln—was auffallend wirken würde—darum streichen wir gern eine gute Eigenschaft über die Massen heraus, um die üble Eigenschaft, an deren Blossstellung uns eigentlich nur gelegen ist, recht augenfällig zu machen, ohne den Schein der Parteilichkeit auf uns zu laden. Wenn jemand sich bei mir beklagt, dass ich von ihm gesagt habe: »Seine Tochter ist sehr schön, aber er ist ein Dieb«, dann antworte ich: »Wie können Sie darüber so bös sein! Ich habe doch dabei gesagt, dass Ihre Tochter ein liebes Mädchen ist!« Sehen Sie, das gewinnt doppelt! Wir beide sind Höker, ich nehme ihm seine Kunden ab, die ihre Rosinen nicht bei einem Diebe kaufen wollen, und zu gleicher Zeit sagt man von mir, dass ich ein guter Mensch sei, denn ich striche die Tochter eines Konkurrenten heraus.

—Nein, so schlimm ist es nicht, sagte Duclari, das ist ein bisschen stark aufgetragen! [176]

—Das kommt Ihnen jetzt nur so vor, weil ich den Vergleich etwas kurz und brüsk gestaltet habe. Wir müssen uns das »er ist ein Dieb« einigermassen umschleiert vorstellen. Die Tendenz des Gleichnisses bleibt wahr. Wenn wir genötigt sind, jemandem bestimmte Eigenschaften zuzuerkennen, die Anspruch auf Beachtung, Ehrerbietung und Autorität verleihen, dann gewährt es uns Befriedigung, neben diesen Eigenschaften etwas zu entdecken, das uns von dem schuldigen Tribut teilweise oder gänzlich frei erklärt. »Vor solch einem Dichter sollte man das Haupt beugen, aber ... er schlägt seine Frau!« Sehen Sie, dann benutzen wir die blauen Flecke der Frau gern als Vorwand, unsere Nase recht hoch zu halten, und schliesslich wird es uns gar zur Genugthuung, dass er das Weib schlägt, was doch sonst recht hässlich ist. Sobald wir zugeben müssen, dass jemand Qualitäten besitzt, die ihn der Ehre eines Piedestals würdig machen, sobald wir seine Ansprüche darauf nicht länger leugnen können, ohne als unkundig, gefühllos oder eifersüchtig angesehen zu werden ... sagen wir schliesslich: »Gut, setzt ihn nur drauf!« Aber schon während des Draufsetzens und während er selbst noch meint, dass wir verzückt daständen angesichts seiner Vortrefflichkeit, haben wir schon die Schlinge in den Lasso gelegt, der dienen soll, ihn bei der ersten günstigen Gelegenheit herunterzuholen. Je mehr Wechsel unter den Inhabern der Piedestale, desto grösser die Wahrscheinlichkeit für andere, dass sie auch einmal an die Reihe kommen werden, und so wahr ist dies, dass wir aus Gewohnheit und zur Übung—wie ein Jäger, welcher auf Krähen schiesst, die er doch liegen lässt—auch die Standbilder gern niederlegen, deren Piedestal nie durch uns bestiegen werden kann. Herr Schöps, der sich nährt von Sauerkohl und Dünnbier, sucht Erhebung in der Klage: »Alexander war nicht gross ... er war unmässig«, ohne dass für Herrn Schöps die mindeste Möglichkeit besteht, jemals mit Alexander in Welteroberung zu konkurrieren.

Wie dem sei, ich bin überzeugt, dass viele niemals auf [177]den Gedanken gekommen wären, den General Vandamme für so tapfer zu halten, wenn nicht seine Tapferkeit als Vehikel hätte dienen können für das stets hinzugefügte: »aber ... seine Sittlichkeit!« Und ebenso bin ich überzeugt, dass diese Unsittlichkeit von den vielen, die selbst nicht gerade unantastbar waren, nicht als so gross hingestellt worden wäre, wenn man sie nicht nötig gehabt hätte als Gegengewicht gegen seinen Ruhm der Tapferkeit, der manche nicht schlafen liess.

Eine Eigenschaft besass er wirklich in hohem Masse: Willenskraft. Was er sich vornahm, musste geschehen, und geschah auch gewöhnlich. Doch—sehen Sie wohl, dass ich sogleich wieder die Antithese zur Hand habe?—doch in der Wahl der Mittel war er dann auch etwas ... frei, und, wie van der Palm—ich glaube, zu Unrecht—von Napoleon sagte: »Hindernisse der Sittlichkeit standen ihm niemals im Wege!« Nun, dann ist es gewiss leichter, sein Ziel zu erreichen, als wenn man sich durch so etwas wohl gebunden erachtet.

Der Assistent-Resident von Padang hatte also einen Bericht ausgefertigt, der günstig lautete für den suspendierten Kontrolleur, dessen Suspension hierdurch den Anstrich der Ungerechtigkeit erhielt. Die Padangschen Tuscheleien nahmen ihren Fortgang: man sprach noch immer über das verschwundene Kind. Der Assistent-Resident fühlte sich aufs neue berufen, die Sache aufzunehmen, doch ehe er etwas zur Aufklärung hatte bringen können, ging ihm ein Beschluss zu, nach welchem er vom Gouverneur der Westküste Sumatras »wegen Unehrlichkeit in Amtsbeziehungen« suspendiert wurde. Es hiess darin, dass er aus Freundschaft oder Mitleid die Angelegenheit des Kontrolleurs gegen sein besseres Wissen in ein falsches Licht gerückt habe.

Ich habe die Akten, die diese Angelegenheit betreffen, nicht gelesen, aber ich weiss, dass der Assistent-Resident auch nicht die geringste Beziehung zu jenem Kontrolleur hatte, was schon daraus zu entnehmen ist, dass man gerade [178]ihn bestimmt hatte, diese Sache zu untersuchen. Ich weiss weiterhin, dass er eine achtenswerte Persönlichkeit war, und dass auch die Regierung ihn dafür hielt, was aus der Nichtigerklärung der Suspension, nachdem die Sache andernorts untersucht worden war, hervorgeht. Auch jener Kontrolleur ist später gänzlich in seiner Ehre rehabilitiert worden. Der Beiden Suspension war es, was mir das Epigramm eingab, das ich auf den Frühstückstisch des Generals von jemandem niederlegen liess, der damals bei ihm und vorher bei mir in Dienst stand.

Leibhafter Suspensionsbeschluss, der suspendierend uns regiert,

Johann Suspensor, Gouverneur, du Wehrwolf unsrer Zeiten,

Du hättest dein Gewissen selbst mit Freuden suspendiert ...

Wenn’s nicht schon längst entlassen wär’ in alle Ewigkeiten!

—Nehmen Sie mir’s nicht übel, M’nheer Havelaar, ich finde, dass so etwas nicht am Platze war, sagte Duclari.

—Ich auch ... aber ich musste doch etwas thun. Stellen Sie sich vor, dass ich kein Geld hatte, keins erhielt, und von Tag zu Tag fürchtete, Hungers zu sterben, was denn auch nahe genug gewesen ist. Ich hatte wenig oder keine Verbindungen auf Padang, und obendrein, ich hatte dem General geschrieben, dass er verantwortlich wäre, wenn ich in Elend umkäme, und dass ich von niemandem Hülfe annehmen würde. In den Binnenlanden waren Leute, die, als sie hörten, wie es mit mir bestellt war, mich zu ihnen zu kommen nötigten, doch der General verbot, dass man mir einen Pass dahin ausfertigte. Nach Java konnte ich auch nicht verziehen. Überall anderswo hätte ich mich retten können und vielleicht auch da, wenn man nicht so in Furcht vor dem mächtigen General gewesen wäre. Es schien sein Plan, mich verhungern zu lassen. Das hat neun Monate gedauert!

—Und wie haben Sie sich so lange am Leben erhalten? Oder hatte der General viel Truthühner?

—O ja! Aber das half mir nichts ... So etwas thut man nur einmal, nicht wahr? Was ich während dieser Zeit [179]anfing? Ach ... ich machte Verse, schrieb Komödien ... und dergleichen mehr.

—Und war dafür Reis zu haben auf Padang?

—Nein, doch den habe ich auch nicht dafür verlangt. Ich sage lieber nicht, wie ich gelebt habe.

Tine drückte ihm die Hand: sie wusste es.

—Ich habe ein paar Zeilen gelesen, die Sie in diesen Tagen geschrieben haben sollen, sagte Verbrugge; sie standen auf der Rückseite einer Quittung.

—Ich weiss, was Sie meinen. Diese Zeilen kennzeichnen meine Lage. Es bestand in den Tagen eine Zeitschrift »De Kopiist«, auf die ich eingezeichnet war. Sie stand unter den Auspizien der Regierung—der Redakteur war Beamter beim Allgemeinen Sekretariat—und darum wurden die Subskriptionsgelder in Landes Kasse gestürzt. Man präsentierte mir eine Quittung von zwanzig Gulden. Da nun dies Geld den Geschäftsbereich des Gouverneurs anging, und also die Quittung, wenn sie unbezahlt blieb, des Gouverneurs Bureaux zu passieren hatte, um nach Batavia zurückgeschickt zu werden, so benutzte ich diese Gelegenheit, auf der Rückseite also gegen meine Armut zu protestieren:

Vingt florins ... quel trésor! Adieu, littérature,

Adieu, Copiste, adieu! Trop malheureux destin:

Je meurs de faim, de froid, d’ennui et de chagrin,

Vingt florins font pour moi deux mois de nourriture!

Si j’avais vingt florins, je serais mieux chaussé,

Mieux nourri, mieux logé, j’en ferais bonne chère ...

Il faut vivre avant tout, soit vie de misère:

Le crime fait la honte, et non la pauvreté!

Doch als ich später in Batavia der Redaktion des »Kopiist« meine zwanzig Gulden bringen wollte, war ich nichts schuldig. Es scheint, dass der General selbst das Geld für mich bezahlt hat, um nicht gezwungen zu sein, diese illustrierte Quittung nach Batavia zurückzusenden.

—Doch was that er nach der ... nach der ... Wegnahme des Truthahns? Es war doch ... ein Diebstahl! Und auf das Epigramm? [180]

—Er strafte mich fürchterlich! Wenn er mich hätte vor Gericht stehen lassen als schuldig der Unehrerbietigkeit gegen den Gouverneur von Sumatras Westküste, was in jenen Tagen mit einigem guten Willen als »Versuch zur Unterminierung der Holländischen Autorität und Aufreizung zum Aufstand« hätte ausgelegt werden können, oder als schuldig des »Diebstahls auf öffentlichem Wege«, so würde er gezeigt haben, dass er ein gutherziger Mensch war. Aber nein, er strafte mich besser ... schrecklich! Dem Mann, der die Kalekuten zu hüten hatte, liess er befehlen, fortan einen anderen Weg zu wählen. Und mein Epigramm ... ach, das ist noch ärger! Er sagte nichts, und er that nichts! Sehen Sie, das war grausam! Er gönnte mir nicht den mindesten Märtyrerschein, mir wurde nicht die Beachtung zu teil, wie sie Verfolgung erweckt, ich sollte nicht unglücklich werden durch meine ausschweifende Witzigkeit! O, Duclari ... o, Verbrugge ... es war, um ein für alle mal einen Ekel zu haben vor Epigrammen und Truthähnen! So wenig Ermutigung löscht die Flamme des Genies aus bis auf den letzten Funken ... und den inklusive: ich hab’s nie wieder gethan! [181]


1 Note des Übersetzers: Everdine Huberte van Wynbergen.

Dreizehntes Kapitel.

—Und darf man nun wissen, warum Sie eigentlich suspendiert waren? fragte Duclari.

—O ja, gern! Denn da ich alles, was ich hierüber zu sagen habe, als wahr geben und sogar noch teilweise mit Beweisen belegen kann, so werden Sie daraus ersehen, dass ich nicht leichtfertig handelte, als ich in meiner Erzählung von dem vermissten Kinde das in Padang umlaufende Gerede nicht als durchaus ungereimt verwarf. Es wird einem sehr glaubwürdig erscheinen, sobald man unsern tapferen General in den Angelegenheiten kennen lernt, die mich betreffen.

Es waren also in meiner Kassenführung zu Natal Ungenauigkeiten und Versäumnisse vorgekommen. Sie wissen, wie jede Ungenauigkeit auf eigenen Schaden hinausläuft: niemals hat man durch Nachlässigkeit Geldes zuviel. Der Chef des Rechnungswesens zu Padang—der nun just mein besonderer Freund nicht war—behauptete, dass ein Fehlbetrag von Tausenden vorhanden sei. Doch beachten Sie wohl, dass man mich, solange ich in Natal war, darauf nicht aufmerksam gemacht hatte. Gänzlich unerwartet wurde mir eine Versetzung nach den Padangschen Oberlanden zu teil. Sie wissen, Verbrugge, dass auf Sumatra eine Stellung in den Oberlanden von Padang als vorteilhafter und angenehmer angesehen wird als eine solche in der nördlicher gelegenen Residentschaft. Da ich nur wenige Monate vorher den Gouverneur [182]bei mir gesehen hatte—gleich werden Sie hören, warum und wie—und weil während seines Aufenthalts zu Natal und gerade in meinem Hause Dinge vorgefallen waren, bei deren Behandlung, wie ich meinte, ich mich sehr tüchtig gezeigt hatte, so nahm ich diese Versetzung als eine günstige Auszeichnung auf und verzog von Natal nach Padang. Ich machte die Reise auf einem französischen Schiff, der »Baobab« von Marseille, das zu Atjeh Pfeffer geladen hatte und ... natürlich bei Natal »Mangel an Trinkwasser« hatte. Sobald ich in Padang ankam, mit der Absicht, von da sogleich in die Binnenlande einzudringen, wollte ich nach Brauch und Pflicht den Gouverneur besuchen, doch er liess mir sagen, dass er mich nicht empfangen könne, und zugleich, dass ich meinen Verzug nach dem neuen Posten bis auf weiteren Befehl ausstellen müsste. Sie begreifen, dass ich hierüber sehr verwundert war, desto mehr, da er zu Natal mich in einer Stimmung verlassen hatte, die mir die Meinung einflössen musste, ziemlich gut bei ihm angeschrieben zu stehen. Ich hatte nur wenige Bekannte zu Padang, doch von diesen wenigen vernahm ich—oder vielmehr ich merkte es ihnen an—dass der General sehr erbost auf mich war. Ich sagte, dass ich es ihnen anmerkte, weil auf einem Aussenposten, wie Padang damals einer war, das Wohlwollen von vielen gelten konnte als der Gradmesser der Gnade, die man in den Augen des Gouverneurs gefunden hatte. Ich fühlte, dass ein Sturm im Anzug war, ohne zu wissen, aus welcher Ecke der Wind pfeifen würde. Da ich Geld nötig hatte, ersuchte ich diesen und jenen, mir damit unter die Arme zu greifen, und ich stand wirklich verdutzt, als man mir überall eine abweisende Antwort gab. Auf Padang war man, nicht minder wie anderswo in Indien, wo im allgemeinen der Kredit selbst eine allzu grosse Rolle spielt, in diesem Punkte sonst sehr tolerant gestimmt. Man würde in jedem anderen Fall mit Vergnügen einem Kontrolleur einige hundert Gulden vorgeschossen haben, der auf Reisen war und wider Erwarten irgendwo aufgehalten wurde. Doch mir versagte man alle Hülfe. Ich drang bei [183]einzelnen darauf, dass sie mir die Ursache dieses Misstrauens nennen sollten, und mit Mühe erfuhr ich endlich, dass man in meiner Kassenverwaltung zu Natal Fehler und Versäumnisse entdeckt hätte, die mich einer ungetreuen Administration verdächtig machten. Dass Fehler in meiner Administration zu konstatieren waren, befremdete mich durchaus nicht. Gerade das Gegenteil würde mich verwundert haben. Doch wohl fand ich es wunderlich, dass der Gouverneur, der persönlich Zeuge gewesen war, wie ich, fortwährend fern von meinem Bureau, mit der Unzufriedenheit der Bevölkerung und mit anhaltenden Versuchen zum Aufstand zu kämpfen hatte ... dass er, der mich gar wegen dessen, was er »Beherztheit« nannte, besonders gelobt hatte, den entdeckten Fehlern den Namen der Untreue und Unehrlichkeit geben konnte. Es konnte doch niemand besser als er wissen, dass in diesen Dingen keinesfalls von etwas anderem die Rede sein konnte als von ‚force majeure‘.

Und, mochte man immer diese ‚force majeure‘ leugnen, wollte man mich auch verantwortlich machen für Fehler, die begangen waren in Augenblicken, da ich—in Lebensgefahr oftmals!—fern von der Kasse und was damit zusammenhing, deren Verwaltung einem andern anvertrauen musste; würde man auch fordern, dass ich, das eine thuend, das andere nicht hätte lassen sollen ... dann immer noch wäre ich allein einer Vernachlässigung zu zeihen gewesen, die mit »Untreue« nichts gemein hatte. Es bestanden überdies, in jenen Tagen vor allem, zahlreiche Beispiele dafür, dass die Regierung wohl einsah, wie mühevoll die Position der Beamten auf Sumatra war, und es schien denn auch im Prinzip angenommen, dass man bei solchen Dingen etwas durch die Finger zu sehen habe. Man begnügte sich damit, von den in Frage kommenden Beamten den Ersatz des Fehlenden zu fordern, und es mussten schon sehr deutliche Beweise vorhanden sein, bevor man das Wort »Untreue« aussprach oder nur daran dachte. Dies war denn auch so sehr Regel geworden, dass ich zu Natal dem Gouverneur selbst sagte, befürchten zu müssen, dass ich, nach [184]der Untersuchung meiner Verbindlichkeiten auf den Bureaux zu Padang, viel werde zu zahlen haben, worauf er achselzuckend erwiderte: »Ach ... die Geldsachen!«, als fände er selbst, dass das Unwichtigere vor dem Wichtigeren zurückstehen müsse.

Nun gebe ich wohl zu, dass Geldfragen wichtig genug sind. Allein, wie gewichtig auch, sie waren in diesem Fall anderem Sorge und Arbeit Erheischenden untergeordnet. Wenn durch Vernachlässigung oder Versäumnis ein Fehlbetrag von einigen Tausenden verschuldet war, so nenne ich das an sich selbst keine Kleinigkeit. Aber wenn diese Tausende fehlten infolge meiner geglückten Bemühungen, dem Aufstande zuvorzukommen, der das Gebiet von Mandhéling in Feuer und Flammen zu setzen drohte, und die Atjinesen zurückkehren zu lassen in die Orte, aus denen wir sie eben mit Aufopferung von viel Volk und Geld verjagt hatten, so schwindet die Bedeutung eines solchen Mankos, und es war sogar als einigermassen unbillig anzusehen, jemandem die Rückzahlung desselben aufzuerlegen, der unendlich grössere Interessen gerettet hatte.

Und doch war ich der Ansicht, dergleichen müsse ersetzt werden. Denn indem man das nicht forderte, würde man der Unehrlichkeit Thür und Thor öffnen.

Nach tagelangem Warten—Sie können sich denken, in welcher Stimmung!—erhielt ich vom Sekretär des Gouverneurs einen Brief, worin man mir eröffnete, dass ich der Untreue verdächtig erscheine, mit dem Befehl, mich auf eine Anzahl von Bemängelungen, die meiner Verwaltung zuteil geworden waren, zu verantworten. Einzelne von ihnen konnte ich sofort richtig stellen. Für andere hingegen hatte ich die Einsicht bestimmter Schriftstücke nötig, und vor allem war es für mich von Wichtigkeit, den Dingen in Natal selbst auf den Grund zu gehen und bei meinen Beamten nach den Ursachen der gefundenen Differenzen zu forschen. Und wahrscheinlich wären auch da meine Bemühungen, Klarheit in alles zu bringen, von Erfolg gewesen. Die Unterlassung einer [185]Abschreibung nach Mandhéling gesandter Gelder zum Beispiel—Sie wissen, Verbrugge, dass die Truppen im Binnenlande aus der Natalschen Kasse bezahlt werden—oder sonst etwas derartiges, das mir höchstwahrscheinlich sofort klar geworden wäre, wenn ich meine Nachforschungen am Platze selbst hätte anstellen können, hatte vielleicht hinter diesen ärgerlichen Fehlern gesteckt. Doch der General wollte mich nicht nach Natal reisen lassen. Diese Abweisung liess mir die Art, in der die Beschuldigung der Untreue gegen mich eingebracht war, noch auffälliger erscheinen. Warum in aller Welt war ich von Natal unerwarteterweise versetzt, und gar unter dem Verdacht der Veruntreuung? Warum teilte man mir diese entehrende Vermutung erst mit, als ich fern von dem Ort war, wo ich Gelegenheit gehabt hätte, mich zu verantworten? Und vor allem: warum wurden in meinem Falle diese Angelegenheiten so ohne weiteres in die ungünstigste Beleuchtung gerückt, im Widerspruch zu der angenommenen Gewohnheit und im Widerspruch mit aller Billigkeit?

Bevor ich noch all die Bemängelungen, so gut es mir ohne Archiv oder persönliche Unterrichtung möglich war, beantwortet hatte, erfuhr ich indirekt, dass der General so erzürnt auf mich war: »weil ich zu Natal ihm so widersprochen hätte; was denn auch«, so fügte man hinzu, »sehr verkehrt von mir gewesen wäre«.

Da ging mir ein Licht auf. Ja, ich hatte ihm widersprochen, aber in der naiven Meinung, dass er mich darum achten würde! Ich hatte ihm widersprochen, aber bei seiner Abreise hatte mich nichts vermuten lassen, dass er mir deshalb zürne! Dumm genug, hatte ich in der günstigen Versetzung nach Padang einen Beweis gesehen, dass er mein »Widersprechen« schön gefunden hatte. Sie werden sehen, wie wenig ich ihn damals kannte.

Doch sobald ich vernommen hatte, dass das die Ursache war, die zu einer so scharfen Beurteilung meiner Gelderverwaltung führte, war ich mit mir selbst im Frieden. Ich beantwortete Punkt für Punkt, so gut ich konnte, und [186]schloss meinen Brief—ich besitze noch den Entwurf—mit den Worten:

»Ich habe die an meine Administration geknüpften Bemängelungen, so gut es mir ohne Archiv oder lokale Nachforschung möglich war, beantwortet. Ich ersuche Euer Hochedelgestrengen, mich von allen wohlwollenden Erwägungen verschont zu lassen. Ich bin jung und bin unbedeutend im Vergleich zu der Macht der herrschenden Begriffe, denen mich zu widersetzen meine Grundsätze mich nötigen, doch ich bleibe nichtsdestoweniger stolz auf meine sittliche Unabhängigkeit, stolz auf meine Ehre.«

Tags darauf war ich suspendiert wegen »ungetreuer Verwaltung«. Der Offizier der Gerichtsbarkeit—wir sagten damals noch »Fiscal«—erhielt den Befehl, betreffs meiner »Amt und Pflicht« walten zu lassen.

Und so stand ich damals da zu Padang, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, und starrte die Zukunft an, die mir Ehrlosigkeit bringen würde! Man riet mir, ich solle mich auf meine jungen Jahre berufen—ich war noch unmündig, als die angeblichen Verfehlungen geschahen—doch das wollte ich nicht. Ich hatte doch schon zu viel gedacht und gelitten, und ... ich darf sagen: zu viel schon geschafft und gewirkt, als dass ich mich hinter meiner Jugend verkriechen mochte. Sie sehen aus dem eben angezogenen Schlusse des Briefes, dass ich nicht behandelt sein wollte wie ein Kind, ich, der ich zu Natal dem General gegenüber meine Pflicht gethan hatte wie ein Mann. Und gleichzeitig können Sie wohl aus dem Brief ersehen, wie unbegründet die Beschuldigung war, die man gegen mich erhob. Wahrlich, wer schuldig ist eines niedrigen Verbrechens, schreibt anders!

Man nahm mich nicht gefangen, und dies hätte doch geschehen müssen, wenn es ernst gewesen wäre mit dem kriminellen Verdacht. Wahrscheinlich aber war diese scheinbar unabsichtliche Unterlassung nicht ohne Grund. Dem Gefangenen ist man doch schuldig, dass man ihn unterhält [187]und ernährt. Da ich Padang nicht verlassen konnte, war ich in Wirklichkeit doch ein Gefangener, aber ein Gefangener ohne Obdach und Brot. Ich hatte wiederholt, doch jedesmal ohne Erfolg, dem General geschrieben, dass er meinen Verzug von Padang nicht hindern möchte, denn es dürfte kein Verbrechen, und wäre ich des allerschlimmsten schuldig, bestraft werden mit Hungerleiden.

Nachdem der Rechtsrat, dem die Sache sichtlich Verlegenheit bereitete, den Ausweg gefunden hatte, sich unzuständig zu erklären, weil Verfolgungen wegen Verfehlung in Amtsbeziehungen nur auf Ermächtigung der Regierung zu Batavia statthaben dürften, hielt mich der General, wie ich schon sagte, neun Monate an Padang gebannt. Er erhielt endlich von höherer Hand den Befehl, mich nach Batavia verziehen zu lassen.

Als ich ein paar Jahre darauf Geld hatte—gute Tine, du hattest es mir gegeben!—zahlte ich einige tausend Gulden, um die Natalschen Kassenrechnungen von 1842 und 43 glatt zu machen, und da sagte mir jemand, von dem gesagt werden kann, dass er die Regierung von Niederländisch-Indien repräsentierte: »Das hätte ich an Ihrer Stelle nicht gethan ... ich würde einen Wechsel auf die Ewigkeit gegeben haben.« Ainsi va le monde!


Gerade wollte Havelaar mit der Erzählung beginnen, die seine Gäste von ihm erwarteten und die Aufklärung darüber geben sollte, in welcher Angelegenheit und warum er dem General Vandamme zu Natal seinerzeit »so widersprochen« hatte, da zeigte sich Mevrouw Slotering in der Vorgalerie ihrer Wohnung und winkte dem Polizei-Aufseher, der bei Havelaars Hause auf einer Bank sass. Der begab sich zu ihr und rief darauf einem Manne zu, der soeben das Erbe betreten hatte, jedenfalls in der Absicht, sich nach der Küche zu begeben, die hinterm Hause gelegen war. [188]Unsere Gesellschaft würde hierauf wahrscheinlich nicht weiter geachtet haben, wenn nicht Tine mittags bei Tische gesagt hätte, dass Mevrouw Slotering so scheu sei und eine Art Spionage zu üben scheine über jeden, der das Erbe betrete. Man sah den Mann, der durch den Aufseher gerufen war, zu ihr gehen, und es schien, dass sie ihn in ein Verhör nahm, das nicht zu seinen Gunsten auslief. Wenigstens wendete er seine Schritte und lief nach aussen zurück.

—Das kommt mir eigentlich ungelegen, sagte Tine. Das war vielleicht einer, der Hühner zu verkaufen hatte oder Gemüse. Ich habe noch nichts im Hause.

—Na, lass dann nur jemanden darnach ausschicken, antwortete Havelaar. Du weisst, dass inländische Damen gern ihre Autorität zur Geltung bringen. Ihr Mann war früher die erste Person hier, und wie wenig im Grunde ein Assistent-Resident auch bedeutet, in seiner Abteilung ist er ein kleiner König: sie ist noch nicht gewohnt an die Entthronung. Lass uns der armen Frau dies kleine Vergnügen nicht rauben. Thu nur so, als wenn du nichts bemerktest.

Dies fiel nun Tine nicht schwer: ihr war nichts an Autorität gelegen.

Es ist hier eine Abschweifung nötig, und gar will ich einmal abschweifen, um über Abschweifungen selbst zu reden. Es fällt einem Autor zuweilen nicht leicht, mitten hindurch zu segeln zwischen den beiden Klippen des Zuviel und des Zuwenig, und diese Schwierigkeit wird um so grösser, wenn man Zustände beschreibt, die den Leser auf unbekannten Boden führen. Es ist eine zu enge Verbindung zwischen Örtlichkeit und Geschehnis, als dass man die Beschreibung der Örtlichkeit gänzlich entbehren könnte, und das Vermeiden der beiden Klippen, von denen ich sprach, wird doppelt schwierig für jemanden, der Indien zum Schauplatz seiner Erzählung gewählt hat. Denn während ein Schriftsteller, der europäische Zustände schildert, viele Dinge als bekannt voraussetzen kann, muss er, der sein Stück in Indien spielen lässt, sich fortwährend fragen, ob der nicht-inländische [189]Leser diese oder jene Umstände richtig auffassen wird. Wenn der europäische Leser sich Mevrouw Slotering als bei den Havelaars »logierend« denkt, so wie dies in Europa der Fall sein würde, muss es ihm unbegreiflich vorkommen, dass sie nicht bei der Gesellschaft zu finden war, die in der Vorgalerie den Kaffee einnahm. Wohl habe ich schon gesagt, dass sie ein apartes Haus bewohnte, doch um dies und zugleich spätere Vorkommnisse recht zum Verständnis zu bringen, ist es in der That nötig, dass ich den Leser einigermassen mit Havelaars Haus und Erbe bekannt mache.

Die Beschuldigung, die so oft gegen den grossen Meister, der den »Waverley« schrieb, erhoben wird, nämlich, dass er manchmal die Geduld seiner Leser missbrauche, indem er der Beschreibung von Örtlichkeiten zu viel Platz einräume, scheint mir nicht recht begründet, und ich glaube, dass man sich zur Beurteilung der Richtigkeit einer solchen Aussetzung, einfach die Frage vorzulegen hat: war diese Beschreibung nötig, um den speziellen Eindruck hervorzurufen, den der Autor bei dir erreichen wollte? Wenn ja, so lege man es ihm nicht übel aus, dass er von dir die Mühe erwartet, zu lesen, was er zu schreiben sich die Mühe gab. Wenn nein, so werfe man das Buch weg. Denn der Autor, bei dem es im Kopfe so leer ist, dass er ohne zwingenden Grund Topographie giebt statt Gedanken, wird selten der Mühe des Lesens wert sein, auch da, wo schliesslich seine Ortsbeschreibung ein Ende nimmt. Aber man vergesse nicht, dass das Urteil des Lesers darüber, ob ein Abschweifen notwendig ist oder nicht, oftmals falsch ist, weil er vor der Katastrophe nicht wissen kann, was erforderlich oder nicht erforderlich ist für die geordnete Darlegung der Zustände. Und wenn er nach der Katastrophe das Buch wieder aufnimmt—von Büchern, die man nur einmal liest, rede ich nicht—und selbst dann noch meint, dass diese oder jene Abschweifung ohne Schaden für den Gesamteindruck hätte entbehrt werden können, so bleibt es noch immer die Frage, ob er vom Ganzen denselben Eindruck empfangen hätte, wenn nicht der [190]Schriftsteller in mehr oder minder künstlicher Weise ihn dazu gebracht haben würde, und gerade durch die Abschweifungen, die dem oberflächlich urteilenden Leser überflüssig erscheinen.

Meinet ihr, dass Amy Robsart’s Tod euch so packen würde, wenn ihr Fremdling gewesen wäret in den Hallen von Kenilworth? Und meinet ihr, dass da keine Verbindung bestände—Verbindung in der Antithese—zwischen der reichen Kleidung, in der sich ihr der unwürdige Leicester zeigte, und der Schwarzheit seiner Seele? Fühlt ihr nicht, dass Leicester—dies weiss jeder, der den Mann auch aus anderen Quellen kennt als gerade aus dem Roman—dass er unendlich tiefer stand, als er im »Kenilworth« geschildert wird? Aber der grosse Romancier, der lieber durch künstliche Verteilung der Farben fesselte als durch Grellheit derselben, achtete es unter seiner Würde, den Pinsel in all den Schmutz und all das Blut zu tauchen, das dem unwürdigen Günstling der Elisabeth anklebte. Er wollte nur auf einen dunklen Fleck in dem schmutzigen Pfuhl weisen, doch verstand er es, solchen Fleck durch die Lichter ins Auge fallen zu lassen, die er in seinen unsterblichen Schriften daneben setzte. Wer nun all das daneben Gegebene als überflüssig verwerfen zu können glaubt, verliert gänzlich aus dem Auge, dass man dann, um Effekt zuwege zu bringen, zu der Schule übergehen müsste, die von 1830 ab so lange in Frankreich floriert hat, obschon ich zur Ehre dieses Landes sagen muss, dass die Schriftsteller, die in dieser Hinsicht am meisten gegen den guten Geschmack sündigten, gerade im Ausland, und nicht in Frankreich selbst, ihre grössten Erfolge erzielten. Diese Schule—ich hoffe und glaube, dass sie ausgeblüht hat—hielt es für gemäss, mit voller Hand in Lachen von Blut zu greifen und grosse Sudelkleckse hiervon auf das Gemälde zu werfen, dass man sie selbst aus der Entfernung sehen möge! Sie sind denn auch mit geringerem Aufwande zu malen, diese groben Streifen von Rot und Schwarz, als die feinen Züge zu pinseln sind, die da stehen im [191]Kelch einer Lilie. Darum wählte denn auch diese Schule meistens Könige zu Helden ihrer Geschichten, am liebsten aus der Zeit, da die Völker noch unmündig waren. Sieh, die Betrübtheit des Königs wandelt man auf dem Papier in Volksgeheul ... sein Zorn bietet dem Autor Gelegenheit zum Töten von Tausenden auf dem Schlachtfelde ... seine Fehler geben Raum zum Schildern von Hungersnot und Pest ... das alles setzt grobe Pinsel in Bewegung! Wenn du dich nicht bewegen lässest von dem stummen Schrecken einer Leiche, die da liegt, es ist in meiner Geschichte Platz für ein Schlachtopfer, das noch ächzt und zuckt! Hast du nicht geweint bei der Mutter, die vergebens ihr Kind sucht ... gut, ich zeige dir eine andere Mutter, die ihr Kind vierteilen sieht! Bleibst du gefühllos bei dem Märtyrertod dieses Mannes ... ich vermannigfache dein Gefühl hundertmal, indem ich neunundneunzig andere Männer martern lasse neben ihm! Bist du verstockt genug, nicht zu schaudern beim Anblick des Soldaten, der in einer belagerten Festung aus Hunger seinen linken Arm verschlingt ...

Epikuräer! Ich stelle dir anheim, zu kommandieren: »rechts und links ... zum Kreise formiert! Jeder esse den linken Arm seines Nebenmannes auf ... marsch!«

Ja, so geht dieser Kunst-Schauder über in Albernheit ... was ich so im Vorübergehen beweisen wollte.

Und dahin würde man doch geraten, indem man zu eilig einen Schriftsteller verurteilte, der sinngemäss vorbereiten wollte auf seine Katastrophe, ohne Zuflucht zu nehmen zu diesen schreienden Farben.

Gleichwohl ist die Gefahr auf der anderen Seite noch grösser. Du verachtest die Bemühungen des groben Schrifttums, das mit so ungeschlachten Waffen auf dein Gefühl meint einstürmen zu müssen, aber ... wenn der Autor in das andere Extrem verfällt, wenn er sündigt durch zu viel Abschweifen von der Hauptsache, durch zu viel Pinsel-Manieriertheit, dann ist dein Zorn noch stärker, und mit Recht. [192]Denn dann hat er dich gelangweilt, und das ist unverzeihlich.

Wenn wir zusammen spazieren gehen, und du weichst oft ab vom Wege und rufst mich ins Gebüsch, nur mit der Absicht, den Spaziergang in die Länge zu zerren, so finde ich dies unangenehm und nehme mir vor, in Zukunft allein zu gehen. Doch wenn du mir da eine Pflanze zu zeigen weisst, die ich nicht kenne, oder an der etwas für mich zu sehen ist, das früher meiner Beobachtung entging ... wenn du mir von Zeit zu Zeit eine Blume zeigst, die ich gern pflücke und im Knopfloch mitnehme, dann verzeihe ich dir das Abweichen vom Wege, ja, ich bin dir dankbar dafür.

Und, selbst ohne Blume oder Pflanze, so du mich zur Seite rufst und mir durchs Gebäume hindurch den Pfad weisest, den wir gleich betreten werden, der nun aber noch weit vor uns in der Tiefe liegt und wie ein kaum wahrnehmbarer, schmaler Streif sich durch das Feld dort unten schlängelt ... auch dann nehme ich dir das Abweichen nicht übel. Denn wenn wir endlich so weit gekommen sein werden, dann weiss ich, wie unser Weg sich durchs Gebirge gewunden hat, was die Ursache ist, dass wir die Sonne, die soeben da stand, nun links vor uns haben, die Ursache, warum der Hügel nun hinter uns liegt, dessen Gipfel wir früher vor uns sahen ... sieh, dann habe ich mir durch dieses Abseitstreten das Verstehen meiner Wanderung leicht gemacht, und Verstehen ist Genuss.

Ich, Leser, habe dich in meiner Geschichte oftmals auf dem grossen Wege gelassen, ob es mir gleich Mühe kostete, dich nicht hineinzuführen ins Gebüsch. Ich befürchtete, dass der Spaziergang dich verdriessen würde, da ich nicht wusste, ob du Gefallen finden würdest an den Blumen und Pflanzen, die ich dir zeigen wollte. Doch da ich glaube, dass du später zufrieden sein wirst, den Pfad gesehen zu haben, den wir gleich beschreiten werden, so fühle ich mich veranlasst, dir etwas über Havelaars Haus zu sagen.

Man ginge fehl, wenn man sich von einem Hause in [193]Indien eine Vorstellung nach europäischen Begriffen machte und sich dabei eine Steinmasse dächte von aufeinandergestapelten Zimmern und Zimmerchen, vorn die Strasse, rechts und links Nachbarn, deren Häuser sich an das unsere anlehnen, und ein Gärtchen mit drei Johannisbeersträuchern dahinter. Wenige Ausnahmen abgerechnet, haben die Häuser in Indien kein oberes Stockwerk. Das kommt dem europäischen Leser seltsam vor, denn es ist eine Eigenart der Zivilisation—oder dessen, was man hierfür laufen lässt—alles seltsam zu finden, was natürlich ist. Die indischen Häuser sind ganz anders als die unseren, doch nicht sie sind sonderbar, unsere Häuser sind sonderbar. Wer zuerst sich den Luxus erlauben konnte, nicht in einem Zimmer mit seinen Kühen zu schlafen, hat das zweite Zimmer seines Hauses nicht auf, sondern neben das erste gesetzt, denn das Bauen zu ebener Erde ist einfacher und bietet auch mehr Bequemlichkeit im Bewohnen. Unsere hohen Häuser sind entstanden aus Mangel an Raum: wir suchen in der Luft, was auf dem Boden fehlt, und so ist eigentlich jedes Dienstmädchen, das abends das Fenster der Dachkammer schliesst, in der es schläft, ein lebender Protest gegen die Übervölkerung ... denkt es selbst auch an etwas anderes, wie ich wohl glaube.

In Landen also, wo Civilisation und Übervölkerung noch nicht durch Zusammenpressung unten die Menschheit nach oben hinaufgequetscht haben, sind die Häuser ohne Stockwerk, und das Haus Havelaars gehörte nicht zu den wenigen Ausnahmen von dieser Regel. Beim Eintreten ... doch nein, ich will einen Beweis geben, dass ich abstehe von allen Ansprüchen auf pittoreske Mittel. ‚Gegeben‘: ein längliches Quadrat, aufzuteilen in einundzwanzig Flächen, drei breit, sieben tief. Wir numerieren die Flächen, beginnend an der linken Oberecke und nach rechts weiterzählend, sodass 4 unter 1 kommt, 5 unter 2, und in dieser Weise weiter.

Die ersten drei Nummern bilden zusammen die Vorgalerie, die an drei Seiten offen ist und deren Dach an der Vorderseite auf Säulen ruht. Von dort tritt man durch zwei Doppelthüren [194]in die Binnengalerie, die aus den drei folgenden Fächern sich zusammensetzt. Die Fächer 7, 9, 10, 12, 13, 15, 16 und 18 sind Zimmer, von denen die meisten durch Thüren mit den danebenliegenden in Verbindung stehen. Die drei höchsten Nummern bilden die offene Hintergalerie, und was ich überschlug, ist eine Art von ungeschlossener Binnengalerie, Gang oder Durchgang. Ich bin recht stolz auf diese Beschreibung.

Es ist schwer zu sagen, welche Bezeichnung bei uns voll die Vorstellung wiedergeben könnte, welche man in Indien an das Wort »Erbe« knüpft. Dort ist es weder Garten, noch Park, noch Feld, noch Wald, sondern entweder etwas davon, oder alles zusammen, oder nichts von dem allen. Es ist der Grund, der zu dem Hause gehört, insoweit dieser nicht durch das Haus bedeckt wird, so dass in Indien der Ausdruck »Garten und Erbe« als ein Pleonasmus gelten würde. Es giebt da keine oder wenige Häuser ohne ein derartiges Erbe. Einzelne Erbe umfassen Wald und Garten und Weideland und erinnern an einen Park. Andere sind Blumengärten. Anderswo wieder ist das ganze Erbe ein grosses Grasfeld. Und endlich giebt es solche, die, wenn auch in sehr einfacher Weise, ganz und gar zu einem nach Art der Chausseen mit kleinen Steinen gepflasterten Platz gemacht sind, der vielleicht das Auge weniger anspricht, aber doch die Reinlichkeit in den Häusern fördert, weil viele Insektenarten durch Gras und Bäume angezogen werden.

Havelaars Erbe war nun sehr gross, ja, wie seltsam es klingen mag, an einer der Seiten konnte man es unendlich nennen, da es an ein »Ravijn« stiess, an zur Schlucht sich vertiefendes Terrain, das sich bis an die Ufer des Tjiudjung erstreckte, des Flusses, der Rangkas-Betung mit einer seiner vielen Windungen umschliesst. Es liess sich schwer bestimmen, wo das Erbe von des Assistent-Residenten Wohnung aufhörte, und wo der Gemeindegrund anfing, da der grosse Wechsel im Erguss von Wasser in den Tjiudjung, der bald einmal seine Ufer in Gesichtsweite zurückzog, und dann wieder den »Ravijn« [195]füllte bis fast heran an Havelaars Haus, fortwährend die Grenzen veränderte.

Dieser »Ravijn« war denn auch Mevrouw Slotering immer ein Dorn im Auge gewesen, und das war sehr begreiflich. Der Pflanzenwuchs, schon überall anderswo in Indien so wuchernd, war an diesem Ort durch den jedesmal zurückgebliebenen Schlamm besonders üppig, sogar in solchem Masse, dass, war auch der Zu- und der Ablauf des Wassers mit einer Kraft erfolgt, die das Buschholz entwurzelte und mit fortführte, nur sehr wenig Zeit nötig war, um den Boden wieder mit all dem Unkraut sich überziehen zu lassen, das das Reinhalten des Erbes, selbst in der unmittelbaren Nähe des Hauses, so schwierig machte. Und dies verursachte beträchtlichen Verdruss, selbst dem, der nicht »Dame des Hauses« war. Denn abgesehen von allerlei Insekten, die gewöhnlich abends in so grosser Menge um die Lampe schwirrten, dass Schreiben und Lesen unmöglich war—etwas, das an vielen Orten Indiens recht viel Beschwer verursacht—es hielten sich in dem Buschdickicht Schlangen und anderes Getier in Menge auf, das sich nicht auf den »Ravijn« beschränkte, sondern oft auch im Garten neben und hinter dem Hause gefunden wurde, oder auf der Grasfläche des grossen Platzes vor dem Hause.

Diesen Platz hatte man gerade vor sich, wenn man in der Aussengalerie mit dem Rücken dem Hause zugekehrt stand. Von da aus lag links das Gebäude mit den Bureaux, der Kasse und dem Versammlungssaal, wo Havelaar am Morgen zu den Häuptlingen gesprochen hatte, und dahinter breitete sich der »Ravijn« aus, den man überblicken konnte bis zum Tjiudjung hinunter. Den Bureaux gerade gegenüber stand die alte Assistent-Residenten-Wohnung, die auf bestimmte Zeit von Mevrouw Slotering bewohnt wurde, und da der Zugang vom grossen Wege zum Erbe nur über die beiden Wege erfolgen konnte, die an den beiden Seiten des Grasplatzes entlang liefen, so ergiebt sich hieraus, dass jeder, der das Erbe betrat, um sich nach den hinter dem Hauptgebäude [196]gelegenen Küchen- und Stallgebäuden zu begeben, entweder an den Bureaux oder an der Wohnung der Mevrouw Slotering vorbeigehen musste. Seitlich vom Hauptgebäude und dahinter lag der sehr grosse Garten, der Tines Freude erregt hatte durch die vielen Blumen, die sie da fand, und vor allem deshalb, da sie ihren kleinen Max hier oftmals werde spielen sehen.

Havelaar hatte sich bei Mevrouw Slotering entschuldigen lassen, dass er ihr noch keinen Besuch gemacht hatte. Er nahm sich vor, am folgenden Tage dorthin zu gehen, doch Tine war schon dagewesen und hatte sich vorgestellt. Wir erfuhren schon, dass diese Dame ein sogenanntes »inländisches Kind« war und keine andere Sprache redete als die malayische. Sie hatte das Verlangen geäussert, dass sie ihren eigenen Haushalt weiter führen möchte, worein Tine gern willigte. Und nicht Mangel an Gastfreundschaft war diese Einwilligung zuzuschreiben, sondern hauptsächlich der Befürchtung, dass sie, eben in Lebak angekommen und also noch nicht »in Ordnung«, Mevrouw Slotering nicht so gut würde empfangen können, als die besonderen Umstände, in denen diese Dame verkehrte, es wünschenswert machten. Wohl würden sie, die sie kein Holländisch verstand, Maxens Erzählungen nicht »stören«, wie Tine sich ausdrückte, doch es verstand sich für sie, dass mehr nötig war, als dass die Familie Slotering nicht »gestört« wurde, und die schmale Küche in Verbindung mit der beabsichtigten Sparsamkeit liessen sie wirklich den Entschluss der Mevrouw Slotering sehr vernünftig finden. Ob nun übrigens, wenn die Umstände anders gewesen wären, der Umgang mit jemandem, der nur eine Sprache sprach, in der nichts gedruckt ist, was den Geist bildet, zu beiderseitiger Befriedigung geführt hätte, bleibt zweifelhaft. Tine würde sie so gut wie möglich unterhalten und viel mit ihr über Küchensachen gesprochen haben, über Sambal-sambal, über das Einmachen von Gurken—ohne Liebig, lieber Himmel!—aber so etwas bleibt doch immer eine Aufopferung, und man empfand es also als sehr angenehm, [197]dass die Angelegenheit durch Mevrouw Sloterings freiwillige Absonderung in einer Weise erledigt war, die beiden Parteien vollkommen Freiheit liess. Indes seltsam blieb es doch, dass die Dame es nicht allein ausgeschlagen hatte, an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten teilzunehmen, sondern selbst keinen Gebrauch machte von dem Anerbieten, ihre Speisen in der Küche von Havelaars Haus bereiten zu lassen. Die Bescheidenheit, sagte Tine, wäre hier doch etwas weit getrieben, denn die Küche sei geräumig genug. [198]

Vierzehntes Kapitel.

—Sie wissen, begann Havelaar, dass die niederländischen Besitzungen an der Westküste von Sumatra an die unabhängigen Reiche in der Nordecke grenzen, von denen Atjeh das bedeutendste ist. Man sagt, dass ein geheimer Artikel in dem Traktat von 1824 gegenüber den Engländern uns die Verpflichtung auferlegt, den Fluss von Singkel nicht zu überschreiten. Der General Vandamme, der mit einem ‚faux-air Napoléon‘ gern sein Gouvernement so weit wie möglich ausbreitete, stiess also in dieser Richtung auf ein unüberwindliches Hindernis. Ich muss an das Bestehen dieses geheimen Artikels schon glauben, weil es mich anders befremden würde, dass die Radjahs von Trumon und Analabu, deren Provinzen nicht ohne Wichtigkeit sind durch den Pfefferhandel, der dort getrieben wird, nicht längst unter niederländische Souveränität gebracht sind. Sie wissen, wie leicht man einen Vorwand findet, solche Ländchen in Krieg zu verwickeln und sich zum Herrn derselben zu machen. Das Stehlen einer Landschaft wird zu allen Zeiten leichter sein als das Stehlen einer Mühle. Ich glaube von dem General Vandamme, dass er selbst eine Mühle weggenommen haben würde, wenn sie sein Gefallen fand, und begreife also nicht, wie er diese Landschaften im Norden verschont haben sollte, wenn nicht handfestere Gründe dafür bestanden als Recht und Billigkeit.

Wie dem auch sei, er richtete seine Erobererblicke nicht nach Norden, sondern ostwärts. Die Landstriche Mandhéling [199]und Ankola—dies war der Name der Assistent-Residentschaft, die gebildet wurde aus den kürzlich zur Ruhe gebrachten Battahlanden—waren wohl noch nicht gesäubert von atjinesischem Einfluss—denn wo religiöser Fanatismus einmal seine Wurzeln einschlägt, ist das Ausrotten schwierig—aber die Atjinesen selbst waren doch nicht mehr dort. Dies war gleichwohl dem Gouverneur nicht genug. Er breitete seine Herrschaft bis an die Ostküste aus, und es wurden niederländische Beamte und niederländische Garnisonen gesandt nach Bila und Pertibie, welche Posten jedoch später—wie Sie wohl wissen, Verbrugge—wieder geräumt wurden.

Als auf Sumatra ein Regierungskommissar erschien, der diese Ausbreitung zwecklos fand und sie darum missbilligte, vor allem auch, da sie in Widerstreit war mit der verzweifelten Sparsamkeit, zu der vom Mutterlande aus so sehr angetrieben wurde, behauptete der General Vandamme, dass diese Ausbreitung keinen beschwerenden Einfluss auf das Budget zu haben brauchte, denn die neuen Garnisonen seien formiert aus Truppen, für die doch schon Gelder zugestanden seien, so dass er ein sehr grosses Ländergebiet unter niederländische Verwaltung gebracht hätte, ohne dass hierfür Geldausgaben entstanden wären. Und was ferner die teilweise Entblössung anderer Plätze, hauptsächlich im Mandhélingschen, anginge, so meinte er genügend auf die Treue und Anhänglichkeit von Jang di Pertuan, dem vornehmsten Häuptling in den Battahlanden, rechnen zu können, um hierin kein Beschwer zu sehen.

Nur zögernd gab der Regierungskommissar seine Zustimmung, und zwar auf die wiederholten Versicherungen des Generals, dass er für Jang di Pertuans Treue persönlich sich zum Bürgen stelle.

Nun war der Kontrolleur, der vor mir die Abteilung Natal verwaltete, der Schwiegersohn des Assistent-Residenten in den Battahlanden, welcher Beamte mit Jang di Pertuan in Unfrieden lebte. Später habe ich viel von Klagen reden hören, die gegen diesen Assistent-Residenten erhoben waren, [200]doch man durfte nur mit Vorsicht diesen Beschuldigungen Glauben schenken, weil sie grossenteils von Jang di Pertuan ausgingen, und zwar erhoben in einem Augenblick, da dieser selbst viel schwererer Vergehen angeklagt war, was ihn vielleicht nötigte, seine Verteidigung in den Fehlern seines Beschuldigers zu suchen ... was öfter vorkommt. Wie dem sei, jener Kontrolleur und erste Beamte von Natal entbrannte für die gegen Jang di Pertuan gerichtete Partei seines Schwiegervaters, und vielleicht um so feuriger, als er mit einem gewissen Sutan Salim sehr befreundet war, einem natalschen Häuptling, der auch sehr auf den battakschen Chef ergrimmt war. Seit langer Zeit herrschte eine Fehde zwischen den Familien dieser beiden Häuptlinge. Es waren Heiratsanträge ausgeschlagen, es bestand eine Eifersucht wegen ihres Einflusses; Hochmut auf der Seite Jang di Pertuans, der von edlerer Geburt war, und noch weitere Ursachen vereinigten sich, um Natal und Mandhéling in Feindschaft gegeneinander zu erhalten.

Auf einmal verbreitete sich das Gerücht, dass in Mandhéling ein Komplott entdeckt sei, in das Jang di Pertuan verwickelt sein sollte und das darauf gerichtet war, die heilige Fahne des Aufstandes zu entfalten und alle Europäer zu ermorden. Die erste Entdeckung hiervon hatte man in Natal gemacht, was natürlich ist, da man in den anliegenden Provinzen stets besser vom Stande der Dinge unterrichtet wird als am Platze selbst, weil viele, die zu Hause aus Furcht vor einem beteiligten Häuptling sich von der Offenbarung eines ihnen bekannten Umstandes abhalten lassen, diese Furcht einigermassen überwinden, sobald sie sich auf einem Grundgebiet befinden, wo der betreffende Häuptling keinen Einfluss hat.

Das ist denn auch der Grund, Verbrugge, warum ich in den Angelegenheiten von Lebak kein Neuling mehr bin und dass ich verhältnismässig viel wusste von dem, was hier vorgeht, noch ehe ich dachte, dass ich jemals hierher versetzt würde. Ich war im Jahre 1846 im Krawangschen [201]und bin viel umhergestreift im Preanger-Gebiet, wo ich 1840 schon Flüchtlingen aus Lebak begegnete. Auch bin ich bekannt mit einigen Besitzern privater Ländereien im Buitenzorgschen und in den Bataviaschen Ommelanden und ich weiss, wie von altersher diese Landherren ihre Freude haben an dem schlechten Zustande unserer Abteilung, weil das ihr Landgebiet bevölkert.

So wird auch zu Natal die Verschwörung entdeckt sein, die—wenn sie bestanden hat, was ich nicht weiss—Jang di Pertuan als Verräter erscheinen liess. Nach Zeugenaussagen, die der Kontrolleur von Natal erlangte, sollte er im Verein mit seinem Bruder Sutan Adam die battakschen Häuptlinge in einem heiligen Hain sich versammeln lassen haben, wo sie geschworen hätten, nicht zu ruhen, bis die Herrschaft der »Christenhunde« in Mandhéling vernichtet wäre. Es versteht sich von selbst, dass er hierfür eine Eingebung vom Himmel erhalten hatte. Sie wissen, dass dies bei solchen Gelegenheiten niemals ausbleibt.

Ob nun in der That dieser Plan bei Jang di Pertuan bestanden hat, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Ich habe die Erklärungen der Zeugen gelesen, doch Sie werden gleich inne werden, warum denselben nicht unbedingt Glauben geschenkt werden darf. Gewiss ist, dass der Mann, was seinen Islam-Fanatismus angeht, wohl zu so etwas im stande gewesen sein kann. Er war mit der ganzen battakschen Bevölkerung erst kurz vorher durch die Padries zum wahren Glauben bekehrt, und Neubekehrte sind gewöhnlich fanatisch.

Die Folge dieser wirklichen oder vermeintlichen Entdeckung war, dass Jang di Pertuan durch den Assistent-Residenten von Mandhéling gefangen genommen und nach Natal transportiert wurde. Hier schloss ihn der Kontrolleur vorläufig im Fort ein und liess ihn bei der ersten passenden Schiffsgelegenheit gefänglich nach Padang überführen. Selbstverständlich legte man dem Gouverneur all die Aktenstücke vor, in denen die so belastenden Zeugnisse niedergelegt waren [202]und die die Strenge der getroffenen Massregeln rechtfertigen mussten. Unser Jang di Pertuan war demnach als ein Gefangener von Mandhéling gegangen. Zu Natal war er gefangen. An Bord des Kriegsfahrzeuges, das ihn überführte, war er natürlich auch ein Gefangener. Er erwartete also—schuldig oder nicht, dies thut hier nichts zur Sache, da er in gesetzmässiger Form und durch zuständige Autorität Hochverrats beschuldigt war—auch in Padang als ein Gefangener ankommen zu sollen. Es muss ihn wohl sehr verwundert haben, dass er bei der Ausschiffung vernahm, nicht allein, dass er frei sei, sondern dass gar der General, dessen Fuhrwerk ihn bei Betreten des Landes erwartete, es sich zur Ehre anrechnen würde, ihn bei sich im Hause zu empfangen und ihn zu beherbergen. Gewiss ist niemals ein des Hochverrats Beschuldigter angenehmer überrascht worden. Kurz darauf wurde der Assistent-Resident von Mandhéling von seinem Amte suspendiert wegen allerlei Vergehen, über die ich hier kein Urteil abgebe. Jang di Pertuan jedoch kehrte, nachdem er einige Zeit auf Padang im Hause des Generals verweilt und von diesem mit der grössten Auszeichnung behandelt war, über Natal nach Mandhéling zurück, nicht mit dem Selbstgefühl des Unschuldigerklärten, sondern mit dem Hochmut jemandes, der so hoch steht, dass er eine Erklärung seiner Unschuld nicht nötig hat. Das ist sicher: untersucht war diese Angelegenheit nicht! Selbst angenommen, dass man die gegen ihn erhobene Beschuldigung für falsch hielt, dann hätte schon dieses Vermuten eine Untersuchung erfordert, zum Zwecke, die falschen Zeugen und vor allem diejenigen zu bestrafen, von denen es sich erwies, dass sie zu diesem falschen Zeugnis verleitet hatten. Es scheint, dass der General seine Gründe hatte, diese Untersuchung nicht stattfinden zu lassen. Die gegen Jang di Pertuan erhobene Anklage wurde als ‚non avenu‘ betrachtet, und ich halte es für sicher, dass die hierauf bezüglichen Aktenstücke nie der Regierung zu Batavia vorgelegt worden sind. [203]

Kurz nach Jang di Pertuans Rückkehr kam ich in Natal an, um die Verwaltung dieser Abteilung zu übernehmen. Mein Vorgänger erzählte mir natürlich, was kurz vorher im Mandhélingschen vorgefallen war, und gab mir die nötige Aufklärung über das politische Verhältnis dieser Landschaft zu meiner Abteilung. Es war ihm nicht übel zu deuten, dass er sich sehr beklagte über die seines Erachtens ungerechte Behandlung, die seinem Schwiegervater zu teil wurde, und über den unbegreiflichen Schutz, den Jang di Pertuan offenkundig von Seiten des Generals genoss. Weder er noch ich wussten in dem Augenblick, dass die Überführung Jang di Pertuans nach Batavia dem General ein Faustschlag ins Gesicht gewesen wäre, und dass dieser—der sich persönlich für die Treue des Häuptlings haftbar gemacht hatte—begründete Ursache hatte, ihn, was es kosten mochte, zu sichern vor einer Beschuldigung wegen Hochverrats. Dies war für den General um so wichtiger, als inzwischen der vorhin erwähnte Regierungskommissar selbst Generalgouverneur geworden war und ihn also—im Zorn über das ungerechtfertigte Vertrauen auf Jang di Pertuan und über die hierauf sich stützende Hartnäckigkeit, mit der der General sich einer Räumung der Ostküste widersetzt hatte—höchstwahrscheinlich aus seinem Gouvernement abberufen haben würde.

»Doch, sagte mein Vorgänger, was auch den General bewegen möge, all den gegen meinen Schwiegervater erhobenen Beschuldigungen ohne weitere Prüfung Glauben zu schenken und die viel schwereren Anklagen gegen Jang di Pertuan nicht einmal einer Untersuchung wert zu erachten—die Sache ist noch nicht begraben hiermit! Und falls man zu Padang, wie ich vermute, die abgelegten Zeugenerklärungen vernichtet hat, so können sie hier etwas anderes sehen, das nicht vernichtet werden kann.«

Und, er zeigte mir ein Urteil des Rappat-Rates zu Natal, dessen Präsident er war, des Inhaltes: Verurteilung eines gewissen Si Pamaga zur Strafe der Geisselung und Brandmarkung und zu—wie ich meine—zwanzigjähriger [204]Zwangsarbeit, wegen Mordversuches an dem Tuanku von Natal.

»Lesen Sie einmal das Protokoll der Gerichtssitzung, sagte mein Vorgänger, und beurteilen dann, ob meinem Schwiegervater nicht geglaubt werden wird zu Batavia, wenn er da Jang di Pertuan Hochverrats anklagt!«

Ich las die Aktenstücke. Zufolge Aussagen von Zeugen und dem »Bekenntnis des Beklagten« war Si Pamaga gedungen, zu Natal den Tuanku, dessen Pflegevater Sutan Salim und den die Regierung führenden Kontrolleur zu ermorden. Er hatte sich, um diesen Plan auszuführen, nach der Wohnung des Tuanku begeben und da mit den Bedienten, die auf der Treppe der Aussengalerie sassen, ein Gespräch über einen Sewah, die Sumatra eigentümliche Dolchwaffe, angeknüpft, mit der Absicht, seine Anwesenheit auszudehnen, bis er des Tuanku ansichtig würde, der denn auch bald, umgeben von einigen Verwandten und Bedienten, sich zeigte. Pamaga war mit seinem Sewah auf den Tuanku losgegangen, hatte jedoch aus unbekannten Ursachen seinen Mordplan nicht ausführen können. Der Tuanku war erschreckt aus dem Fenster gesprungen, und Pamaga ergriff die Flucht. Er verbarg sich im Walde und wurde dann einige Tage später durch die natalsche Polizei ergriffen.

»Auf die Frage an den Beschuldigten: ‚was ihn zu diesem Anschlage und dem gegen Sutan Salim und den Kontrolleur von Natal geplanten Mordanschlag bewogen habe?‘ antwortete er: ‚er sei dazu gedungen worden durch Sutan Adam, im Namen von dessen Bruder Jang di Pertuan von Mandhéling‘.«

»Ist dies deutlich oder nicht? fragte mein Vorgänger. Das Urteil ist nach dem ‚fiat executio‘ des Residenten, was die Geisselung und Brandmarkung angeht, zur Vollstreckung gebracht, und Si Pamaga befindet sich auf dem Wege nach Padang, um von da als Kettengänger nach Java überführt zu werden. Gleichzeitig mit ihm kommen die Prozessakten dieser Sache nach Batavia, und dann kann man da sehen, [205]wer der Mann ist, auf dessen Anklage mein Schwiegervater suspendiert wurde! Dieses Urteil kann der General nicht vernichten, und wollte er es auch.«

Ich übernahm die Verwaltung der Abteilung Natal, und mein Vorgänger zog ab. Nach einiger Zeit erhielt ich den Bericht, dass der General mit einem Kriegsdampfer nach Norden komme und auch Natal besuchen werde. Er stieg mit viel Gefolge in meinem Hause ab und verlangte augenblicklich die Original-Aktenstücke zu sehen »von dem armen Mann, den man so schrecklich misshandelt hätte«.

»Die hätten selbst Geisselung und Brandmarkung verdient!« fügte er hinzu.

Mir war die ganze Sache unklar. Denn die Ursachen des Streites wegen Jang di Pertuans waren mir damals noch unbekannt, und es konnte also in mir ebensowenig der Gedanke aufkommen, dass mein Vorgänger mit Wissen und Willen einen Unschuldigen zu so schwerer Strafe verurteilt haben könne, als jener, dass der General einen Verbrecher gegen ein gerechtes Urteil in Schutz nehmen würde. Ich erhielt den Befehl, Sutan Salim und den Tuanku gefangen setzen zu lassen. Da der junge Tuanku sehr beliebt bei der Bevölkerung war und wir nur wenig Garnison im Fort hatten, so ersuchte ich den General, ihn auf freiem Fusse zu belassen, was mir auch zugestanden wurde. Doch für Sutan Salim, den besonderen Feind von Jang di Pertuan, gab es keine Gnade. Die Bevölkerung war in grosser Spannung. Die Nataler argwöhnten, dass der General sich zu einem Werkzeug mandhélingschen Hasses erniedrigte, und in dieser Situation war es, dass ich von Zeit zu Zeit etwas vollbringen konnte, was er »beherzt« nannte, vor allem, da er die geringe Macht, die im Fort entbehrt werden konnte, und das Detachement Marinesoldaten, das er von Bord mitgebracht hatte, nicht mir zur Bedeckung abstand, wenn ich an die Plätze ritt, wo man sich zusammenrottete. Ich habe bei dieser Gelegenheit wahrgenommen, dass der General sehr gut für seine eigene Sicherheit sorgte, und daher mag ich denn auch [206]in den Preis seiner Tapferkeit nicht einstimmen, bevor ich nicht mehr davon gesehen habe oder durch besondere Umstände überzeugt werde.

Er bildete in grosser Übereilung einen Rat, den ich »ad hoc« würde nennen können. Die Glieder desselben waren: ein paar Adjutanten, andere Offiziere, der Offizier der Gerichtsbarkeit oder »Fiscal«, den er von Padang mitgebracht hatte, und ich. Dieser Rat sollte eine Untersuchung darüber einleiten, in welcher Weise unter meinem Vorgänger der Prozess gegen Si Pamaga geführt worden war. Ich musste eine Anzahl Zeugen aufrufen lassen, deren Aussagen hierfür erforderlich waren. Der General, der natürlich den Vorsitz führte, stellte die Fragen, und das Protokoll wurde von dem Fiscal geführt. Da nun aber dieser Beamte wenig Malayisch verstand—und absolut nicht das Malayisch, das im Norden von Sumatra gesprochen wird—so war es oftmals nötig, ihm die Antworten der Zeugen zu verdolmetschen, was der General meistens selbst that. Aus den Sitzungen dieses Rats sind Aktenstücke hervorgegangen, die aufs deutlichste zu beweisen scheinen: dass Si Pamaga niemals den Plan gehegt hatte, jemanden, wer es auch sei, zu ermorden; dass er weder Sutan Adam noch Jang di Pertuan jemals gesehen oder gekannt hatte; dass er nicht auf den Tuanku von Natal losgesprungen war; dass dieser nicht aus dem Fenster geflüchtet war ... und so weiter. Ferner: dass das Urteil gegen den unglücklichen Si Pamaga entstanden war unter der Pression des Vorsitzenden—meines Vorgängers—und des Ratsmitgliedes Sutan Salim, welche Personen das angebliche Verbrechen Si Pamagas ersonnen hätten, um dem suspendierten Assistent-Residenten von Mandhéling eine Waffe zu seiner Verteidigung in die Hand zu geben und um ihrem Hass gegen Jang di Pertuan Luft zu verschaffen.

Die Art und Weise nun, wie der General bei dieser Gelegenheit die Fragen an die Zeugen stellte, erinnerte an die Whistpartie jenes Kaisers von Marokko, der seinem Partner zuraunte: »Spiel’ Herzen, oder ich schneide dir den [207]Hals ab!« Auch die Übersetzungen, wie er sie dem Fiscal in die Feder diktierte, liessen viel zu wünschen übrig.

Ob nun Sutan Salim und mein Vorgänger eine Pression auf den natalschen Gerichtsrat ausgeübt haben, dass er Si Pamaga schuldig erkläre, ist mir unbekannt. Aber wohl weiss ich, dass der General Vandamme eine Pression auf die Erklärungen ausgeübt hat, die des Mannes Unschuld beweisen sollten. Ohne noch in dem Augenblick von den hierbei obwaltenden tieferen Gründen zu wissen, habe ich mich doch dieser ... Ungenauigkeit widersetzt, die eben so weit ging, dass ich mich einige Protokolle zu unterzeichnen habe weigern müssen, und da haben Sie nun die Angelegenheit, in der ich dem General »so widersprochen« hatte. Sie begreifen nun auch, worauf die Worte hinzielen, mit denen ich die Beantwortung auf die Aussetzungen, die auf meine geldliche Verwaltung gefallen waren, schloss, die Worte, durch die ich ersuchte, mich von allen wohlwollenden Erwägungen verschont zu lassen.

—Das war in der That sehr stark für jemanden in Ihren Jahren, sagte Duclari.

—Mir war das natürlich. Doch gewiss ist, dass der General Vandamme so etwas nicht gewohnt war. Ich habe denn auch unter den Folgen dieser Sache viel zu leiden gehabt. O nein, Verbrugge, ich sehe, was Sie sagen wollen ... gereut hat es mich nie. Ich muss sogar noch hinzufügen, dass ich mich nicht auf den einfachen Protest gegen die Art, wie der General die Zeugen befragte, und nicht auf die Weigerung, zu einzelnen Protokollen meine Handzeichnung zu geben, beschränkt haben würde, wenn ich damals schon hätte vermuten können, was ich erst später erfuhr, dass dies alles nur hervorging aus der von vornherein festgelegten Absicht, meinen Vorgänger zu belasten. Ich glaubte aber, dass der General, überzeugt von Si Pamagas Unschuld, sich durch die achtenswerte Leidenschaft fortreissen liess, ein unschuldiges Schlachtopfer von den Folgen eines Rechtsirrtums zu retten, soweit dies nach der Geisselung [208]und Brandmarkung noch möglich war. Diese meine Meinung genügte wohl, mich einer Fälschung zu widersetzen, doch ich war über die Sache nicht so entrüstet, wie ich es gewesen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass es sich hier keineswegs um die Rettung eines Unschuldigen handelte, sondern dass diese Fälschung den Zweck hatte, auf Kosten der Ehre und des Wohlergehens meines Vorgängers die Beweise zu vernichten, die der Politik des Generals im Wege standen.

—Und wie erging es weiterhin Ihrem Vorgänger? fragte Verbrugge.

—Zu seinem Glück war er schon nach Java gereist, bevor der General nach Padang zurückkehrte. Es scheint, dass er sich vor der Regierung zu Batavia hat verantworten können, wenigstens ist er in Dienst geblieben. Der Resident von Ayer-Pangie, der dem Urteil das ‚fiat executio‘ verliehen hatte, wurde ...

—Suspendiert?

—Natürlich! Sie sehen, dass ich nicht so ganz unrecht hatte, als ich in meinem Epigramm sagte, dass der Gouverneur suspendierend uns regierte.

—Und was ist nun aus all diesen suspendierten Beamten geworden?

—O, es waren deren noch viel mehr! Alle, einer nach dem andern, sind in ihre Ämter wieder eingesetzt. Einzelne von ihnen haben später sehr angesehene Posten bekleidet.

—Und Sutan Salim?

—Der General führte ihn gefänglich mit nach Padang, und von da wurde er als Verbannter nach Java gesandt. Er ist jetzt noch zu Tjanjor in den Preanger Regentschaften. Als ich im Jahre 1846 dort war, habe ich ihm einen Besuch abgestattet. Weisst du noch, was ich in Tjanjor anstellte, Tine?

—Nein, Max, das ist mir gänzlich entfallen.

—Wer kann auch alles behalten! Ich bin da getraut, meine Herren!

—Aber, fragte Duclari, da Sie nun doch einmal am [209]Erzählen sind: darf ich fragen, ob es wahr ist, dass Sie zu Padang sich so häufig duellierten?

—Ja, sehr häufig, und dazu war Veranlassung. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass die Gunst des Gouverneurs auf derartigen Aussenposten der Massstab ist, nach welchem viele ihr Wohlwollen bemessen. Die meisten waren also durchaus nicht wohlwollend gegen mich, und oft ging dies über in Grobheit. Ich meinerseits war reizbar. Ein nicht erwiderter Gruss, eine beissende Bemerkung auf die »Thorheit jemandes, der es gegen den General aufnehmen wolle«, eine Anspielung auf meine Armut, auf mein Hungerleiden, die Äusserung, dass »die sittliche Unabhängigkeit ihren Mann schlecht zu nähren scheine« ... dies alles, begreifen Sie wohl, machte mich bitter. Viele, besonders Offiziere, wussten, dass der General nicht ungern sah, dass man sich schlug, und vor allem mit jemandem, der so in Ungnade stand wie ich. Vielleicht also reizte man mein Zartgefühl mit Vorbedacht. Auch schlug ich mich wohl einmal für einen andern, den man nach meiner Meinung verletzt hatte. Wie dem sei, das Duell war dort in der Zeit an der Tagesordnung, und mehr als einmal ist es vorgekommen, dass ich zwei Stelldichein hatte an einem Morgen. O, es liegt viel Anziehendes im Duell, vor allem im Duell mit Säbel, oder »auf« Säbel, wie man’s ... ich weiss nicht, warum ... nennt. Sie verstehen aber wohl, dass ich dergleichen nun nicht mehr thun würde, auch wenn dazu soviel Anlass wäre wie in jenen Tagen ... komm mal her, Max—nein, fang’ das Tierchen nicht—komm her. Hör mal, du musst niemals Schmetterlinge fangen. Das arme Tier ist erst lange Zeit als Raupe auf einem Baume herumgekrochen, das war kein fröhliches Leben! Nun hat es gerade Flügel gekriegt und will in der Luft umherfliegen und sich des Lebens freuen und sucht Nahrung in den Bäumen und thut niemandem was zu Leide ... sieh doch, ist es nicht viel netter, es da so umherflattern zu sehen?

So kam das Gespräch von den Duellen auf die Schmetterlinge, auf das Erbarmen des Gerechten über sein Vieh, auf [210]das Tierquälen, auf die »loi Grammont«, auf die Nationalversammlung, in der dies Gesetz zur Annahme gelangte, auf die Republik und auf hundert andere Dinge noch!

Endlich stand Havelaar auf. Er entschuldigte sich bei seinen Gästen, weil ihn Geschäfte riefen. Als der Kontrolleur ihn am folgenden Morgen auf seinem Bureau besuchte, wusste er nicht, dass der neue Assistent-Resident am Tage zuvor nach der Unterhaltung in der Vorgalerie nach Parang-Kudjang—dem Distrikt der »weitgehenden Missbräuche«—ausgeritten und erst diesen Morgen in der Frühe von dort zurückgekehrt war.


Ich bitte den Leser, zu glauben, dass Havelaar zuviel Takt besass, um an seinem eigenen Tisch soviel zu reden, wie ich in den letzten Kapiteln angeführt habe, und wodurch ich auf ihn den Schein lade, als hätte er sich des Gesprächs Meister gemacht, mit Verletzung der Pflichten eines Gastherrn, die vorschreiben, dass man seinen Gästen die Gelegenheit lasse oder schaffe, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen. Ich habe ein paar Griffe in die Baustoffe gethan, die vor mir liegen, und hätte die Tischgespräche vor dem Leser noch weiter ausbreiten können, und zwar mit geringerer Mühe, als mich das Abgehen von denselben gekostet hat. Ich hoffe indes, dass das hier Mitgeteilte genügen wird, um einigermassen die Beschreibung zu rechtfertigen, die ich von Havelaars Naturell und seinen Qualitäten gegeben habe, und hoffe, dass der Leser nicht ganz ohne Teilnahme von den Schicksalsfällen Akt nimmt, die seiner und der Seinen zu Rangkas-Betung warteten.

Die kleine Familie lebte still fort. Havelaar war häufig über Tage aus und brachte halbe Nächte auf seinem Bureau zu. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Kommandanten der kleinen Garnison war das allerangenehmste, und auch in dem häuslichen Umgang mit dem Kontrolleur war keine Spur von der Rangverschiedenheit zu entdecken, die sonst in Indien [211]den Verkehr so oft steif und unerquicklich macht, während Havelaars Ehrgeiz, Hülfe zu leihen, wo er nur einigermassen konnte, häufig dem Regenten zu statten kam, der sich denn auch sehr eingenommen zeigte für seinen »älteren Bruder«. Und schliesslich trug Mevrouw Havelaars liebenswürdige Anmut viel zu einem angenehmen Verkehr mit den wenigen am Platze anwesenden Europäern und den eingeborenen Häuptlingen bei. Die Dienstkorrespondenz mit dem Residenten zu Serang trug Zeichen gegenseitigen Wohlwollens, während die Befehle des Residenten, mit Höflichkeit gegeben, streng befolgt wurden.

Tines Hauswirtschaft war schnell geregelt. Nach langem Warten waren die Möbel von Batavia angekommen, und es waren Gurken in Salz eingelegt, und wenn Max bei Tische etwas erzählte, geschah dies fernerhin nicht mehr aus Mangel an Eiern für die Omelette, wiewohl doch immer die Lebensweise der kleinen Familie deutlich erkennen liess, dass die zur Richtschnur genommene Sparsamkeit innegehalten wurde.

Mevrouw Slotering verliess selten ihr Haus und nahm nur einige Male in der Vorgalerie den Thee bei der Familie Havelaar ein. Sie sprach wenig und hatte stets ein wachsames Auge auf jeden, der sich ihrer oder Havelaars Wohnung näherte. Man war aber dies Verhalten an ihr, das man ihre »Monomanie« zu nennen begann, gewohnt geworden und achtete bald nicht mehr darauf.

Alles schien Ruhe zu atmen, denn für Max und Tine war es eine verhältnismässige Kleinigkeit, sich in Entbehrungen zu finden, die auf einem nicht am grossen Wege gelegenen Binnenposten unvermeidlich sind. Da am Platze kein Brot gebacken wurde, ass man kein Brot. Man hätte es von Serang kommen lassen können, doch die Transportkosten waren zu hoch. Max wusste so gut wie jeder andere, dass viele Mittel zu finden waren, ohne Bezahlung Brot nach Rangkas-Betung bringen zu lassen, doch unbezahlte Arbeit, dieser indische Krebsschaden, war ihm ein Greuel. So war vieles zu Lebak, das wohl durch den Einfluss der Stellung ohne [212]Gegenleistung zu verschaffen, jedoch nicht für einen billigen Preis feil war, und unter diesen Umständen schickten sich Havelaar und seine Tine gern darein, es zu entbehren. Sie hatten ja schon andere Entbehrungen erlitten! Hatte die arme Frau nicht Monate an Bord eines arabischen Fahrzeuges zugebracht, ohne eine andere Lagerstätte als das Schiffsdeck, ohne anderen Schutz gegen Sonnenhitze und Westmūsson-Regenböen als ein Tischchen, zwischen dessen Füsse sie sich einzwängen musste? Musste sie sich nicht auf dem Schiffe mit einer kleinen Ration trockenen Reises und fauligen Wassers zufrieden geben? Und war sie nicht in diesen und vielen anderen Verhältnissen stets zufrieden gewesen, wenn sie nur mit ihrem Max zusammen sein konnte?

Einen Umstand jedoch gab es zu Lebak, der ihr Verdruss bereitete: der kleine Max konnte nicht in dem Garten spielen, weil da so viel Schlangen waren. Als sie dies bemerkte und hierüber sich bei Havelaar beklagte, setzte dieser den Bedienten einen Preis aus für jede Schlange, die sie fangen würden, doch schon die ersten Tage bezahlte er soviel an Prämien, dass er sein Versprechen für weiterhin einziehen musste, denn auch unter gewöhnlichen Verhältnissen und also ohne die für ihn so dringende Sparsamkeit würde die Bezahlung bald über seine Mittel hinausgegangen sein. Es wurde also bestimmt, dass der kleine Max fortan das Haus nicht mehr verlassen dürfe, und dass er sich, um frische Luft zu geniessen, mit Spielen in der Vorgalerie begnügen müsse. Trotz dieser Vorsorge war Tine doch stets ängstlich und besonders abends, da man weiss, wie Schlangen häufig in die Häuser kriechen und sich, Wärme suchend, in den Schlafzimmern verbergen.

Schlangen und dergleichen Ungeziefer findet man zwar in Indien überall, doch an den grösseren Hauptplätzen, wo die Bevölkerung dichter gedrängt wohnt, kommen sie natürlich seltener vor als in mehr wilden Gegenden wie zu Rangkas-Betung. Wenn aber Havelaar sich hätte entschliessen können, sein Erbe bis an den Rand des Ravijn von Unkraut reinigen [213]zu lassen, würden sich die Schlangen von Zeit zu Zeit doch wohl immer noch im Garten gezeigt haben, wenn auch nicht in so grosser Menge, wie es nun der Fall war. Die Natur dieser Tiere lässt sie Dunkelheit und Schlupfwinkel dem Licht offener Plätze vorziehen, so dass, wenn Havelaars Erbe rein gehalten worden wäre, die Schlangen nur unabsichtlich und sich verirrend das Unkraut in dem Ravijn verlassen haben würden. Aber das Erbe von Havelaars Haus war nicht rein, und ich möchte den Grund hiervon angeben, da er ein Licht mehr wirft auf die Missbräuche, die beinahe überall in den Niederländisch-Indischen Besitzungen herrschend sind.

Die Wohnungen der Statthalter in den Binnenlanden stehen auf Grund, der den Gemeinden gehört, insoweit man von Gemeinde-Eigentum sprechen kann in einem Lande, wo die Regierung sich alles aneignet. Genug, dieses Erbe ist nicht dem amtlichen Bewohner zugehörig. Dieser würde, wenn das der Fall wäre, sich jedenfalls hüten, einen Grund zu kaufen oder zu mieten, dessen Unterhaltung über seine Kräfte ginge. Wenn nun das Erbe der ihm angewiesenen Wohnung zu gross ist, um gehörig unterhalten zu werden, so würde es bei dem üppigen tropischen Pflanzenwuchs binnen kurzer Zeit in eine Wildnis ausarten. Und doch sieht man selten oder niemals ein solches Erbe schlecht in Stand gehalten. Ja, manchmal gar ergreift den Reisenden Bewunderung angesichts des schönen Parks, der eine Residentenwohnung umgiebt. Kein Beamter in den Binnenlanden hat Einkommen genug, um die hierfür erforderliche Arbeit gegen gehörige Bezahlung verrichten zu lassen, und da nun doch das würdige Ansehen der Wohnung des Statthalters ein Erfordernis ist, damit nicht die Bevölkerung, die auf Äusserlichkeiten ausserordentlichen Wert legt, in solcher Unsauberkeit Grund zu geringerem Respekt finde, so wirft sich die Frage auf, wie dann dieses Ziel erreicht wird. An den meisten Plätzen haben die Statthalter Verfügung über einige Kettengänger, d. h. anderswo verurteilte Verbrecher, welche Art [214]Arbeitskräfte jedoch in Bantam aus mehr oder minder zureichenden Gründen politischer Art nicht vorhanden war. Doch auch an Plätzen, wo sich wohl derartige Verurteilte befinden, steht ihre Anzahl, vor allem, wenn man die Notwendigkeit anderer Arbeiten in Betracht zieht, selten in richtigem Verhältnis zu der Arbeit, die erforderlich wäre, um ein grosses Erbe gut zu unterhalten. Es müssen also andere Mittel gefunden werden, und die Aufrufung von Arbeitern zur Verrichtung von Herrendienst ist nahe gelegen. Der Regent oder der Dhemang, dem eine solche Aufrufung in die Hand gegeben wird, beeilt sich, ihr Erfolg zu verleihen, denn er weiss sehr gut, dass es dem gewalthabenden Beamten, der diese Gewalt missbraucht, späterhin schwer fallen wird, ein Inländisches Haupt wegen eines gleichen Fehlers zu bestrafen. Und also dient der Verstoss des einen als Freibrief für den andern.

Es dünkt mich jedoch, dass dieser Fehler eines gewalthabenden Beamten in einzelnen Fällen nicht allzu streng, und vor allem nicht nach europäischen Begriffen beurteilt werden darf. Die Bevölkerung selbst würde es—vielleicht, da es ihr ungewohnt ist—sehr sonderbar finden, wenn er stets und in allen Fällen sich streng an die Vorschriften hielte, die die Zahl der für sein Erbe bestimmten Herrendienstpflichtigen vorschreiben, da Umstände eintreten können, die in diesen Bestimmungen nicht vorgesehen sind. Doch sobald einmal die Grenze des streng Gesetzlichen überschritten ist, wird es schwer, einen Punkt anzugeben, wo eine solche Überschreitung in strafwürdige Willkür übergehen würde, und vor allem wird grosse Vorsicht Pflicht, sobald man weiss, dass die Häuptlinge nur auf ein schlechtes Beispiel warten, um ihm mit weitgehender Verallgemeinerung nachzufolgen. Die Geschichte von jenem König, der nicht wollte, dass man die Bezahlung eines Kornes Salz vergässe, das er bei seinem einfachen Mahle gebraucht hatte, als er an der Spitze seines Heeres das Land durchzog—weil, wie er sagte, dies der Beginn eines Unrechts wäre, das schliesslich sein ganzes [215]Reich vernichten würde—möge er nun Timurleng, Nureddin oder Djengis-Khan geheissen haben, gewiss ist, dass entweder diese Fabel, oder, wenn es keine Fabel ist, dass dieser Vorfall selbst nach Asien zu verweisen ist. Und wie der Anblick von Seedeichen an die Möglichkeit von Hochwasser glauben lässt, ebenso mag man annehmen, dass Neigung zu solchen Missbräuchen in einem Lande besteht, wo solche warnenden Lehren gegeben werden.

Die geringe Zahl von Leuten nun, über die Havelaar gesetzlich zu verfügen hatte, konnte nicht mehr als nur einen sehr kleinen Teil seines Erbes, der unmittelbar sein Haus umgab, von Unkraut und Gestrüpp freihalten. Das übrige war binnen wenigen Wochen eine völlige Wildnis. Havelaar schrieb an den Residenten wegen der Mittel, dem abzuhelfen, sei es nun durch eine Geldzulage, sei es, indem der Regierung vorgestellt werde, dass sie ebenso wie anderswo Kettengänger in der Residentschaft Bantam arbeiten lasse. Er erhielt hierauf eine abschlägige Antwort, mit der Bemerkung, dass er allerdings das Recht hätte, die Personen, die von ihm durch Polizeiurteil zu »Arbeit am öffentlichen Wege« verurteilt seien, auf seinem Erbe in Arbeit zu stellen. Dies wusste Havelaar selbst wohl, oder wenigstens war es ihm hinlänglich bekannt, dass derartige Verfügung über Verurteilte überall die gewöhnlichste Sache von der Welt war, aber niemals hatte er—weder in Rangkas-Betung, noch in Amboina, noch in Menado, noch in Natal—von diesem vermeintlichen Recht Gebrauch machen wollen. Es widerstrebte ihm, zur Busse für kleine Vergehen seinen Garten unterhalten zu lassen, und mehrfach hatte er sich die Frage vorgelegt, wie die Regierung Bestimmungen bestehen lassen könne, die geeignet sind, den Beamten in Versuchung zu bringen, kleine verzeihliche Fehler zu strafen, und zwar im Verhältnis nicht zu dem Vergehen, sondern zu dem Zustande oder der Ausgedehntheit seines Erbes! Der Gedanke allein, dass der Gestrafte, auch sogar der, der zu Recht gestraft war, vermeinen könne, dass sich Eigennutz hinter dem gefällten Urteil verstecke, liess ihn, [216]wo er strafen musste, stets der andererseits sehr zu missbilligenden Einkerkerung den Vorzug geben.

Und daran lag es, dass der kleine Max nicht in dem Garten spielen durfte und dass auch Tine nicht soviel Freude an den Blumen vergönnt war, wie sie sich am Tage ihrer Ankunft in Rangkas-Betung vorgestellt hatte.

Es versteht sich, dass diese und ähnliche kleine Verdriesslichkeiten keinen Einfluss auf die Stimmung einer Familie ausübten, die soviel Baustoffe besass, um sich ein glückliches häusliches Leben zu zimmern, und nicht solchen Kleinigkeiten war es denn auch zuzuschreiben, wenn Havelaar zuweilen mit bewölkter Stirn eintrat, von einer Reise zurückgekehrt oder nachdem er diesen und jenen angehört, der ihn zu sprechen verlangt hatte. Wir haben aus seiner Ansprache an die Häuptlinge gehört, dass er seine Pflicht thun, dass er dem Unrecht entgegentreten wollte, und ich hoffe, dass daneben ihn der Leser aus den Gesprächen, die ich mitteilte, als jemanden kennen lernte, der wohl imstande war, etwas zu ergründen und zur Klarheit zu bringen, was für manchen andern verborgen war oder in Dunkel lag. Wir können also annehmen, dass nicht viel von dem, was in Lebak vorging, seiner Aufmerksamkeit entging. Auch sahen wir, dass er viele Jahre vorher der Abteilung Beachtung geschenkt hatte, sodass er schon am ersten Tage, als er Verbrugge in der Pendoppo begegnete, in der meine Erzählung beginnt, zu erkennen gab, dass ihm sein neuer Wirkungskreis nicht fremd sei. Er hatte durch Nachforschung an den Plätzen selbst vieles bestätigt gefunden, was er früher vermutete, und insonderheit aus dem Archiv war es ihm klar geworden, dass der Landstrich, dessen Verwaltung seiner Fürsorge anvertraut war, sich wirklich in einem höchst traurigen Zustande befand.

Aus Briefen und Aufzeichnungen seines Vorgängers zeigte es sich ihm, dass dieser dieselben Erfahrungen gewonnen hatte. Die Korrespondenz mit den Häuptlingen enthielt Verweis auf Verweis, Bedrohung auf Bedrohung, und aus allem wurde es sehr begreiflich, wie dieser Beamte schliesslich gesagt [217]haben mochte, dass er sich direkt an die Regierung wenden werde, wenn diesem Stande der Dinge nicht ein Ende gemacht würde.

Als Verbrugge Havelaar dies mitteilte, hatte dieser geantwortet, sein Vorgänger würde nicht recht daran gethan haben, da der Assistent-Resident von Lebak auf keinen Fall den Residenten von Bantam übergehen dürfe, und er hatte hinzugefügt, dass dies auch durch nichts gerechtfertigt erscheinen würde, denn man dürfe doch wohl nicht annehmen, dass dieser hohe Beamte für Erpressung und Wucherei Partei ergreifen werde.

Eine solche Parteinahme war denn auch in Wahrheit nicht anzunehmen in dem Sinne, wie es Havelaar meinte, nicht so nämlich, als ob dem Residenten irgend ein Vorteil oder Gewinn aus diesen Vergehen zufiele. Allein, es bestand doch eine Ursache, die ihn bewog, nur sehr ungern auf die Klagen von Havelaars Vorgänger Recht zu schaffen. Wir haben gesehen, wie dieser Vorgänger mehrfach mit dem Residenten über die herrschenden Missbräuche gesprochen—»abouchiert« nannte es Verbrugge—und wie wenig es ihm geholfen hatte. Es ermangelt also nicht des Interesses, zu untersuchen, warum ein so hochgestellter Beamter, der als Haupt der ganzen Residentschaft ebensosehr wie der Assistent-Resident, ja, mehr noch als dieser besorgt sein musste, dass Recht geschähe, fast immer Gründe zu haben meinte, dieses Rechtes Lauf aufzuhalten.

Schon in Serang, als Havelaar dort im Hause des Residenten verweilte, hatte er mit diesem über die Lebakschen Missbräuche geredet und hierbei zur Antwort bekommen: »dass all dies in höherem oder geringerem Masse überall der Fall wäre«. Das konnte Havelaar nun nicht leugnen. Wer wollte wohl behaupten, dass er ein Land gesehen habe, wo kein Unrecht geschähe? Doch er war der Meinung, dass das kein Beweggrund sei, die Missbräuche, wo man sie fand, bestehen zu lassen, vor allem nicht, wenn man ausdrücklich berufen war, ihnen entgegenzutreten, und meinte auch, dass [218]nach allem, was er von Lebak wüsste, hier keine Rede wäre von höherem oder geringerem, sondern vielmehr von sehr hohem Masse, worauf ihm der Resident unter anderm antwortete: »dass es in der Abteilung Tjiringien—auch zu Bantam gehörend—noch ärger bestellt sei«.

Wenn man nun annimmt, wie man annehmen kann, dass ein Resident keinen direkten Vorteil von Erpressung und willkürlicher Verfügung über die Bevölkerung hat, so tritt die Frage auf, was denn so viele bewegt, im Widerspruch mit Eid und Pflicht solche Missbräuche bestehen zu lassen, ohne der Regierung hiervon Kenntnis zu geben? Und wer hierüber nachdenkt, muss es schon sehr sonderbar finden, dass man so kaltblütig die Existenz dieser Missbräuche zugiebt, als hätte man mit etwas zu thun, das ausser Bereich oder Zuständigkeit läge. Ich will versuchen, die Ursachen hiervon darzulegen.

Im allgemeinen schon ist das Überbringen einer schlechten Nachricht eine unangenehme Sache, und es scheint gar, als wenn von dem ungünstigen Eindruck, den sie hervorruft, etwas an dem kleben bliebe, dem die verdriessliche Aufgabe zufiel, solche Nachrichten mitzuteilen. Wenn nun dies allein schon für manchen ein Grund sein würde, gegen besseres Wissen das Bestehen eines ungünstigen Umstandes zu leugnen, wieviel mehr wird dies dann der Fall, wenn man Gefahr läuft, nicht allein sich die Ungnade auf den Hals zu laden, die nun einmal das Los des Überbringers schlechter Berichte scheint, sondern zugleich auch als die Ursache des ungünstigen Zustandes angesehen zu werden, den man pflichtgemäss offenbart.

Die Regierung von Niederländisch-Indien schreibt mit Vorliebe an ihre Vorgesetzten im Mutterland, dass alles nach Wunsch gehe. Die Residenten melden dies gern an ihre Regierung. Die Assistent-Residenten, die selbst von ihren Kontrolleuren fast nur günstige Berichte empfangen, senden auch ihrerseits am liebsten keine unangenehmen Nachrichten an die Residenten. Daraus entspringt in der offiziellen und [219]schriftlichen Behandlung der Geschäfte ein gekünstelter Optimismus, im Widerspruch nicht allein mit der Wahrheit, sondern auch mit den eigenen Äusserungen dieser Optimisten selbst, sobald sie dieselben Angelegenheiten mündlich behandeln, und—noch sonderbarer—häufig selbst in Widerspruch mit ihren eigenen geschriebenen Berichten. Ich würde viele Beispiele von Rapporten anführen können, die den günstigen Zustand einer Residentschaft bis in den Himmel erheben, jedoch zugleich, besonders wo die Zahlen reden, sich selbst Lügen strafen. Diese Beispiele würden, wenn nicht die Sache wegen der schliesslichen Folgen zu ernst wäre, Anlass zu Spott und Gelächter geben, und man stutzt über die Naivetät, mit der häufig in solchem Fall die gröbsten Unwahrheiten aufrecht erhalten und hingenommen werden, bietet gleichwohl der Schreiber wenige Sätze weiter die Waffen, mit denen diese Unwahrheiten sich bekämpfen lassen. Ich werde mich auf ein einziges Beispiel beschränken, das ich um sehr viele andere vermehren könnte. Unter den Schriftstücken, die mir vorliegen, finde ich den Jahresbericht einer Residentschaft. Der Resident rühmt den Handel, der dort blüht, und behauptet, dass in der ganzen Landschaft grösste Wohlfahrt und Betriebsamkeit wahrgenommen werde. Indessen ein wenig weiter, wo er über die geringen Mittel spricht, die ihm zur Verfügung stehen, um dem Schmuggel zu wehren, will er im selben Moment dem unangenehmen Eindruck zuvorkommen, der bei der Regierung erreicht werden würde durch die Meinung, dass ihr also in dieser Residentschaft viel Einfuhrzoll entginge. »Nein, sagt er, darum braucht man nicht besorgt zu sein! Es wird in meiner Residentschaft wenig oder nichts durch Schmuggel eingeführt, denn ... es ist in diesen Gegenden so geringer Geschäftsumsatz, dass niemand hier sein Kapital in Handel anzulegen wagen würde.«

Ich habe einen Bericht dieser Art gelesen, der anfing mit den Worten: »Im abgelaufenen Jahr ist die Ruhe ruhig geblieben.« Solche Wendungen zeugen freilich von einer [220]sehr ruhigen Beruhigung darüber, dass die Regierung jedem stille halten werde, der ihr unangenehme Nachrichten erspart, oder der, wie der terminus lautet, »ihr nicht lästig fällt« mit unangenehmen Berichten!

Wo die Bevölkerung nicht zunimmt, ist dies Ungenauigkeiten in den Zählungen der früheren Jahre zuzuschreiben. Wo die Abgaben nicht steigen, macht man sich ein Verdienst daraus: die Absicht ist, durch niedrige Einschätzung den Landbau zu ermutigen, der sich gerade nun zu entwickeln beginne, und alsbald—meistens, wenn der Berichterstatter abgetreten ist—unerhörte Früchte abwerfen müsse. Wo Ordnungsstörung auftrat, die nicht verborgen bleiben konnte, war dies das Werk einiger weniger Übelgesinnter, die in Zukunft nicht mehr zu fürchten seien, da »allgemeine« Zufriedenheit herrsche. Wo Mangel oder Hungersnot die Bevölkerung gelichtet hatte, war dies eine Folge von Misswuchs, von Trockenheit, Regen oder ähnlichem, niemals von schlechter Verwaltung.

Die Note von Havelaars Vorgänger, worin er »die Verminderung des Volksbestandes im Distrikt Parang-Kudjang weitgehendem Missbrauch« zuschrieb, habe ich vor mir liegen. Diese Note war inoffiziell, und sie umfasste Punkte, über die dieser Beamte mit dem Residenten von Bantam zu sprechen hatte. Aber vergebens suchte Havelaar im Archiv nach einem Beweise, dass sein Vorgänger dieselbe Sache ritterlich in einem offenbaren Dienstschreiben beim wahren Namen genannt hatte.

Kurz, die offiziellen Berichte der Beamten an das Gouvernement, und also auch die darauf gegründeten Rapporte an die Regierung im Mutterland sind zum grössten und wichtigsten Teile: unwahr.

Ich weiss, dass diese Beschuldigung gewichtig ist, doch ich halte sie aufrecht und fühle mich vollkommen im stande, sie mit Beweisen zu stützen. Wer erzürnt sein mag über diese unverschleierte Äusserung meiner Meinung, der bedenke, wie viele Millionen aus dem Staatssäckel und wie viele Menschenleben [221]England erspart worden wären, wenn man zeitig der Nation die Augen geöffnet hätte für den wahren Gang der Dinge in Britisch-Indien, und wie grosse Dankbarkeit man dem Manne schuldig gewesen wäre, der den Mut gezeigt hätte, der Hiobsbote zu sein, ehe es zu spät war, den Elementen des Irrtums wieder ihre rechten Bahnen zu weisen auf weniger blutige Art, als es nun wohl notwendig geworden war.

Ich sagte, dass ich meine Beschuldigungen mit Beweisen stützen könne. Wo es nötig ist, werde ich zeigen, dass häufig Hungersnot herrschte in Gegenden, die als Muster von Wohlfahrt gerühmt wurden, und dass mehrmals eine Bevölkerung, die als ruhig und zufrieden angegeben wird, auf dem Punkte stand, in Raserei auszubrechen. Es liegt nicht in meinem Plan, diese Beweise in diesem Buche zu liefern, vertraue ich gleich, dass man es nicht aus der Hand legen wird, ohne zu glauben, dass sie vorhanden sind.

Für den Augenblick beschränke ich mich darauf, noch ein einziges Beispiel von dem lächerlichen Optimismus zu geben, dessen ich vorher Erwähnung that, ein Beispiel, das von jedem, sei er nun vertraut oder nicht vertraut mit den Angelegenheiten in Indien, leicht verstanden werden kann.

Jeder Resident reicht monatlich einen Rapport von dem Reis ein, der in seine Landschaft eingeführt oder aus dieser nach anderswohin versandt ist. Bei diesem Rapport wird die Ausfuhr in zwei Teilen aufgeführt, je nachdem sie sich auf Java selbst beschränkt oder sich weiter erstreckt. Wenn man nun die Menge Reises ins Auge fasst, welche nach diesen Rapporten übergeführt ist aus Residentschaften auf Java nach Residenschaften auf Java, wird man feststellen, dass diese Menge viele Tausende Pikols mehr beträgt als der Reis, der—nach denselben Rapporten—in Residentschaften auf Java aus Residentschaften auf Java eingeführt ist.

Ich übergehe nun mit Stillschweigen, was man zu denken hat von dem Scharfsinn der Regierung, die solche Rapporte [222]annimmt und publiziert, und will den Leser nur auf die Absicht bei dieser Fälschung aufmerksam machen.

Die prozentweise Belohnung, die europäischen und eingeborenen Beamten für Produkte zusteht, die in Europa verkauft werden sollen, hat den Reisbau derart in den Hintergrund gedrängt, dass in etlichen Landschaften eine Hungersnot aufgetreten ist, die den Augen der Nation durch kein Kunststück mehr entzogen werden konnte. Ich habe bereits gesagt, dass darauf Vorschriften erlassen worden sind, dass man die Dinge nicht wieder so weit kommen lassen dürfe. Zu den vielen Gefolgschaften dieser Vorschriften gehörten auch die von mir genannten Rapporte über aus- und eingeführten Reis, damit die Regierung fortwährend ein Auge auf Ebbe und Flut dieses Lebensmittels haben könne. Ausfuhr aus einer Residentschaft bedeutet: Wohlstand, Einfuhr: entsprechenden Mangel.

Wenn man nun die Rapporte untersucht und vergleicht, stellt sich heraus, dass der Reis überall so im Überfluss ist, dass alle Residentschaften zusammen mehr Reis ausführen als in allen Residentschaften zusammen eingeführt wird. Ich wiederhole, dass hier keine Rede ist von Ausfuhr über See, der im Rapport ein besonderer Platz angewiesen ist. Der logische Schluss hiervon ist also die widersinnige Behauptung: dass mehr Reis auf Java ist, als Reis dort ist. Das ist doch Wohlstand!

Ich sagte schon, dass die Sucht, der Regierung niemals andere als nur gute Berichte zu bieten, ins Lächerliche übergehend erscheinen würde, wenn nicht die Folgen von dem allen so traurig wären. Wie ist denn Genesung von den vielen Irrtümern zu erhoffen, wenn von vornherein der Plan besteht, in den Berichten an die Vorgesetzten alles zu verkehren und zu verdrehen? Was ist zum Beispiel von einer Bevölkerung zu erwarten, die, ihrem Wesen nach sanft und schmiegsam, seit Jahren, Jahren über Unterdrückung klagt, wenn sie die Residenten einen nach dem anderen mit Urlaub oder Pension abtreten oder in ein anderes Amt berufen sieht, [223]ohne dass irgend etwas für die Beseitigung des Kummers geschieht, unter dem sie gebeugt geht! Muss nicht die gespannte Feder endlich zurückspringen? Muss nicht die so lange unterdrückte Unzufriedenheit—unterdrückt, damit man fortfahren könne, sie zu leugnen!—endlich in Wut umschlagen, in Verzweiflung, in Raserei? Wartet nicht eine Jacquerie am Ende dieses Weges?

Und wo werden dann die Beamten sein, die seit Jahren aufeinander folgten, ohne jemals auf den Gedanken gekommen zu sein, dass etwas Höheres besteht denn die »Gunst der Regierung«? Etwas Höheres als die »Zufriedenheit des Generalgouverneurs«? Wo werden sie dann sein, die Verfasser der flauen Berichte, die die Augen der Regierung mit ihren Unwahrheiten blendeten? Werden dann die, die früher des Mutes entbehrten, ein herzhaftes Wort zu Papier bringen, zu den Waffen eilen und die Niederländischen Besitzungen Niederland erhalten? Werden sie Niederland die Schätze wiedergeben, die nötig sein werden zur Dämpfung von Aufruhr, zur Verhütung von Umwälzung? Werden sie das Leben den Tausenden wiedergeben, die fielen durch ihre Schuld?

Und diese Beamten, die Kontrolleure und Residenten, sind nicht die am meisten Schuldigen. Es ist die Regierung selbst, die, mit unbegreiflicher Blindheit geschlagen, zur Einreichung günstiger Berichte ermutigt und verlockt und sie belohnt. Vor allem ist dies der Fall, wo es sich um Unterdrückung der Bevölkerung durch eingeborene Häuptlinge handelt.

Von vielen wird dies Inschutznehmen der Häuptlinge der unedlen Berechnung zugeschrieben, dass diese, die Glanz und Pracht entfalten müssen, um auf die Bevölkerung den Einfluss auszuüben, der für die Regierung zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität nötig ist, dass diese Häuptlinge hierfür eine viel höhere Besoldung würden geniessen müssen, als es jetzt der Fall ist, wenn man ihnen nicht die Freiheit liesse, das Fehlende durch die ungesetzliche Verfügung über das Besitztum und die Arbeit des Volkes zu ergänzen. Wie dem [224]sei, die Regierung geht nur notgedrungen zur Anwendung der Bestimmungen über, die nach der Meinung Uneingeweihter den Javanen vor Erpressung und Raub schützen. Meistens weiss man in unbeurteilbaren und häufig aus der Luft gegriffenen Gründen der Politik eine Ursache zu finden, um diesen Regenten oder jenen Häuptling zu schonen, und es besteht denn auch in Indien die zum Sprichwort geeichte Meinung, dass die Regierung lieber zehn Residenten entlasse als einen Regenten. Auch die vorgeschützten politischen Gründe—wenn sie sich überhaupt auf etwas gründen—sind gewöhnlich auf falsche Angaben gestützt, da jeder Resident Interesse hat, den Einfluss seines Regenten auf die Bevölkerung recht hoch darzustellen, damit er sich hinter diesem Umstande verkriechen kann, wenn später einmal ein Tadel auf seine zu grosse Nachsicht gegenüber diesen Häuptlingen fallen sollte.

Ich will mich nun nicht weiter verbreiten über die abscheuliche Heuchelei der human lautenden Bestimmungen—und der Eide!—die den Javanen gegen Willkür schützen ... auf dem Papier, und ersuche den Leser, sich zu erinnern, wie Havelaar beim Nachsprechen dieser Eide ein Verhalten zeigte, das an Geringachtung denken liess. Im Augenblick will ich nur auf die schwierige Situation des Mannes hinweisen, der sich, so ganz anders als kraft einer gesprochenen Formel, an seine Pflicht gebunden erachtete.

Und für ihn war diese Schwierigkeit grösser noch, als sie für manchen andern gewesen wäre, da sein Gemüt sanft war, ganz im Gegensatz zu seinem Verstande, den der Leser nun wohl als einen recht scharfen kennen gelernt haben wird. Er hatte also nicht nur mit Befürchtungen vor den Menschen oder mit der Sorge um Laufbahn und Beförderung zu kämpfen, noch auch allein mit den Pflichten, die er als Ehegemahl und Familienvater zu erfüllen hatte: er musste einen Feind in seinem eigenen Herzen überwinden. Er konnte nicht ohne eigenes Leid leiden sehen, und es würde mich zu weit führen, wollte ich die Beispiele anführen, wie er stets, auch wo er [225]gekränkt und beleidigt war, den Part eines Widersachers verteidigte gegen sich selbst. Er erzählte Duclari und Verbrugge, wie er in seiner Jugend soviel Verlockendes am Duell mit dem Säbel gefunden, was auch Wahrheit war ... doch er sagte nicht dabei, wie er nach Verwundung seines Gegners gewöhnlich weinte und seinen gewesenen Feind bis zur Genesung wie eine barmherzige Schwester pflegte. Ich könnte erzählen, wie er zu Natal den Kettengänger, der auf ihn geschossen hatte, zu sich nahm, dem Mann freundlich zusprach, ihn beköstigen liess und ihm Freiheiten gab vor allen andern, weil er zu entdecken vermeinte, dass die Erbitterung dieses Verurteilten die Folge eines anderswo gefällten zu strengen Urteils war. Gewöhnlich wurde die Sanftheit seines Gemüts entweder nicht zugestanden, oder sie wurde lächerlich gefunden. Nicht zugestanden von dem, der Herz und Geist bei ihm nicht auseinanderzuhalten wusste. Lächerlich gefunden von dem, der nicht begreifen konnte, wie ein verständiger Mensch sich Mühe gab, eine Fliege zu retten, die ins Gewebe einer Spinne geraten war. Nicht zugegeben wieder von jedem—ausser von Tine—der ihn darauf über die »dummen Tiere« schimpfen hörte und über die »dumme Natur«, die solche Tiere schuf.

Doch es gab noch eine andere Art, um ihn von dem Piedestal herunterzuholen, auf das seine Umgebung—man mochte ihn lieben oder nicht—wohl gezwungen war, ihn zu setzen. »Ja, er ist geistvoll, aber ... es ist Flüchtigkeit in seinem Geiste.« Oder: »er ist verständig, doch ... er wendet seinen Verstand nicht gut an.« Oder: »ja, er ist gutherzig ... doch er kokettiert damit!«

Für seinen Geist, für seinen Verstand nehme ich nicht Partei. Aber sein Herz? Arme, zappelnde Fliegen, von ihm gerettet, wenn er gänzlich allein war, wollet ihr dieses Herz verteidigen gegen die Beschuldigung der Koketterie?

Doch ihr seid davongeflogen und habt euch nicht bekümmert um Havelaar, die ihr nicht wissen konntet, dass er einmal euer Zeugnis nötig haben würde! [226]

War es Koketterie von Havelaar, da er zu Natal einem Hunde—Sappho hiess das Tier—in die Flussmündung nachsprang, weil er befürchtete, dass das noch junge Tier nicht gut genug schwimmen könne, um den Haien zu entgehen, die dort so zahlreich waren? Ich kann an ein derartiges Kokettieren mit Gutherzigkeit schwerer glauben, als an die Gutherzigkeit selbst.

Ich rufe euch auf, ihr vielen, die ihr Havelaar gekannt habt—wenn ihr nicht erstarrt seid durch Winterkälte und Tod ... wie die geretteten Fliegen, oder vertrocknet durch die Hitze da jenseits unter der Linie!—ich rufe euch auf, dass ihr Zeugnis ableget von seinem Herzen, ihr alle, die ihr ihn gekannt habt! Jetzt vor allem rufe ich euch auf mit Vertrauen, da ihr nicht mehr suchen braucht, wo das Seil eingehakt werden muss, um ihn herunterzuholen von welcher geringen Höhe auch immer.

Inzwischen werde ich, wie bunt es auch scheinen mag, hier einigen Zeilen von seiner Hand Raum geben, die solche Zeugnisse vielleicht überflüssig machen. Max war einmal weit, weit weg von Frau und Kind. Er hatte sie in Indien zurücklassen müssen und befand sich in Deutschland. Mit der Fixigkeit, die ich an ihm eigentümlich finde, ohne indes Lust zu haben, sie zu verteidigen, wenn man sie antastet, machte er sich zum Meister der Sprache des Landes, in dem er sich einige Monate aufgehalten hatte. Hier sind also die Verse, die gleichzeitig die Innigkeit verraten, mit der er den Seinen zugethan war:

—Mein Kind, da schlägt die neunte Stunde, hör!

Der Nachtwind säuselt, und die Luft wird kühl,

Zu kühl vielleicht für dich; dein Stirnchen glüht!

Du hast den ganzen Tag so wild gespielt

Und bist wohl müde. Komm, dein Tikar harret.

—Ach, Mutter, lass mich noch ’nen Augenblick!

Es ist so sanft zu ruhen hier ... und dort,

Da drin auf meiner Matte, schlaf’ ich gleich,

Und weiss nicht einmal, was ich träume! Hier

Kann ich doch gleich dir sagen, was ich träume,[227]

Und fragen, was mein Traum bedeutet ... Hör,

Was war das?

Was war das? —Es war ein Klapper, der da fiel.

—Thut das dem Klapper weh?

—Thut das dem Klapper weh? —Ich glaube nicht.

Man sagt, die Frucht, der Stein hat kein Gefühl.

—Doch eine Blume, fühlt die auch nicht?

—Doch eine Blume, fühlt die auch nicht? —Nein.

Man sagt, sie fühle nicht.

Man sagt, sie fühle nicht. —Warum denn, Mutter,

Als gestern ich die Pukul ampat brach,

Hast du gesagt: es thut der Blume weh!

—Mein Kind, die Pukul ampat war so schön,

Du zogst die zarten Blättchen roh entzwei,

Das that mir für die arme Blume leid.

Wenngleich die Blume selbst es nicht gefühlt,

Ich fühlt’ es für die Blume, weil sie schön war.

—Doch, Mutter, bist du auch schön?

—Doch, Mutter, bist du auch schön? —Nein, mein Kind,

Ich glaube nicht.

Ich glaube nicht. —Allein du hast Gefühl?

—Ja, Menschen haben’s ... doch nicht alle gleich.

—Und kann dir etwas weh thun? Thut dir’s weh,

Wenn dir im Schoss so schwer mein Köpfchen ruht?

—Nein, das thut mir nicht weh!

—Nein, d a s thut mir nicht weh! —Und, Mutter, ich ...

Hab’ ich Gefühl?

Hab’ i c h Gefühl? —Gewiss, erinn’re dich,

Wie du, gestrauchelt einst, an einem Stein

Dein Händchen hast verwundet und geweint.

Auch weintest du, als Saudien dir erzählte,

Dass auf den Hügeln dort ein Schäflein tief

In eine Schlucht hinunterfiel und starb.

Da hast du lang geweint ... das war Gefühl.

Doch, Mutter, ist Gefühl denn Schmerz?

Doch, Mutter, ist Gefühl denn Schmerz? —Ja, oft!

Doch ... immer nicht, bisweilen nicht! Du weisst,

Wenn’s Schwesterlein dir in die Haare greift

Und krähend dir’s Gesichtchen nahe drückt,

Dann lachst du freudig; das ist auch Gefühl.

[228]

—Und dann mein Schwesterlein ... es weint so oft,

Ist das vor Schmerz? Hat es denn auch Gefühl?

—Vielleicht, mein Kind, wir wissen’s aber nicht,

Weil es, so klein, es noch nicht sagen kann.

—Doch, Mutter ... höre, was war das?

—Doch, Mutter ... höre, was war das? —Ein Hirsch,

Der sich verspätet im Gebüsch und jetzt

Mit Eile heimwärts kehrt und Ruhe sucht

Bei andern Hirschen, die ihm lieb sind.

Bei andern Hirschen, die ihm lieb sind. —Mutter,

Hat solch ein Hirsch ein Schwesterlein wie ich?

Und eine Mutter auch?

Und eine Mutter auch? —Ich weiss nicht, Kind.

—Das würde traurig sein, wenn’s nicht so wäre!

Doch, Mutter, sieh ... was schimmert dort im Strauch?

Sieh, wie es hüpft und tanzt ... ist das ein Funke?

—’s ist eine Feuerfliege.

—’s ist eine Feuerfliege. —Darf ich’s fangen?

—Du darfst es, doch das Flieglein ist so zart,

Du wirst gewiss ihm weh thun, und sobald

Du’s mit den Fingern allzu roh berührst,

Ist’s Tierchen krank und stirbt und glänzt nicht mehr.

—Das wäre schade! Nein, ich fang’ es nicht!

Sieh, da verschwand es ... nein, es kommt hierher ...

Ich fang’ es doch nicht! Wieder fliegt es fort

Und freut sich, dass ich’s nicht gefangen habe.

Da fliegt es ... hoch! Hoch oben ... was ist das,

Sind das auch Feuerfliegen dort?

Sind das auch Feuerfliegen dort? —Das sind

Die Sterne.

Die Sterne. —Ein, und zehn, und tausend!

Wieviel sind denn wohl da?

Wieviel sind denn wohl da? —Ich weiss es nicht,

Der Sterne Zahl hat niemand noch gezählt.

—Sag, Mutter, zählt auch Er die Sterne nicht?

Nein, liebes Kind, auch Er nicht.

Nein, liebes Kind, auch E r nicht. —Ist das weit

Dort oben, wo die Sterne sind?

Dort oben, wo die Sterne sind? —Sehr weit

[229]

—Doch haben diese Sterne auch Gefühl?

Und würden sie, wenn ich sie mit der Hand

Berührte, gleich erkranken und den Glanz

Verlieren, wie das Flieglein?—Sieh, noch schwebt es!—

Sag’, würd’ es auch den Sternen weh thun?

Sag’, würd’ es auch den Sternen weh thun? —Nein,

Weh thut’s den Sternen nicht! Doch ’s ist zu weit

Für deine kleine Hand: du reichst so hoch nicht.

—Kann Er die Sterne fangen mit der Hand?

—Auch Er nicht: das kann niemand!

—Auch E r nicht: das kann niemand! —Das ist schade!

Ich gäb’ so gern dir einen! Wenn ich gross bin,

Dann will ich so dich lieben, dass ich’s kann.

Das Kind schlief ein und träumte von Gefühl,

Von Sternen, die es fasste mit der Hand ...

Die Mutter schlief noch lange nicht, doch träumte

Auch sie und dacht’ an den, der fern war ...

Ja, auf die Gefahr hin, unnötig bunt zu scheinen, habe ich diesen Zeilen hier Raum gegeben. Ich möchte keine Gelegenheit versäumen, die uns den Mann verstehen lehrt, der die Hauptrolle in meiner Geschichte einnimmt, damit er dem Leser einige Teilnahme abringe, wenn später über seinem Haupte dunkle Wolken sich zusammenziehen. [230]

Fünfzehntes Kapitel.

Havelaars Vorgänger, der wohl das Gute wollte, doch zugleich die hohe Ungnade der Regierung einigermassen gefürchtet zu haben schien—der Mann hatte viele Kinder, und kein Vermögen—hatte also lieber mit dem Residenten »gesprochen« über das, was er »weitgehende« Missbräuche nannte, als dass er sie in einem offiziellen Bericht rundheraus beim Namen nannte. Er wusste, dass ein Resident nicht gern einen schriftlichen Rapport empfängt, der in seinem Archiv liegen bleibt und später als Beweis gelten kann, dass er zeitig auf diese oder jene Misslichkeit aufmerksam gemacht wurde, während eine mündliche Mitteilung ihm gefahrlos die Wahl lässt, einer Klage Gehör oder ihr nicht Gehör zu geben. Solche mündlichen Mitteilungen hatten gewöhnlich eine Unterhaltung mit dem Regenten zur Folge, der natürlich alles leugnete und auf Beweise drang. Dann wurden die Leute aufgerufen, die die Vermessenheit hatten, sich zu beklagen, und dem Adhipatti zu Füssen kriechend baten sie um Schonung. »Nein, der Büffel sei ihnen nicht abgenommen worden für nichts, sie glaubten ja, dass ein doppelter Preis dafür werde bezahlt werden.« »Nein, sie seien nicht von ihren Feldern abberufen worden, um ohne Bezahlung in den Sawahs des Regenten zu arbeiten; sie wüssten sehr gut, dass der Adhipatti sie später reichlich belohnt haben würde.« »Sie hätten ihre Anklage erhoben in einem Augenblick unbegründeten Frevelmuts ... sie seien wahnsinnig gewesen [231]und fleheten, dass man sie strafen möge für so weitgetriebene Unehrerbietigkeit.«

Der Resident wusste dann wohl, was er von dieser Einziehung der Anklage zu halten hatte, doch das Einziehen gab ihm nichtsdestoweniger eine schöne Gelegenheit, den Regenten in Amt und Ehren zu stützen, und ihm selbst war die unangenehme Aufgabe erspart, die Regierung mit einem ungünstigen Bericht zu »belästigen«. Die ruchlosen Ankläger wurden mit Stockschlägen bestraft, der Regent hatte triumphiert, und der Resident kehrte nach dem Hauptplatz zurück mit dem angenehmen Bewusstsein, diese Sache schon wieder so gut »geschipperd« zu haben.

Doch was sollte nun der Assistent-Resident thun, wenn am folgenden Tage sich wieder andere Kläger bei ihm meldeten? Oder—und das geschah häufig—wenn dieselben Kläger zurückkehrten und ihre Einziehung einzogen? Sollte er wieder die Sache in seine private Nota eintragen, um wieder darüber mit dem Residenten zu sprechen, um wieder dieselbe Komödie spielen zu sehen, alles auf die Gefahr hin, für einen Menschen gehalten zu werden, der—dumm und bösartig vielleicht—so oft Beschuldigungen erhob, die jedesmal als unbegründet abgewiesen werden mussten? Was sollte da werden aus dem so notwendigen freundschaftlichen Verhältnis zwischen dem vornehmsten Inländischen Häuptling und dem ersten Europäischen Beamten, wenn dieser fortwährend falschen Anklagen gegen diesen Häuptling Gehör zu geben schien? Und vor allem, was wurde aus den armen Klägern, nachdem sie in ihr Dorf zurückgekehrt waren, wo sie wieder der Gewalt des Distrikts- oder Dorfhäuptlings unterstanden, den sie als Werkzeug von des Regenten Willkür angeklagt hatten?

Was aus den Klägern wurde? Wer flüchten konnte, flüchtete. Darum schweiften soviel Bantamer in den benachbarten Provinzen umher! Darum waren soviel Bewohner von Lebak unter den Aufständischen in den Lampongschen Distrikten! Darum hatte Havelaar in seiner Ansprache an [232]die Häuptlinge gefragt: »Was ist dies, dass soviel Häuser leer stehen in den Dörfern, und warum ziehen viele den Schatten der Gebüsche anderswo der Kühle der Wälder von Bantan-Kidūl vor?«

Doch nicht jeder konnte flüchten. Der Mann, dessen Leichnam morgens den Fluss hinuntertrieb, nachdem er am Abend zuvor heimlich, zögernd, ängstlich beim Assistent-Residenten um Gehör ersucht hatte ... er war der Flucht enthoben. Vielleicht kann man es als human erachten, dass man ihn durch den Tod auf der Stelle einer nur noch kurzen Lebensdauer entzog. Ihm blieb die Misshandlung, der er bei Rückkehr in sein Dorf ausgesetzt war, und ihm blieben die Stockprügel erspart, die die Strafe sind für jeden, der einen Augenblick meinen mochte, dass er kein Tier sei, kein seelenloser Holzklotz oder ein Stein; die Strafe für den, der in einer Anwandlung von Narrheit geglaubt hatte, dass Recht im Lande sei, und dass der Assistent-Resident den Willen und die Macht habe, dieses Recht durchzusetzen ...

War es nicht wirklich besser, diesen Mann zu hindern, dass er am andern Morgen zum Assistent-Residenten zurückkehrte—wie dieser ihm abends sagen liess—und seine Klage in dem gelben Wasser des Tjiudjung zu ersticken, das ihn sanft nach der Mündung hinunterführen würde, gewohnt, Überbringer zu sein der brüderlichen Grussgeschenke der Haie im Binnenlande an die Haie in der See?

Und Havelaar wusste das alles! Empfindet der Leser, was in seinem Innern vorging, wenn er gedenken musste, dass er zum Rechtthun berufen und hierin einer höheren Macht verantwortlich sei als der Macht einer Regierung, die wohl dies Recht in ihren Gesetzen vorschrieb, doch nicht immer gleich gern deren Anwendung sah? Empfindet man, wie sehr ihn Zweifel plagen mussten, Unentschiedenheit darüber, nicht was ihm zu thun oblag, doch auf welche Weise er zu handeln hatte?

Er hatte begonnen mit Milde. Er hatte zum Adhipatti gesprochen als »älterer Bruder«, und wer meinen möchte, [233]dass ich in Eingenommenheit für den Helden meiner Geschichte die Weise, in der er sprach, übermässig herauszustreichen suche, der höre, wie einmal nach solcher Unterhaltung der Adhipatti seinen Patteh zu ihm schickte, dass er ihm für seine wohlwollenden Worte Dank sage, und wie noch lange darnach dieser Patteh im Gespräch mit dem Kontrolleur Verbrugge—als Havelaar aufgehört hatte, Assistent-Resident von Lebak zu sein, als also von ihm weder irgendwas zu erhoffen noch zu fürchten war—wie dieser Patteh bei der Erinnerung an seine Worte begeistert ausrief: »Noch niemals hat irgend ein Herr gesprochen wie er!«

Ja, er wollte helfen, ins Gleise bringen, retten, nicht verderben! Er hatte Mitleid mit dem Regenten. Er, der wusste, wie Geldmangel drückend sein kann, vor allem wo er Schmach und Erniedrigung mit sich führt, suchte nach Gründen der Schonung. Der Regent war alt und das Haupt eines Geschlechts, das auf grossem Fusse lebte in benachbarten Provinzen, wo viel Kaffee geerntet wurde und also viel Emolumente erzielt wurden. War es nicht peinigend für ihn, in der Lebensweise so weit hinter seinen jüngeren Verwandten zurückstehen zu müssen? Obendrein meinte der Mann, von Schwärmerei ergriffen, mit dem Wachsen seiner Jahre das Heil seiner Seele durch Bezahlung von Wallfahrten nach Mekka und durch Almosen an gebetsingende Müssiggänger erkaufen zu können. Die Beamten, die Havelaar in Lebak voraufgegangen waren, hatten nicht immer gutes Beispiel gegeben. Und endlich machte die ausgedehnte Lebaksche Familie des Regenten, die ihm vollständig zur Last lag, die Rückkehr zum rechten Wege sehr schwierig.

So suchte Havelaar nach Gründen, alle Strenge auszuschliessen und noch einmal versuchen zu können, was sich erreichen liess mit Milde.

Und er ging noch über Milde hinaus. Mit einem Edelmut, der an die Fehler erinnerte, die ihn so arm gemacht hatten, schoss er dem Regenten fortwährend auf eigene Verantwortung Geld vor, damit nicht irgend ein Zwang allzu [234]stark zum Vergehen dränge, und er vergass wie gewöhnlich sich selbst so weit, dass er bereit war, sich und die Seinen auf das durchaus Nötige zu beschränken, um dem Regenten mit dem Wenigen unter die Arme zu greifen, das er noch von seinem Einkommen würde ersparen können.

Wenn noch der Beweis nötig erscheinen möchte für die Sanftmut, mit der Havelaar seine schwierige Pflicht erfüllte, so würde er gefunden werden können in einer mündlichen Botschaft, die er dem Kontrolleur auftrug, als derselbe einmal nach Serang zu reisen hatte: »Sagen Sie dem Residenten, er möge, wenn er von den Missbräuchen hört, die hier vorkommen, nicht glauben, dass ich dem gleichgültig gegenüberstehe. Ich mache nicht sogleich offiziell Meldung davon, weil ich den Regenten, mit dem ich Mitleid fühle, vor allzu grosser Strenge bewahren möchte und erst versuchen will, ihn durch Milde zur Pflicht zu bringen.«

Havelaar blieb häufig mehrere Tage hintereinander aus. Wenn er zu Hause war, fand man ihn meistens in dem Zimmer, das wir auf unserem Grundriss als siebentes Fach dargestellt sehen. Da sass er gewöhnlich zu schreiben und empfing da die Personen, die um Gehör ersuchen liessen. Er hatte diese Stelle gewählt, weil er dort in der Nähe seiner Tine war, die sich gewöhnlich im nebenan gelegenen Zimmer aufhielt. Denn so innig waren sie verbunden, dass Max, auch wenn er mit einer Arbeit beschäftigt war, die Aufmerksamkeit und Mühe erforderte, stetig das Bedürfnis fühlte, sie zu sehen oder zu hören. Es war oft spasshaft, wie er auf einmal ein Wort an sie richtete, das in seinen Gedanken über die ihn beschäftigenden Dinge aufdämmerte, und wie schnell sie, ohne zu wissen, was gerade vorlag, den Sinn seiner Meinung zu erfassen wusste, die er ihr gewöhnlich gar nicht einmal auseinandersetzte, als sei es selbstverständlich, dass sie wüsste, worauf er hinaus wolle. Häufig auch, wenn er unzufrieden war über seine eigene Arbeit oder über einen soeben empfangenen verdriesslichen Bericht, sprang er auf und sprach ein unfreundliches Wort zu ihr ... die doch schuldlos war [235]an seiner Unzufriedenheit! Doch das hörte sie gern, denn es war ihr ein Beweis mehr, wie sehr sie ihr Max mit sich selbst identifizierte. Und es war auch niemals die Rede von einem Bedauern über solche scheinbare Härte oder von Vergebung auf der andern Seite. Das wäre ihnen vorgekommen, als hätte jemand sich selbst um Verzeihung gebeten, dass er ärgerlich sich vor den eigenen Kopf geschlagen hatte.

Sie kannte ihn denn auch so gut, dass sie genau wusste, wann sie da sein musste, um ihm einen Augenblick Erholung zu verschaffen ... genau, wann er ihres Rates bedurfte, und nicht minder genau, wann sie ihn allein lassen musste.

In diesem Zimmer sass Havelaar eines Morgens, als der Kontrolleur bei ihm eintrat, mit einem soeben empfangenen Brief in der Hand.

—Das ist eine schwierige Sache, M’nheer Havelaar, sagte er eintretend. Sehr schwierig!

Wenn ich nun sage, dass dieser Brief einfach Havelaars Beauftragung enthielt, aufzuklären, warum eine Veränderung in den Preisen von Holzarbeiten und im Arbeitslohn eingetreten sei, so wird der Leser finden, dass der Kontrolleur Verbrugge schon sehr schnell etwas schwierig fand. Ich beeile mich also hinzuzufügen, dass viele andere ebensowohl Schwierigkeiten in der Beantwortung dieser einfachen Frage gefunden haben würden.

Vor einigen Jahren war zu Rangkas-Betung ein Gefängnis gebaut worden. Nun ist es allgemein bekannt, dass die Beamten in den Binnenländern von Java die Kunst verstehen, Gebäude zu errichten, die Tausende wert sind, ohne mehr als ebensoviel Hunderte dafür auszugeben. Man erwirbt sich dadurch den Ruf der Tüchtigkeit und des Eifers in der Bedienung des Landes. Der Unterschied zwischen den ausgegebenen Geldern und dem Werte des dafür Erhaltenen wird durch unbezahlte Lieferungen oder unbezahlte Arbeit erzielt. Seit einigen Jahren bestehen Vorschriften, die dies verbieten. [236]Ob sie innegehalten werden, steht hier nicht zur Frage. Ebensowenig, ob die Regierung selbst will, dass sie innegehalten werden mit einer Genauigkeit, die belastend auf das Budget des Baudepartements wirken würde. Es wird wohl hiermit gehen wie mit vielen anderen Vorschriften, die so menschenfreundlich auf dem Papier aussehen.

Es mussten nun zu Rangkas-Betung noch viele andere Gebäude errichtet werden, und die Ingenieure, die mit dem Entwerfen der Pläne hierfür betraut waren, hatten Angaben von den örtlichen Preisen der Materialien und von der Höhe der Arbeitslöhne am Platze eingefordert. Havelaar hatte den Kontrolleur mit einer genauen Untersuchung diesbezüglich beauftragt und ihm anbefohlen, die Preise der Wahrheit gemäss anzugeben, ohne Rücksicht darauf, was früher geschah. Als Verbrugge diesem Auftrage gerecht geworden war, stellte es sich heraus, dass seine Preise nicht übereinstimmten mit den Angaben, die einige Jahre früher gemacht waren. Es wurde nun nach dem Grunde dieses Unterschiedes gefragt, und darin bestand für Verbrugge soviel Schwierigkeit. Havelaar, der sehr gut wusste, was hinter dieser scheinbar einfachen Sache verborgen war, antwortete, dass er seine Ansichten betreffs dieser Schwierigkeit schriftlich mitteilen würde. Ich finde nun auch unter den mir vorliegenden Schriftstücken eine Abschrift des Briefes, der auf diese Zusage hin geschrieben zu sein scheint.

Wenn der Leser klagen sollte, dass ich ihn mit einer Korrespondenz über die Preise von Holzarbeiten langweile, die ihn scheinbar nichts angeht, so muss ich ihn ersuchen, nicht unbeachtet zu lassen, dass hier eigentlich von ganz etwas anderem die Rede ist, von dem Zustande der amtlichen Indischen Haushaltung, und dass der Brief, den ich mitteile, nicht allein mehr Licht auf den künstlichen Optimismus wirft, von dem ich redete, sondern zugleich auch die Schwierigkeiten aufweist, mit denen jemand zu kämpfen hatte, der wie Havelaar geradeaus und ohne sich umzusehen seinen Weg gehen wollte. [237]

»Nr. 114. Rangkas-Betung, den 15. März 1856.

An den Kontrolleur von Lebak.

Als ich den Brief des Direktors der Öffentlichen Arbeiten vom 16. Februar d. J., No. 271/354, Ihnen überwies, habe ich Sie ersucht, die darin enthaltenen Fragen nach Überlegung mit dem Regenten zu beantworten, und zwar unter Berücksichtigung dessen, was ich in meiner Missive vom 5. dieses, Nr. 97, schrieb.

Diese Missive enthielt einige allgemeine Winke bezüglich dessen, was als recht und billig anzusehen ist bei der Festsetzung der Preise von Materialien, die von der Bevölkerung an die Verwaltung und im Auftrag derselben zu liefern sind.

Mit Ihrer Missive vom 8. dieses, No. 6, haben Sie dem—und wie ich glaube, nach Ihrem besten Wissen—Folge gegeben, so dass ich, vertrauend auf Ihre lokale Kenntnis und die des Regenten, diese Angaben, so wie sie von Ihnen gemacht sind, dem Residenten unterbreitet habe.

Darauf folgte eine Missive von diesem Oberbeamten, vom 11. dieses, No. 326, durch welche um eine Erklärung ersucht wird bezüglich der Ursache des Unterschieds in den von mir angegebenen Preisen und denjenigen, die in den Jahren 1853 und 1854 bei dem Bau eines Gefängnisses gezahlt wurden.

Ich liess natürlich diesen Brief Ihnen zustellen und gab Ihnen mündlich den Auftrag, anjetzo Ihre Angaben zu rechtfertigen, was Ihnen um so weniger schwer fallen musste, als Sie sich auf die Vorschriften berufen konnten, die ich Ihnen in meinem Schreiben vom 5. dieses gab, und die wir auch mündlich mehrmals ausführlich besprachen.

Bis dahin ist alles einfach und in Ordnung.

Gestern aber kamen Sie mit dem Ihnen überwiesenen Briefe des Residenten in der Hand auf mein Bureau und begannen von der Schwierigkeit der Erledigung des darin Enthaltenen zu reden. Ich gewahrte bei Ihnen wiederum [238]jene Scheu, die Dinge beim wahren Namen zu nennen, etwas, worauf ich schon mehrmals Ihre Aufmerksamkeit lenkte, unter anderem unlängst in Gegenwart des Residenten, etwas, das ich in Kürze Halbheit nenne und wovor ich Sie schon mehrfach freundschaftlich warnte.

Halbheit führt zu nichts. Halb-gut ist nicht gut. Halb-wahr ist unwahr.

Für vollen Sold, für vollen Rang, nach einem deutlichen, vollständigen Eide thue man seine volle Pflicht.

Ist zuweilen Mut nötig, um diese zu erfüllen: man besitze ihn.

Ich für mich würde den Mut nicht haben, dieses Mutes zu ermangeln. Denn, abgesehen von der Unzufriedenheit mit sich selbst, die eine Folge von Pflichtversäumnis und Lauheit ist, gebiert das Suchen nach bequemeren Umwegen, die Sucht, stets und überall einem Anstossen aus dem Wege zu gehen, die Begierde zu »schipperen« mehr Sorge und in der That mehr Gefahr, als man auf dem rechten Wege antreffen wird.

Während des Laufs einer sehr belangreichen Sache, die jetzt beim Gouvernement zur Erwägung steht und in die Sie eigentlich von Amts wegen einbezogen sein müssten, habe ich Sie stillschweigend sozusagen neutral gelassen, und nur lächelnd von Zeit zu Zeit darauf angespielt.

Als zum Beispiel unlängst Ihr Rapport über die Ursachen von Mangel und Hungersnot unter der Bevölkerung bei mir eingegangen war, und ich darauf schrieb: »Dieses alles möge Wahrheit sein, doch es ist nicht alle Wahrheit, noch die hauptsächlichste Wahrheit. Die Hauptursache sitzt tiefer«, stimmten Sie dem in vollem Umfange zu, und ich machte keinen Gebrauch von meinem Recht, zu fordern, dass Sie dann auch diese Hauptwahrheit nennen sollten.

Zu diesem Ihnen bequemen Verhalten hatte ich viele Gründe und unter anderm den, dass ich es für unbillig [239]hielt, auf einmal von Ihnen etwas zu fordern, um das viele andere an Ihrer Stelle ebensowenig sich reissen würden, Sie zu zwingen, so auf einmal dem gewohnten Laufe der Zurückhaltung und Menschenfurcht Valet zu sagen, der nicht so sehr Ihnen als Schuld beizumessen ist, als wohl der Leitung, der Sie unterstanden. Ich wollte endlich erst Ihnen ein Beispiel geben, wieviel einfacher und gemächlicher es ist, eine Pflicht ganz zu thun, als halb.

Jetzt aber, wo ich die Ehre habe, Sie doch so viele Tage mehr unter meine Befehle gestellt zu sehen, und nachdem ich Ihnen wiederholt die Gelegenheit gab, Grundsätze kennen zu lernen, die—es sei denn, dass ich irre—zuguterletzt triumphieren werden—jetzt wünschte ich doch, dass Sie dieselben sich zu eigen machten, dass Sie sich die wohl nicht mangelnde, aber ausser Übung gekommene Kraft erwürben, die nötig scheint, um Sie stets nach Ihrem besten Wissen rundheraus sagen zu lassen, was zu sagen ist, und um Sie also ganz und gar jene unmännliche Furchtsamkeit verlieren zu lassen, die immer nur darauf aus ist, sich schnell und bequem aus der Affaire zu ziehen.

Ich erwarte also nun eine einfache, aber vollständige Angabe dessen, was Ihnen als Ursache des Preisunterschieds erscheint zwischen jetzt und den Jahren 1853 und 1854.

Ich hoffe ernstlich, dass Sie keinen einzigen Passus dieses Briefes aufnehmen werden als geschrieben in der Absicht, Sie zu kränken. Ich vertraue, dass Sie mich hinreichend kennen gelernt haben, um zu wissen, dass ich nicht mehr oder nicht weniger sage, als ich meine, und überdies gebe ich Ihnen noch zum Überfluss die Versicherung, dass meine Bemerkungen eigentlich weniger Sie betreffen, als die Schule, in der Sie zum Indischen Beamten erzogen wurden.

Diese circonstance atténuante würde jedoch hinfällig werden, wenn Sie, indem Sie noch länger mit mir verkehrten und dem Gouvernement unter meiner Leitung [240]dienten, fortführen, dem Schlendrian zu folgen, gegen den ich mich auflehne.

Sie haben wahrgenommen, dass ich mich des »Euerwohledelgestrengen« begeben habe: es langweilte mich. Thun Sie es auch und lassen Sie unsere »Wohledelheit« und, wo es nötig ist, unsere »Gestrengheit« anderswo und vor allem anders erkennbar werden, als aus dieser langweilenden, sinnstörenden Titulatur.

Der Assistent-Resident von Lebak

Max Havelaar

Die Antwort auf diesen Brief erwies sich belastend für manchen von Havelaars Vorgängern, und sie bewies, dass er nicht so unrecht hatte, als er »die schlechten Beispiele früherer Zeit« mit unter die Gründe aufnahm, die für Schonung des Regenten sprechen konnten.

Ich bin mit der Mitteilung dieses Briefes der Zeit vorausgeeilt, um nun schon es klar werden zu lassen, wie wenig Hülfe Havelaar von dem Kontrolleur zu erwarten hatte, sobald ganz andere, wichtigere Dinge beim rechten Namen zu nennen waren, wenn schon diesem Beamten, der ohne Zweifel ein braver Mensch war, so zugeredet werden musste, dass er die Wahrheit sage, wo es sich doch nur um Angabe der Preise von Holz, Stein, Kalk und Arbeitslohn handelte. Man entnimmt also, dass er nicht allein mit der Macht der Personen zu kämpfen hatte, die aus unreellen Handlungen Vorteil zogen, sondern gleichzeitig auch mit der Furchtsamkeit derjenigen, die—wie sehr auch sie selbst diese unreellen Handlungen missbilligten—sich nicht berufen oder geeignet erachteten, hiergegen mit dem erforderlichen Mute aufzutreten.

Vielleicht wird man auch nach der Lektüre dieses Briefes einigermassen zurückkommen von der Geringschätzung der sklavischen Unterwürfigkeit des Javanen, der in Gegenwart seines Häuptlings die erhobene Beschuldigung, wie begründet [241]immer sie sein mochte, feigherzig zurückzieht. Denn wenn man bedenkt, dass soviel Ursache zur Furcht vorhanden war selbst für den Europäischen Beamten, der doch wohl minder der Rache blossgestellt war, was wartete dann des armen Landbewohners, der, in einem Dorf fern vom Hauptplatz, ganz und gar der Macht seiner angeklagten Unterdrücker anheimfiel? Ist es ein Wunder, dass diese armen Menschen, erschreckt von den Folgen ihrer Keckheit, diesen Folgen zu entgehen oder sie durch demütige Unterwerfung zu mildern suchten?

Und es war nicht allein der Kontrolleur Verbrugge, der seine Pflicht mit einer ängstlichen Scheu that, die an Pflichtversäumnis grenzte. Auch der Djaksa, der Inländische Häuptling, der bei dem Landrat das Amt des öffentlichen Anklägers einnahm, betrat am liebsten abends, ungesehen und ohne Gefolge Havelaars Wohnung. Er, der dem Diebstahl entgegentreten musste, der den Auftrag hatte, den schleichenden Dieb zu überraschen, er schlich, als wäre er selbst der Dieb, der Überraschung fürchtete, mit leisem Tritt an der Hinterseite ins Haus hinein, nachdem er sich erst überzeugt hatte, dass kein Besuch da war, der ihn später als schuldig der Pflichterfüllung würde verraten können.

War es ein Wunder, dass Havelaars Seele betrübt war, und dass Tine mehr denn jemals es nötig fand, in sein Zimmer zu treten, um ihn aufzurichten, wenn sie ihn, das Haupt schwer auf die Hand gestützt, dasitzen sah?

Und doch lag ihm die grösste Schwierigkeit nicht in der Furchtsamkeit derer, die ihm zur Seite gestellt waren, noch in der mitschuldigen Feigherzigkeit derer, die seine Hülfe angerufen hatten. Nein, zur Not würde er ganz allein Recht thun, mit oder ohne Hülfe von andern, ja, gegen alle, und sei es selbst gegen den Willen derer, die dieses Rechtes bedürftig waren! Denn er wusste, welchen Einfluss auf das Volk er hatte, und wie—wenn einmal die armen Unterdrückten aufgerufen waren, um laut und vor Gericht zu wiederholen, was sie ihm abends und nachts in Einsamkeit zugeraunt hatten—er wusste, wie er die Macht hatte, auf [242]ihre Gemüter zu wirken, und wie die Kraft seiner Worte stärker sein würde als die Angst vor der Rache von Distriktshäuptling oder Regent. Die Befürchtung, dass seine Schützlinge von ihrer eigenen Sache abfallen möchten, hielt ihn also nicht zurück. Aber es kostete ihn so viel, den alten Regenten anzuklagen: das war der Grund seines Zwiespalts! Andererseits mochte er auch nicht diesem Widerwillen nachgeben, da die ganze Bevölkerung, abgesehen von ihrem guten Recht, ebensosehr Anspruch auf Mitleid hatte.

Furcht vor eigenem Leiden hatte keinen Anteil an seinen Zweifeln. Denn wusste er auch, wie ungern im allgemeinen die Regierung einen Regenten angeklagt sieht, und wieviel leichter es manchem fällt, den Europäischen Beamten brotlos zu machen, als einen Inländischen Häuptling zu strafen, er hatte doch einen besonderen Grund, zu glauben, dass gerade in diesem Augenblick bei der Beurteilung der vorliegenden Sache andere Grundsätze als die gewohnten sich geltend machen würden. Es ist wahr, dass er auch ohne diese Meinung ebensowohl seine Pflicht gethan haben würde, ja, um so lieber, als er die Gefahr für sich und die Seinen grösser denn jemals erachtete. Es wurde schon gesagt, dass Schwierigkeiten eine Anziehung auf ihn ausübten und wie ihn dürstete nach Aufopferung. Doch er war der Ansicht, dass hier das Verlockende eines Selbstopfers nicht bestehe, und fürchtete, dass er—schliesslich gezwungen, zum ernsthaften Kampf gegen das Unrecht überzugehen—des ritterlichen Hochgefühls sich werde entschlagen müssen, diesen Kampf begonnen zu haben als der Schwächere.

Ja, das fürchtete er. Er war der Meinung, es stünde an der Spitze der Regierung ein Generalgouverneur, der sein Bundesgenosse sein würde, und es war wieder eine Eigentümlichkeit seines Charakters, dass diese Meinung ihn von strengen Massregeln zurückhielt, und zwar länger, als irgend etwas anderes ihn abgehalten haben würde, weil sein Wesen es nicht zuliess, das Unrecht in einem Augenblick anzugreifen, da er das Recht für stärker hielt denn gewöhnlich. [243]Sagte ich nicht schon, als ich versuchte, sein Naturell zu beschreiben, dass er naiv war bei all seinem Scharfsinn?

Wir wollen sehen, wie Havelaar zu dieser Meinung gekommen war.


Es können sich sehr wenige europäische Leser eine rechte Vorstellung bilden von der Höhe, auf der ein Generalgouverneur als Mensch stehen muss, um nicht unter der Höhe seines Amtes zu bleiben, und man sehe es denn auch nicht als ein strenges Urteil an, wenn ich zu der Meinung neige, dass sehr wenige, niemand vielleicht, einer so schweren Forderung gerecht werden konnten. Um nun nicht all die Qualitäten des Kopfes wie des Herzens, die hierfür nötig sind, sich aufzählen zu lassen, erhebe man nur das Auge zu der schwindelerregenden Höhe, auf die so über Nacht der Mann erhoben wird, der, gestern noch einfacher Bürger, heute Macht hat über Millionen Unterthanen. Er, der vor kurzem noch in seiner Umgebung unterging, ohne durch Rang oder Macht über sie hinauszuragen, fühlt sich auf einmal, meist unerwartet, über eine Menge erhoben, die unendlich viel grösser ist als der kleine Kreis, der ihn früher dennoch ganz dem Auge verbarg, und ich glaube, dass ich nicht mit Unrecht die Höhe schwindelerregend nannte, denn sie lässt den Schwindel jemandes empfinden, der unerwartet einen Abgrund vor sich sieht, oder die Blindheit, die uns befällt, wenn wir aus tiefem Dunkel mit Schnelligkeit in scharfes Licht übergeführt werden. Solchen Übergängen sind die Nerven des Gesichts oder Gehirns nicht gewachsen, mögen sie selbst von aussergewöhnlicher Stärke sein.

Wenn also die Ernennung zum Generalgouverneur an sich schon meistens die Ursachen des Verderbs mit sich führt, des Verderbs selbst eines Menschen, der durch Verstand und Gemüt hervorragte, was ist dann wohl zu erwarten von Personen, die schon vor dieser Ernennung an vielen Gebrechen litten? Und nehmen wir immerhin einen Augenblick an, dass der König stets gut unterrichtet ist, wenn er seinen hohen [244]Namen unter die Akte zeichnet, in der er sagt, dass er von der »guten Treu, dem Eifer und der Tauglichkeit« des ernannten Statthalters überzeugt sei, nehmen wir immer an, dass der neue Unterkönig eifrig, treu und tauglich ist, dann noch bleibt es die Frage, ob dieser Eifer, und vor allem, ob diese Tauglichkeit bei ihm in einem Masse vorhanden ist, hoch genug erhoben über Mittelmässigkeit, um den Ansprüchen seiner hohen Berufung zu genügen.

Denn es kann gar nicht die Frage sein, ob der Mann, der im Haag zum erstenmal als Generalgouverneur das Kabinett des Königs verlässt, in diesem Augenblick die Tauglichkeit besitzt, die für sein neues Amt nötig sein wird ... das ist unmöglich! Mit der Bezeugung des Vertrauens zu seiner Tauglichkeit kann nur die Meinung ausgesprochen sein, dass er in einem ganz neuen Wirkungskreise, in einem gegebenen Augenblick, durch Eingebung, wenn’s nicht anders ist, wissen werde, was er im Haag nicht gelernt haben kann. Mit andern Worten: dass er ein Genie ist, ein Genie, das mit einem Male kennen muss und können, was es weder kannte noch konnte. Solche Genies sind selten, sogar selten unter Personen, die bei Königen in Gunst stehen.

Wo ich hier von Genies spreche, wird es begreiflich sein, dass ich übergehen möchte, was über so manchen Landvogt zu sagen wäre. Es schiene mir auch nicht entsprechend, meinem Buche Blätter einzufügen, die den ernsthaften Zweck dieses Werkes durch den Verdacht des Skandalinteresses als fragwürdig erscheinen lassen würden. Ich lasse also die Besonderheiten, die auf bestimmte Personen entfallen würden, beiseite; aber als allgemeine Krankheitsgeschichte der Generalgouverneurs meine ich angeben zu können:

Erstes Stadium: Schwindel. Weihrauchtrunkenheit. Grössenwahn. Unmässiges Selbstvertrauen. Minderachtung anderer, vor allem der durch langen indischen Aufenthalt Eingebürgerten.

Zweites Stadium: Ermattung. Furcht. Mutlosigkeit. Neigung zu Schlaf und Ruhe. Übermässiges Vertrauen auf [245]den Rat von Indien. Abhängigkeit vom Allgemeinen Sekretariat. Heimweh nach einem holländischen Landsitz.

Zwischen diesen beiden Stadien, als Übergang—vielleicht gar als Ursache dieses Übergangs—liegen dysenterische Bauchbeschwerden.

Ich vertraue, dass viele in Indien mir dankbar sein werden für diese Diagnose. Sie ist nutzbar zu verwerten, denn man kann als sicher annehmen, dass der Kranke, der durch Überspannung in der ersten Periode an einer Mücke ersticken würde, später—nach der Bauchkrankheit!—sonder Beschwer Kamele vertragen wird. Oder, um deutlicher zu reden, dass ein Beamter, der »Geschenke annimmt, nicht in der Absicht sich zu bereichern«—z. B. einen Büschel Bananen im Werte einiger Heller—mit Schmach und Schande wird fortgejagt werden in der ersten Periode der Krankheit, dass aber jemand, der die Geduld hat, den letzten Zeitabschnitt abzuwarten, sehr ruhig und ohne irgend welche Furcht vor Strafe sich zum Herrn des Gartens wird machen können, wo die Bananen wachsen, mit den Gärten, die daran liegen ... zum Herrn der Häuser, die in der Nachbarschaft liegen ... zum Herrn dessen, was in diesen Häusern ist ... und zum Herrn des einen und andern mehr, ad libitum.

Jeder benutze diesen pathologisch-philosophischen Hinweis zu seinem Vorteil und halte meinen Rat geheim, um allzugrosser Mitbewerbung vorzubeugen ...


Verflucht, dass Entrüstung und Betrübtheit so oft sich kleiden müssen in das Schelmenkleid der Satire! Verflucht, dass eine Thräne, um begriffen zu werden, von Grinsen begleitet sein muss! Oder liegt die Schuld an meiner Ungeschicktheit, dass ich, um ein Mass für die Tiefe der Wunde zu finden, die krebsartig an unserer Staatsverwaltung frisst, keine Worte finde, ohne meinen Stil bei Figaro oder Polichinel zu suchen?

Stil ... ja! Da vor mir liegen Schriftstücke, worin Stil ist! Stil, der verriet, dass ein Mensch in der Nähe [246]war, ein Mensch, dem die Hand zu reichen der Mühe wert gewesen wäre! Und was hat dieser Stil dem armen Havelaar geholfen? Er übersetzte seine Thränen nicht in Gegrinse, er spottete nicht, er suchte nicht durch grelle Buntheit der Farben zu fesseln oder durch die tollen Spässe des Ausrufers vor der Jahrmarktsbude ... was hat es ihm geholfen?

Könnte ich schreiben wie er, ich würde anders schreiben als er.

Stil? Habt ihr gehört, wie er zu den Häuptlingen sprach? Was hat es ihm geholfen?

Könnte ich reden wie er, ich würde anders reden als er.

Fort mit der friedfertigen Sprache, fort mit Milde, Offenherzigkeit, Deutlichkeit, Einfalt, Gefühl! Fort mit allem, was erinnert an des Horatius »justum ac tenacem«! Trompeten hier etwa und scharfes Gellen von Beckenschlag und Gezisch von Raketen und Schrillen von falschen Saiten und hier und da ein wahres Wort, dass es mit einschlüpfe wie verbotene Ware unter Bedeckung von soviel Getrommel und Gepfeife!

Stil? Er hatte Stil! Er hatte zuviel Seele, um seine Gedanken zu ertränken in dem »ich habe die Ehre« und den »Edelgestrengheiten« und dem »ehrerbietig zur Erwägung geben«, wie es die Wollust der kleinen Welt ausmachte, in der er sich bewegte. Wenn er schrieb, durchdrang einen etwas beim Lesen, das liess verstehen, wie da Wolken trieben bei diesem Unwetter, und dass man da nicht das Poltern eines blechernen Theaterdonners hörte. Wenn er Feuer aus seinen Gedanken schlug, fühlte man die Glut von diesem Feuer, es sei denn, dass man geborene Schreiberseele war oder Generalgouverneur oder Verfasser des allerjämmerlichsten Berichts über »ruhige Ruhe«. Und was hat es ihm geholfen?

Wenn ich also gehört werden will—und verstanden vor allem!—muss ich anders schreiben als er. Aber wie dann?

Sieh, Leser, ich suche nach Antwort auf dieses »wie«, [247]und darum hat mein Buch ein so scheckiges Aussehen. Es ist eine Musterkarte: triff deine Wahl. Nachher werde ich dir gelb oder blau oder rot geben, wie du es wünschest.


Havelaar hatte die Gouverneurskrankheit schon so häufig wahrgenommen, an soviel Patienten—und oft ‚in anima vili‘, denn es giebt analog Residenten-, Kontrolleurs- und Surnumerairskrankheiten, die sich zu der ersteren verhalten wie Masern zu Pocken, und endlich: er selbst hatte an dieser Krankheit gelitten!—schon so häufig hatte er das alles wahrgenommen, dass die bezüglichen Erscheinungen ihm ziemlich gut bekannt geworden waren. Er hatte den gegenwärtigen Generalgouverneur beim Beginn der Krankheit weniger schwindelig gefunden, als die meisten andern vor ihm, und glaubte hieraus schliessen zu dürfen, dass auch der fernere Lauf der Krankheit eine andere Richtung nehmen würde.

Da lag der Grund, dass er fürchtete, er werde der stärkere sein, wenn er schliesslich als Verteidiger des guten Rechts der Einwohner von Lebak würde auftreten müssen. [248]

Sechzehntes Kapitel.

Havelaar erhielt einen Brief vom Regenten von Tjanjor, worin dieser ihm mitteilte, dass er seinem Ohm, dem Adhipatti von Lebak, einen Besuch darzubringen wünsche. Diese Nachricht war ihm sehr unangenehm. Er wusste, dass die Häuptlinge in den Preanger Regentschaften einen grossen Wohlstand zur Schau trugen, und dass der Tjanjorsche Tommongong solch eine Reise nicht ohne ein Gefolge von vielen Hunderten machen würde, die alle mit ihren Pferden beherbergt und bewirtet werden mussten. Er hätte also gern diesen Besuch verhindert, doch er sann vergeblich auf Mittel, die dem zuvorkommen konnten, ohne dass sie den Regenten von Rangkas-Betung kränkten, da dieser sehr stolz war und sich tief beleidigt gefühlt haben würde, wenn man seine verhältnismässige Armut als zu entscheidendes Moment angeführt hätte, ihn nicht zu besuchen. Und wenn dieser Besuch nicht zu umgehen war, so musste er unausbleiblich Veranlassung zur Erschwerung des Druckes geben, unter dem die Bevölkerung gebeugt ging.

Es ist zweifelhaft, ob Havelaars Ansprache einen bleibenden Eindruck auf die Häuptlinge gemacht hatte. Bei vielen war dies sicher nicht der Fall, worauf er selbst denn auch nicht gerechnet hatte. Doch ebenso gewiss ist, dass es in den Dörfern freudig von Mund zu Mund gegangen war, dass der Tuwan, der zu Rangkas-Betung Macht hätte, Recht thun wolle, und hatten also auch seine Worte nicht die [249]Kraft gehabt, vor Verbrechen zurückzuschrecken, sie hatten doch den Schlachtopfern derselben den Mut gegeben, sich zu beschweren, geschah es immerhin auch nur zaghaft und verstohlenerweise.

Sie krochen abends durch den Ravijn, und Tine, in ihrem Zimmer sitzend, wurde mehrfach durch unerwartetes Geräusch aufgeschreckt, und sie gewahrte, hinausblickend durchs offene Fenster, dunkle Gestalten, die mit scheuem Tritt vorbeischlichen. Bald erschrak sie nicht mehr, denn sie wusste, was es auf sich hatte, wenn diese Gestalten so spukhaft ums Haus irrten und Schutz suchten bei ihrem Max! Dann winkte sie ihm, und er stand auf, um die Kläger zu sich zu rufen. Die meisten kamen aus dem Distrikt Parang-Kudjang, wo des Regenten Schwiegersohn Häuptling war, und wiewohl dieser Häuptling gewiss nicht versäumte, seinen Teil vom Erpressten zu nehmen, so war es doch für niemanden ein Geheimnis, dass er meistens im Namen und für den Niessbrauch des Regenten raubte. Es war rührend, wie die armen Betroffenen auf Havelaars Ritterlichkeit bauten und überzeugt waren, er werde sie nicht rufen, dass sie am folgenden Tage öffentlich wiederholten, was sie in der Nacht oder am Abend vorher bei ihm im Zimmer gesagt hatten. Denn dies hätte Misshandlung bedeutet für alle, und für viele den Tod! Havelaar zeichnete auf, was sie sagten, und darauf gebot er den Klägern, dass sie in ihr Dorf zurückkehrten. Er versprach, dass Recht geschehen würde, wenn sie nur nicht zur Gewalt griffen und nicht auswanderten, wie es die meisten im Sinne hatten. Meistens war er kurz darauf an dem Ort, wo das Unrecht geschah, ja, oft war er bereits dagewesen und hatte—gewöhnlich des Nachts—die Sache untersucht, bevor noch der Kläger selbst an seine Wohnstätte zurückgekehrt war. So besuchte er in dieser ausgedehnten Abteilung Dörfer, die zwanzig Stunden von Rangkas-Betung entfernt waren, ohne dass der Regent noch selbst der Kontrolleur Verbrugge wussten, dass er vom Hauptplatze abwesend war. Er bezweckte damit, die Gefahr der Rache [250]von den Klägern abzuwenden und zugleich dem Regenten die Beschämung einer öffentlichen Untersuchung zu ersparen, die unter ihm sicher nicht wie früher mit einer Einziehung der Klage abgelaufen wäre. So hoffte er noch immer, dass die Häuptlinge den gefährlichen Weg verlassen würden, den sie schon so lange begingen, und es hätte in diesem Falle für ihn sein Bewenden damit gefunden, dass er die Schadlosstellung der Beraubten forderte ... sofern die Vergütung des erlittenen Schadens möglich sein würde.

Doch jedesmal, nachdem er aufs neue mit dem Regenten gesprochen hatte, erlangte er die Überzeugung, dass die Versprechungen der Besserung eitel waren, und er war bitter betrübt über das Missglücken seiner Bemühungen.

Wir werden ihn nun einige Zeit dieser Betrübtheit und seiner mühevollen Arbeit überlassen, um dem Leser die Geschichte von dem Javanen Saïdjah in der Dessah Badūr zu erzählen. Ich entnehme den Namen des Dorfes und den des Javanen aus den Aufzeichnungen von Havelaar. Es wird darin Rede sein von Erpressung und Raub, und wenn man einer dichterischen Schöpfung—was ihren Hauptzweck angeht—Beweiskraft absprechen möchte, so gebe ich die Versicherung, dass ich im stande bin, die Namen von zweiunddreissig Personen allein im Distrikt Parang-Kudjang anzugeben, denen in der Zeit eines Monats sechsunddreissig Büffel abgenommen sind für den Niessbrauch des Regenten. Oder, noch treffender ausgedrückt: dass ich die Namen nennen kann von zweiunddreissig Personen aus diesem Distrikt, die in einem Monat sich zu beklagen den Mut gehabt haben, und deren Klage von Havelaar untersucht und begründet befunden ist.

Solcher Distrikte sind fünf in der Abteilung Lebak ...

Wenn man nun anzunehmen beliebt, dass die Anzahl geraubter Büffel minder gross war in den Landschaften, die nicht die Ehre hatten, von einem Schwiegersohn des Adhipatti verwaltet zu werden, will ich dem nicht widersprechen, wie sehr es die Frage bleibt, ob nicht die Unverschämtheit [251]von anderen Häuptern auf gleich festem Untergrunde ruhte wie auf hoher Verwandtschaft. Der Distriktshäuptling zum Beispiel von Tjilang-Kahan an der Südküste konnte in Ermangelung eines gefürchteten Schwiegervaters sich stützen auf die Schwierigkeit des Einbringens einer Klage für arme Leute, die einen Weg von vierzig bis sechzig »Pfählen« zurückzulegen hatten, ehe es ihnen möglich war, sich abends im Ravijn nahe Havelaars Hause zu verbergen. Und wenn man dazu die vielen berücksichtigt, die sich auf den Weg machten, ohne jemals das Haus zu erreichen ... die vielen, die nicht einmal aus ihrem Dorfe sich aufmachten, abgeschreckt durch eigene Erfahrung oder das Los gewahrend, das anderen Klägern erblühte, dann, glaube ich, würde sich die Meinung als unrichtig herausstellen, dass die Multiplizierung der Zahl gestohlener Büffel aus einem Distrikt mit fünf einen zu hohen Massstab ergäbe für den, der nach der Statistik der Anzahl Rinder verlangt, die jeden Monat in fünf Distrikten geraubt wurden, um den Erfordernissen in der Hofhaltung des Regenten von Lebak zu dienen.

Und nicht nur Büffel waren es, die gestohlen wurden, noch war gar Büffelraub das hauptsächlichste, das in Frage kam. Es ist—besonders in Indien, wo noch immer »Herrendienst« gesetzlich besteht—ein geringeres Mass von Unverschämtheit nötig, um die Bevölkerung ungesetzlicherweise zu unbezahlter Arbeit aufzurufen, als erforderlich ist, um Eigentum wegzunehmen. Es ist leichter, der Bevölkerung weiszumachen, dass die Regierung ihrer Arbeit bedürfe, ohne sie bezahlen zu wollen, als von dieser Regierung zu sagen, dass sie ihre Büffel verlange für nichts und wieder nichts. Und würde auch der furchtsame Javane nachzuspüren wagen, ob der sogenannte »Herrendienst«, den man von ihm verlangt, mit den diesbezüglichen Vorschriften in Einklang steht, dann noch würde ihm dies unmöglich sein, da der eine nicht vom andern weiss und er also nicht berechnen kann, ob die festgestellte Zahl Personen nicht zehn-, ja, fünfzigfach überschritten ist. Wo also die mehr gefährliche, leichter zu [252]entdeckende That mit solcher Vermessenheit ausgeführt wird, was ist da von den Missbräuchen zu denken, deren man sich bequemer schuldig machen kann und die minder der Entdeckungsgefahr ausgesetzt sind?

Ich sagte, dass ich übergehen würde zu der Geschichte des Javanen Saïdjah. Zuvor jedoch bin ich zu einer der Abschweifungen genötigt, die bei der Schilderung von Zuständen, die dem Leser gänzlich fremd sind, so schwer zu vermeiden sind. Ich werde gleichzeitig die sich bietende Gelegenheit ergreifen, auf eins der Hindernisse hinzuweisen, die das rechte Beurteilen Indischer Angelegenheiten nicht-indischen Personen so besonders schwierig machen.

Wiederholt habe ich von Javanen gesprochen, und wie natürlich dies dem europäischen Leser vorkommen möge, diese Benennung wird doch wie ein Fehler in den Ohren desjenigen geklungen haben, der auf Java Bescheid weiss. Die westlichen Residentschaften Bantam, Batavia, Preanger, Krawang und ein Teil von Cheribon—zusammen Sundahlande genannt—werden nicht als zum eigentlichen Java gehörig betrachtet, und in der That ist, um nun nicht von den über die See hergekommenen Fremdlingen in diesen Gegenden zu reden, die dort heimische Bevölkerung eine ganz andere als die auf Mittel-Java und in der sogenannten Ostecke. Kleidung, Volkssitte und Sprache sind so ganz anders als mehr ostwärts, sodass der Sundanese oder Orang Gunung gegen den eigentlichen Javanen mehr Unterscheidung zeigt als ein Engländer gegen den Holländer. Solche Unterschiede geben Veranlassung zu Abweichungen in der Beurteilung Indischer Angelegenheiten. Man wird wohl, wenn man sich überzeugt, dass Java allein schon so scharf in zwei ungleich geartete Teile abgeteilt ist, ohne noch auf die vielen Unterstufen dieser Zweiteilung zu achten, man wird gewiss daraus berechnen können, wie gross der Unterschied bei Volksstämmen sein muss, wenn sie weiter voneinander wohnen und gar durch die See geschieden sind. Wem Niederländisch-Indien allein von Java her bekannt ist, der kann sich [253]ebensowenig eine rechte Vorstellung von dem Malayen, dem Amboinesen, dem Battah, dem Alfur, dem Timoresen, dem Dajak, dem Bugie oder dem Makassar bilden, wie wenn er niemals Europa verlassen hätte, und es ist für jemanden, dem Gelegenheit wurde, den Unterschied zwischen diesen Völkern wahrzunehmen, häufig ergötzlich, die Gespräche von Personen anzuhören—toll und betrübend zugleich, ihre Redensarten gedruckt sehen zu müssen!—von Personen, die ihre Erfahrungen in Indischen Angelegenheiten in Batavia oder in Buitenzorg erwarben. Oftmals habe ich mich über den Mut gewundert, mit dem zum Beispiel ein gewesener Generalgouverneur in der Volksvertretung seinen Worten durch angeblichen Anspruch auf Platzkenntnis und -erfahrung Gewicht beizulegen sucht. Ich habe hohe Achtung vor Wissenschaft, die durch ernsthaftes Studium im Studierzimmer erworben ist, und oft verwunderte ich mich über die Ausgedehntheit der Kenntnis von Indischen Dingen, die manche im Besitz zeigen, ohne jemals Indischen Boden betreten zu haben. Sobald nun bei einem gewesenen Generalgouverneur zu erkennen ist, dass er sich derartige Kenntnis auf diese Weise zu eigen gemacht, gebührt ihm die Achtung, die der rechtmässige Lohn vieljähriger, unverdrossener, fruchtbarer Arbeit ist. Grösser noch sei vor ihm die Achtung als vor dem Gelehrten, der geringere Schwierigkeiten zu überwinden hatte, da er aus der Entfernung ohne Anschauung weniger Gefahr lief, in die Irrtümer zu verfallen, die die Folge einer mangelhaften Anschauung sind, wie sie unvermeidlich dem gewesenen Generalgouverneur zu teil wurde.

Ich sagte, dass ich erstaunte über den Mut, den manche bei der Behandlung Indischer Angelegenheiten an den Tag legten. Sie wissen doch, dass ihre Worte auch von andern Leuten gehört werden, als nur von denen, die da vielleicht meinen, dass ein paar Jahre Aufenthalt in Buitenzorg hinreichen, um Indien zu kennen. Es muss ihnen doch bekannt sein, dass diese Worte auch von Personen gelesen werden, die in Indien selbst Zeugen ihrer Unerfahrenheit waren und die ebensosehr [254]wie ich stutzen müssen über die Keckheit, mit der jemand, der noch so kurze Zeit vorher vergeblich seine Untauglichkeit unter dem hohen Range zu verstecken suchte, den ihm der König gab, jetzt auf einmal so spricht, als ob er wirklich Kenntnis von den Dingen besässe, die er in seiner Rede behandelt.

Oft hört man denn auch Klagen über unbefugte Einmengung. Oft wird diese oder jene Richtung in der kolonialen Politik bekämpft, indem dem Betreffenden, der solche Richtung vertritt, die Kompetenz abgesprochen wird, und vielleicht wäre es nicht uninteressant, eine Nachforschung nach den Eigenschaften anzustellen, die jemanden befugt machen, über Befugtheit zu urteilen. Meistens wird eine wichtige Frage nicht an der Sache geprüft, um die es sich bei dieser Frage handelt, sondern sie wird bemessen nach dem Wert, den man der Meinung des Mannes beimisst, der darüber das Wort führt, und da dies meistens die Person ist, die als eine »Spezialität« gilt, in der Regel jemand, »der in Indien eine so gewichtige Stellung bekleidet hat«, so folgt hieraus, dass das Resultat einer Abstimmung meistens die Couleur der Irrtümer trägt, die nun einmal von »diesen gewichtigen Stellungen« untrennbar scheinen. Wenn dies schon seine Geltung hat, wo der Einfluss sothaner Spezialität von einem Mitglied der Volksvertretung ausgeübt wird, wie gross wird dann erst die Gewissheit verkehrter Urteilsbildung, wenn solcher Einfluss gepaart geht mit dem Vertrauen des Königs, der sich zwingen liess, solch eine Spezialität an die Spitze seines Ministeriums für die Kolonien zu setzen.

Es ist eine eigentümliche Erscheinung—herzuleiten vielleicht aus einer Art Trägheit, die die Mühe dies Selbst-Urteilens scheut—wie leicht man Personen Vertrauen schenkt, die sich den Schein höherer Kenntnis zu geben wissen, sobald nur diese Kenntnis aus Quellen geschöpft sein kann, die nicht jedem zugänglich sind. Die Ursache liegt vielleicht darin, dass durch die Anerkennung eines derartigen Übergewichts die Eigenliebe weniger gekränkt wird, als es der Fall sein würde, wenn man sich derselben Hülfsmittel [255]hätte bedienen können, wodurch etwas wie Wetteifer entstehen würde. Es fällt dem Volksvertreter leicht, seine Empfindlichkeit aufzugeben, sobald ihn jemand bekämpft, von dem man annehmen kann, dass er ein zutreffenderes Urteil fällt als er, wenn nur diese vorausgesetzte grössere Zutreffendheit nicht persönlicher Tüchtigkeit zugeschrieben werden braucht—deren Anerkennung schwerer fallen würde—sondern allein den besonderen Umständen, die sich diesem Gegner günstig erwiesen.

Und ohne von denen zu reden, »die solche hohen Stellungen in Indien einnahmen«: es ist wirklich sonderbar, wie man vielfach der Meinung von Personen Wert beilegt, die nichts weiter besitzen, was diese Anerkennung rechtfertigt, als die »Erinnerung an einen soundsovieljährigen Aufenthalt in diesen Gegenden«. Das ist um so mehr merkwürdig, als sie, die Gewicht auf solchen Beweisgrund legen, doch nicht bereitwillig alles annehmen würden, was ihnen von irgend einem, der erkennen liess, dass er vierzig oder fünfzig Jahre in Niederland gewohnt, über den Haushalt des Niederländischen Staates gesagt werden würde. Es giebt Personen, die sich ebenso lange in Niederländisch-Indien aufhielten, ohne je mit der Bevölkerung oder mit Inländischen Häuptlingen in Berührung gekommen zu sein, und es ist betrübend, dass der Rat von Indien sehr oft ganz oder zum grossen Teil aus solchen Personen zusammengesetzt ist, ja, dass man selbst Mittel gefunden hat, den König Ernennungen von Leuten zum Generalgouverneur zeichnen zu lassen, die zu dieser Art von Spezialitäten gehören.

Als ich sagte, dass die Annahme der Tauglichkeit eines neuernannten Generalgouverneurs uns zu der Ansicht berechtige, dass man ihn für ein Genie hielt, war es keineswegs meine Absicht, die Ernennung von Genies anzuempfehlen. Abgesehen von der Misslichkeit, die darin bestände, dass man einen so wichtigen Posten fortwährend unbesetzt liesse, spricht noch ein anderer Grund dagegen. Ein Genie würde unter dem Ministerium für die Kolonien nicht arbeiten [256]können und also unbrauchbar sein für den Posten des Generalgouverneurs ... wie das Genies ja mehrfach sind.

Es wäre vielleicht zu wünschen, dass die von mir in der Form einer Krankheitsgeschichte mitgeteilten Hauptmängel die Beachtung derjenigen erregten, die zur Wahl eines neuen Landvogts berufen sind. Vor allem die Wichtigkeit betonend, dass all die Personen, die für den Posten des Generalgouverneurs in Vorschlag gebracht werden, rechtschaffen seien und im Besitz eines Fassungsvermögens, das sie einigermassen befähigt, zu lernen, was sie werden wissen müssen, halte ich es darnach für sehr notwendig, dass man mit einigem begründeten Vertrauen von den Kandidaten die Vermeidung jener anmassenden Besserwisserei im Anfang, und vor allem jener apathischen Schläfrigkeit in den letzten Jahren ihrer Verwaltung erwarten kann. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Havelaar bei seiner schweren Verpflichtung sich auf den Beistand des Generalgouverneurs vermeinte stützen zu können, und ich fügte hinzu, »dass diese Meinung naiv war«. Dieser Generalgouverneur erwartete seinen Nachfolger: die Ruhe in Niederland winkte!

Wir werden sehen, was diese Neigung zu Schlaf der Abteilung Lebak, Havelaar und auch dem Javanen Saïdjah eingebracht hat, zu dessen eintöniger Geschichte—einer unter sehr vielen!—ich jetzt übergehe.

Ja, eintönig wird sie sein! Eintönig wie die Erzählung von der Arbeitsamkeit der Ameise, die ihren Beitrag zum Wintervorrat den Erdklumpen—den Berg—hinanschleppen muss, der auf dem Wege zur Vorratskammer liegt. Jedesmal fällt sie zurück mit ihrer Fracht, um jedesmal wieder zu versuchen, ob sie wohl endlich festen Fuss fassen werde auf dem Steinchen dort oben—auf dem Felsen, der den Berg krönt. Aber zwischen ihr und diesem Gipfel ist ein Abgrund, der überholt werden muss ... eine Tiefe, die tausend Ameisen nicht ausfüllen würden. Darum muss sie, die nur eben die Kraft hat, ihre Last, die viele Male schwerer ist als ihr eigener Körper, auf ebenem Grund fortzuschleppen, [257]sich weit emporheben und sich auf einem schwankenden Fleck hoch aufgerichtet halten. Sie muss das Gleichgewicht bewahren, wenn sie sich aufrichtet mit der Last zwischen ihren Vorderfüsschen. Sie muss sie umklammern und muss in steter Aufwärtsrichtung streben, sie auf den Punkt, der aus der Felswand hervorspringt, niederzusenken. Sie wankt, sie schwankt, sie erstickt, die Kraft verlässt sie, sie sucht sich an dem halb entwurzelten Baumstamm zu halten, der mit seiner Krone in die Tiefe weist—ein Grashalm!—sie findet nicht den Stützpunkt, den sie sucht: der Baum schnellt zurück—der Grashalm weicht unter ihrem Fuss—ach, die Ärmste stürzt in die Tiefe mit ihrer Fracht. Dann ist sie einen Augenblick still, wohl eine ganze Sekunde lang—was viel ist in dem Leben einer Ameise. Ob sie betäubt ist von dem Schmerz ihres Sturzes? Oder überlässt sie sich missmutiger Stimmung, da soviel Anspannung eitel war? Doch sie verliert den Mut nicht. Wieder ergreift sie ihre Last und wieder schleppt sie sie nach oben, um darauf noch einmal und immer noch einmal in die Tiefe niederzustürzen.

So eintönig ist meine Geschichte. Allein, nicht von Ameisen will ich sprechen, deren Freud und Leid unserer Wahrnehmung wegen der Grobheit der menschlichen Sinne entgeht. Ich will erzählen von Menschen, von Wesen, die ein Empfinden haben wie wir. Allerdings, wer Rührung scheut und lästigem Mitleid entgehen will, der wird sagen, dass diese Menschen gelb sind, oder braun—viele nennen sie schwarz—und für diese ist die Abweichung in der Farbe Grund genug, ihr Auge von diesem Elend abzuwenden, oder zum mindesten, wenn sie darauf niedersehen, es zu thun sonder Rührung.

Meine Erzählung ist also allein an diejenigen gerichtet, die fähig sind zu dem schwierigen Glauben, dass da Herzen klopfen unter dieser dunklen Haut, und dass, wer gesegnet ist mit Weisse und dem damit verbundenen Vorzug an Bildung, Edelmut, Handels- und Gotteskenntnis, Tugend ... dass der seine schimmernd weissen Qualitäten auf andere Weise zur Geltung bringen könnte, als es bis jetzt diejenigen [258]erfahren haben, die minder gesegnet sind in Bezug auf Hautfarbe und allerhand Seelenvortrefflichkeit.

Mein Vertrauen auf Mitgefühl mit den Javanen geht jedoch nicht so weit, dass ihr bei der Beschreibung, wie man den letzten Büffel aus dem Kendang raubt, bei Tage, ohne Scheu, unter dem Schutze der Niederländischen Autorität ... wenn ich hinter dem weggeführten Rinde her den Eigner folgen lasse mit seinen weinenden Kindern ... wenn ich ihn niedersitzen lasse auf der Treppe vor des Räubers Hause, sprachlos, wesenlos und versunken in Schmerz ... wenn ich ihn von da verjagen lasse mit Hohn und Schmach, mit Androhung von Stockprügeln und Blockgefängnis ... seht, ich fordere nicht—noch erwarte ich, o Niederländer!—dass ihr euch dadurch in gleichem Masse ergreifen lasset, als wenn ich euch das Los eines Bauern schilderte, dem man seine Kuh wegnahm. Ich verlange keine Thräne bei den Thränen, die über so dunkle Angesichter fliessen, noch edlen Zorn, wenn ich von der Verzweiflung der Beraubten sprechen werde. Ebensowenig erwarte ich, dass ihr aufstehen werdet und mit meinem Buche in der Hand vor den König tretet und sagt: »Sieh, o König, das geschieht in deinem Reich, in deinem schönen Reiche Insulinde!«

Nein, nein, nein, das alles erwarte ich nicht! Zuviel Leides in der Nähe macht sich Meister eures Gefühls, als dass es euch so viel Gefühl überliesse für etwas, das so fern liegt! Werden nicht all eure Nerven in Spannung gehalten durch die Unannehmlichkeiten der Wahl eines neuen Kammermitgliedes? Schwankt nicht eure entzweite Seele zwischen den weltberühmten Verdiensten der Nichtigkeit A und der Unbedeutendheit B? Und habt ihr nicht eure teuren Thränen für ernstere Dinge nötig als ... doch was brauche ich mehr zu sagen! War es nicht gestern flau auf der Börse, und drohte nicht etwas lebhafterer Import dem Kaffeemarkt mit Sinken? [259]

»Schreiben Sie doch solch sinnlose Dinge nicht an Ihren Papa, Stern!« habe ich gesagt, und vielleicht sagte ich das etwas hitzig, denn ich kann keine Unwahrheit leiden, das ist immer ein fester Grundsatz bei mir gewesen. Ich habe gleich denselben Abend an den alten Stern geschrieben, dass er ein bisschen Eile hinter seine Ordres setzen und vor allem vor falschen Berichten auf der Hut sein müsse, denn der Kaffee steht sehr gut.

Der Leser empfindet wohl, was ich beim Anhören dieser letzten Kapitel wieder ausgestanden habe. Ich habe im Kinderzimmer ein Solitärspiel gefunden, und das nehme ich fortan mit aufs Kränzchen. Hatte ich nicht recht, als ich sagte, dass dieser Shawlmann alle toll gemacht hat mit seinem Paket? Sollte man aus all dem Geschreib von Stern—und Fritz macht auch mit, das ist gewiss!—wohl junge Leute wiedererkennen, die in einem vornehmen Hause erzogen werden? Was für alberne Ausfälle sind das gegen eine Krankheit, die sich in dem Verlangen nach einem Ruhesitz äussert? Ist das auf mich gemünzt? Darf ich nicht nach Driebergen gehen, wenn Fritz Makler ist? Und wer spricht von Bauchwehanfällen in Gesellschaft von Frauen und Mädchen? Es ist ein fester Grundsatz bei mir, immer mässig und gelassen zu bleiben—denn ich halte das für nützlich in Geschäften—doch ich muss sagen, dass es mich manchmal grosse Mühe kostete beim Anhören von all dem überspannten Kram, den Stern vorliest. Was will er denn nur? Was wird das Ende sein? Wann kommt denn nun endlich etwas Solides? Was geht es mich an, ob dieser Havelaar seinen Garten schön in Stand hält, und ob die Menschen bei ihm vorn oder hinten hineinkommen? Bei Busselinck & Waterman muss man durch einen ganz schmalen Gang, an einem Ölspeicher entlang, wo es ganz muffig und dreckig ist. Und dann das lange Gesaires über die Büffel! Was brauchen sie Büffel zu haben, diese Schwarzen! Ich habe noch niemals einen Büffel gehabt und bin doch zufrieden. Es giebt Menschen, die ewig klagen. Und was das Schimpfen auf die [260]Zwangsarbeit betrifft, man sieht wohl, dass er die Predigt von Pastor Wawelaar nicht gehört hat, sonst würde er wissen, wie nützlich dieses Arbeiten für die Ausbreitung des Reiches Gottes ist. Allerdings, er ist lutherisch.

O, bestimmt, wenn ich eine Ahnung hätte haben können, wie er das Buch schreiben würde, das von solcher Bedeutung werden muss für alle Makler in Kaffee—und für andere—dann hätte ich’s lieber selbst gethan. Doch hat er eine Stütze an den Rosemeyers, die in Zucker machen, und das macht ihm soviel Mut. Ich habe geradeaus gesagt—denn ich bin aufrichtig in solchen Sachen—dass wir uns die Geschichte von dem Saïdjah wohl würden schenken können, aber da kriegte ich es auf einmal mit Luise Rosemeyer zu thun. Es scheint, dass Stern ihr gesagt hat, dass was von Liebe drin vorkommen sollte, und da sind solche Mädchen toll nach. Ich würde mich jedoch hierdurch nicht haben abschrecken lassen, wenn mir nur die Rosemeyers nicht gesagt hätten, dass sie gern mit Sterns Vater Bekanntschaft machen möchten. Das natürlich nur deswegen, um durch den Vater zu dem Onkel zu kommen, der in Zucker macht. Wenn ich nun zu stark für den gesunden Menschenverstand Partei ergreife gegen den jungen Stern, so lade ich den Schein auf mich, als wenn ich sie von ihm abziehen wollte, und das ist durchaus nicht der Fall, denn sie machen in Zucker.

Ich kann durchaus nicht hinter Sterns Absichten mit seinem Geschreib kommen. Es giebt immer unzufriedene Menschen, und steht es ihm nun schön, der er soviel Gutes geniesst in Holland—diese Woche noch hat meine Frau ihm Kamillenthee aufgebrüht—steht es ihm wohl gut, dass er so auf die Regierung schimpft? Will er damit die allgemeine Unzufriedenheit noch mehr anfachen? Will er Generalgouverneur werden? Er ist anmassend genug dazu ... um es zu wollen, meine ich. Ich stellte vorgestern diesbezüglich eine Frage an ihn und fügte geradeaus hinzu, dass sein Holländisch noch sehr mangelhaft sei. »O, damit hat’s keine Schwierigkeiten, sagte er; es scheint nur selten ein General-gouverneur [261]dorthin geschickt zu werden, der die Sprache des Landes versteht.« Was soll ich nun anfangen mit so einem Naseweis? Er hat nicht den geringsten Respekt vor meiner Erfahrung. Als ich ihm diese Woche sagte, dass ich bereits siebzehn Jahre Makler wäre und schon zwanzig Jahre die Börse besuchte, führte er Busselinck & Waterman an, die schon achtzehn Jahre Makler sind, und, sagte er, »die haben also ein Jahr Erfahrung mehr«. So fing er mich, denn ich muss, weil ich auf Wahrheit halte, wohl zugeben, dass Busselinck & Waterman wenig vom Geschäft verstehen und dass es niederträchtige Pfuscher sind.

Marie ist auch angesteckt. Denkt euch, diese Woche—sie war an der Reihe mit dem Vorlesen beim Frühstück, und wir waren bei der Geschichte von Lot—hielt sie plötzlich auf und wollte nicht weiterlesen. Meine Frau, die ebensosehr wie ich auf Religion hält, suchte sie mit Güte zum Gehorsam zu bewegen, weil es sich doch für ein sittsames Mädchen nicht passt, so eigensinnig zu sein. Alles vergeblich! Darauf musste ich als Vater mit grosser Strenge sie vermahnen, denn sie verdarb mit ihrer Hartnäckigkeit die Morgenerbauung beim Frühstück, was immer ungünstig auf den ganzen Tag wirkt. Doch es war nichts mit ihr anzufangen, und sie ging so weit, dass sie sagte, sie wollte lieber totgeschlagen werden, als dass sie weiterläse. Ich habe sie mit drei Tagen Stubenarrest bestraft, bei Kaffee und Brot, und hoffe, dass ihr das gut thun wird. Um zugleich diese Strafe für die sittliche Besserung dienen zu lassen, habe ich ihr aufgegeben, das Kapitel, das sie nicht lesen wollte, zehnmal abzuschreiben, und ich bin zu dieser Strenge vor allem übergegangen, weil ich bemerkt habe, dass sie in der letzten Zeit—ob dies von Stern kommt, weiss ich nicht—Ansichten angenommen hat, die mir gefährlich für die Sittlichkeit scheinen, auf die meine Frau und ich so sehr viel geben. Ich habe sie unter anderm ein französisches Lied singen hören—von Béranger, glaube ich—worin eine arme alte Bettlerin beklagt wird, die in ihrer Jugend an einem Theater [262]sang, und gestern erschien sie beim Frühstück ohne Korsett—unsere Marie, meine ich—was doch nicht anständig ist.

Auch muss ich sagen, dass Fritz wenig Gutes mit nach Hause genommen hat von der Betstunde. Ich war recht zufrieden gewesen über sein Stillsitzen in der Kirche. Er rührte sich nicht und wandte kein Auge von der Kanzel, doch später erfuhr ich, dass Betsy Rosemeyer im Taufgestühle gesessen hatte. Ich habe nichts dagegen gesagt, denn man muss nicht allzustreng gegen junge Leute sein, und die Rosemeyers sind ein anständiges Haus. Sie haben ihrer ältesten Tochter, die an den Bruggeman in Droguen verheiratet ist, eine recht nette Mitgift ausgesetzt, und darum glaube ich, dass so etwas Fritz vom Westermarkt abhält, was mir sehr angenehm ist, denn ich gebe soviel auf Sittlichkeit.

Allein dies hindert nicht, dass es mich ärgert, zu sehen, wie Fritz sein Herz verhärtet, gerade wie Pharao, der minder schuldig war wie er, da er keinen Vater hatte, der ihm immerwährend den rechten Weg wies, denn von dem alten Pharao sagt die Schrift nichts. Pastor Wawelaar klagt über seine Anmassendheit—über Fritzens, meine ich—in der Katechismusstunde, und der Junge scheint—natürlich wieder aus dem Paket von Shawlmann—eine Naseweisigkeit sich angeeignet zu haben, die den sonst sinnigen Wawelaar ganz aus der Fassung bringt. Es ist rührend, wie der würdige Mann, der häufig Kaffee bei uns trinkt, bei Fritz auf das Gefühl zu wirken sucht, und wie der Bengel jedesmal neue Fragen bei der Hand hat, die die Widerborstigkeit seines Gemüts verraten ... es stammt alles aus dem verfluchten Paket von Shawlmann! Mit Thränen der Rührung auf den Wangen versucht der eifrige Diener des Evangeliums ihn zu bewegen, abzulassen von der Weisheit nach dem Menschen, um eingeführt zu werden in die Geheimnisse der Weisheit Gottes. Mit Milde und Zärtlichkeit fleht er ihn an, doch nicht das Brot des ewigen Lebens zu verwerfen und solchermassen in Satans Klauen zu fallen, der mit seinen Engeln das Feuer bewohnt, das ihm bereitet ist für alle Ewigkeit. »O, sagte er [263]gestern—Wawelaar meine ich—o, mein junger Freund, öffnen Sie doch die Augen und die Ohren und hören Sie und sehen, was der Herr Ihnen giebt zu hören und zu sehen durch meinen Mund. Achten Sie auf die Zeugnisse der Heiligen, die gestorben sind für den wahren Glauben! Sehen Sie Stephanus, wie er niedersinkt unter den Feldsteinen, die ihn zerschmettern! Sehen Sie, wie noch sein Blick zum Himmel gerichtet ist, und wie noch seine Zunge Psalmen singt ...«

»Ich hätte lieber wiedergeschmissen!« sagte Fritz darauf.—Leser, was soll ich mit dem Jungen anfangen?

Einen Augenblick später begann Wawelaar aufs neue, denn er ist ein eifriger Knecht Gottes und lässt nicht ab von der Arbeit. »O, junger Freund, sagte er, öffnen Sie doch,« ... der Anfang war so wie vorhin. »Doch, fuhr er fort, können Sie unbewegt bleiben, wenn Sie bedenken, was aus Ihnen werden wird, wenn Sie einmal werden gezählt werden zu den Böcken auf der linken Seite ...«

Da brach der Taugenichts in Gelächter aus—Fritz, meine ich—und auch Marie fing an zu lachen. Sogar meinte ich etwas wie Lachen auf dem Gesicht meiner Frau zu entdecken. Doch da bin ich Wawelaar zu Hülfe gekommen, ich habe Fritz mit einer Busse aus seinem Spartopf belegt, die an die Missionsgesellschaft gezahlt werden soll.

Ach, Leser, dies alles nimmt mich recht mit. Und man sollte bei solchem Kummer sich damit ergötzen, Geschichten anzuhören über Büffel und Javanen? Was ist ein Büffel im Vergleich zu Fritzens Seligkeit? Was gehen mich die Angelegenheiten der Menschen in weiter Ferne an, wenn ich fürchten muss, dass Fritz durch seinen Unglauben, meinen eigenen Angelegenheiten Verderben bringt und dass er niemals ein tüchtiger Makler werden wird? Denn Wawelaar hat es selbst gesagt, dass Gott alles so regiert, dass Rechtgläubigkeit zum Reichtum führt. »Sehet nur, sagte er, ist nicht viel Reichtum in Niederland? Das kommt vom Glauben her. Ist nicht in Frankreich häufig Mord und Totschlag? Das kommt daher, dass sie dort katholisch sind. Sind nicht [264]die Javanen arm? Es sind Heiden. Je länger die Holländer mit den Javanen Umgang pflegen, desto mehr Reichtum wird hier kommen und desto mehr Armut da drüben. Das ist Gottes Wille so!«

Ich bin erstaunt über Wawelaars Einsicht in Geschäftssachen. Denn es ist Thatsache, dass ich, der ich streng auf Religion halte, meine Geschäfte von Jahr zu Jahr weitere Fortschritte nehmen sehe, während die Busselinck & Waterman, die weder auf Gott noch auf sonstwas etwas geben, ihr Leben lang niederträchtige Pfuscher bleiben werden. Auch die Rosemeyers, die in Zucker machen und ein katholisches Mädchen halten, haben unlängst wieder 27% aus der Masse eines Juden annehmen müssen, der pleite war. Je mehr ich nachdenke, desto weiter komme ich in der Ergründung von Gottes unerforschlichen Wegen. Kürzlich hat es sich gezeigt, dass wieder dreissig Millionen Reingewinn erzielt sind durch den Verkauf von Produkten, die die Heiden geliefert haben, und darin ist nicht einmal eingerechnet, was ich daran verdient habe und die vielen andern, die von diesen Geschäften leben. Ist das nun nicht so, als ob der Herr sagte: »siehe da, dreissig Millionen zur Belohnung eures Glaubens«? Zeigt sich da nicht deutlich der Finger Gottes, der den Bösen lässet arbeiten, dass er den Gerechten erhalte? Ist das nicht ein Wink, auf dem guten Wege fortzuschreiten? Ein Wink, da drüben viel hervorbringen zu lassen, und hier auszuharren im wahren Glauben? Heisst es nicht darum »betet und arbeitet«, dass wir beten sollen und die Arbeit durch all das schwarze Kropzeug thun lassen, das kein Vaterunser kennt?

O, wie hat Wawelaar recht, wenn er Gottes Joch sanft nennt! Wie leicht wird die Last gemacht jedem, der glaubt! Ich bin eben in den Vierzigern und könnte austreten, wenn ich wollte, und nach Driebergen gehen, und nun seht daneben, wie es mit andern abläuft, die den Herrn verliessen. Gestern habe ich Shawlmann gesehen mit seiner Frau und ihrem Jungen: sie sahen aus wie Gespenster. Er ist bleich wie der Tod, seine Augen schwellen heraus, und seine Backen sind [265]hohl. Seine Haltung ist gebeugt, obwohl er noch jünger ist als ich. Auch sie war sehr ärmlich gekleidet und schien wieder geweint zu haben. Nun, ich hatte ja gleich bemerkt, dass sie unzufrieden von Natur ist, denn ich brauche nur einmal jemanden zu sehen, um ihn zu beurteilen. Das kommt von der Erfahrung. Sie hatte eine Mantille von schwarzer Seide umhängen, und es war doch sehr kalt. Von Krinoline keine Spur. Ihr leichtes Kleid hing ihr schlapp um die Kniee, und am Rande waren Fransen. Er hatte nicht mal mehr seinen Shawl um und sah aus, als ob es Sommer wäre. Doch scheint er noch eine Art trotzigen Stolz zu besitzen, denn er gab einer armen Frau etwas, die auf der Brücke sass, und wer selbst so wenig hat, sündigt, wenn er noch weggiebt an andere. Übrigens, ich gebe niemals was auf der Strasse—das ist Grundsatz bei mir—denn ich sage mir immer, wenn ich so arme Menschen sehe: wer weiss, ob es nicht ihre eigene Schuld ist, und ich darf sie nicht bestärken in ihrem unrechten Wandel. Sonntags gebe ich zweimal: einmal für die Armen und einmal für die Kirche. So ist es in der Ordnung. Ich weiss nicht, ob Shawlmann mich gesehen hat, aber ich ging schnell vorbei und guckte nach oben, und dachte an die Gerechtigkeit Gottes, der ihn doch nicht so ohne Winterrock laufen lassen würde, wenn er besser aufgepasst hätte und nicht faul, dünkelhaft und kränklich wäre.

Was nun mein Buch betrifft, da darf ich wirklich wohl den Leser um Entschuldigung bitten für die unverzeihliche Art, in der Stern unsern Kontrakt missbraucht. Ich muss sagen, dass ich mit Unbehagen dem kommenden Kränzchenabend und der Liebesgeschichte von diesem Saïdjah entgegensehe. Der Leser weiss bereits, welche gesunden Anschauungen ich bezüglich der Liebe habe ... man denke nur an meine Beurteilung der Lustpartie nach dem Ganges. Dass junge Mädchen so etwas nett finden, kann ich wohl begreifen, doch es ist mir unerklärlich, dass Männer von Jahren solche Albernheiten ohne Ekel anhören. Mir ist sicher, dass ich auf dem [266]anstehenden Kränzchen das Triolett von meinem Solitärspiel finde.

Ich werde mir Mühe geben, nichts von diesem Saïdjah zu hören, und hoffe, dass der Mann schnell heiratet, wenigstens wenn er der Held der Liebesgeschichte ist. Es ist nur gut von Stern, dass er vorher gewarnt hat, es werde eine eintönige Geschichte sein. Wenn er dann später mit etwas anderm beginnt, werde ich wieder zuhören. Aber das Herunterreissen der Indischen Verwaltung missfällt mir fast ebensosehr wie Liebesgeschichten. Man sieht aus allem, dass Stern jung ist und wenig Erfahrung hat. Um die Dinge recht zu beurteilen, muss man alles aus der Nähe sehen. Zur Zeit meiner Verheiratung bin ich selbst im Haag gewesen und habe mit meiner Frau das Moritzhaus besucht. Ich bin dort mit allen Gesellschaftsständen in Berührung gekommen, denn ich habe den Finanzminister vorbeifahren sehen, und wir haben zusammen Flanell gekauft in der Veenestraat—ich und meine Frau, meine ich—und nirgends habe ich auch nur das geringste Zeichen von Unzufriedenheit mit der Regierung wahrgenommen. Die Frau in dem Laden sah glücklich und zufrieden aus, und da nun im Jahre 1848 einzelne uns weiszumachen suchten, dass im Haag nicht alles so stände wie es sich gehörte, habe ich auf dem Kränzchen über diese Unzufriedenheit unumwunden meine Meinung gesagt. Ich fand Glauben, denn jeder wusste, dass ich aus Erfahrung sprach. Auch auf der Rückreise mit der Postkutsche hat der Postillon »Freut euch des Lebens« geblasen, und das würde der Mann doch nicht gethan haben, wenn es so übel stand. In dieser Weise habe ich auf alles geachtet und wusste also sofort, was man im Jahre 1848 von all dem Murren zu denken hatte.

Uns gegenüber wohnt eine Frau, deren Vetter in Ostindien einen »Toko« offen hält, wie sie dort einen Laden nennen. Wenn also alles so schlecht stände, wie Stern sagt, so würde sie doch auch wohl etwas davon wissen, und es scheint doch, dass sie sehr zufrieden ist mit den Geschäften, [267]denn ich höre sie niemals klagen. Im Gegenteil, sie sagt, dass ihr Vetter da auf einem Landsitz wohnt, und dass er Mitglied vom Kirchenrat ist, und dass er ihr einen pfauenfedernen Zigarrenbehälter geschickt hat, den er selbst aus Bambus gemacht hätte. Dies alles zeigt doch deutlich, wie unbegründet das Gejammer über schlechte Zeiten ist. Gleichfalls ersieht man daraus, dass für jemanden, der nur aufpassen will, in dem Lande wohl noch was zu verdienen ist, und dass also dieser Shawlmann auch da schon faul, dünkelhaft und kränklich gewesen ist, sonst würde er nicht so arm nach Haus gekommen sein und hier ohne Winterrock herumlaufen. Und der Vetter von der Frau uns gegenüber ist nicht der einzige, der im Osten sein Glück gemacht hat. Im »Café Polen« hier bei uns in Amsterdam, wo so viele Börsenbesucher verkehren, sehe ich viele, die dort gewesen sind und wirklich verflucht nobel auftreten. Aber selbstverständlich, aufs Geschäft muss man acht geben, da drüben so gut wie hier. Auf Java werden die gebratenen Tauben niemandem in den Mund fliegen: es muss gearbeitet werden! Wer das nicht will, ist arm und bleibt arm, das ist wohl selbstredend, und es ist auch gut so. [268]

Siebzehntes Kapitel.

Saïdjahs Vater hatte einen Büffel, mit dem er sein Feld bestellte. Als nun dieser Büffel durch das Distriktshaupt von Parang-Kudjang ihm abgenommen wurde, war er sehr betrübt und sprach viele Tage lang kein Wort. Denn die Zeit des Pflügens war nahe, und es war zu befürchten, dass, wenn man die Sawah nicht zeitig bearbeitete, auch die Zeit des Säens vorübergehen werde, und endlich, dass kein Reis geschnitten und im Lombong des Hauses geborgen werden könnte.

Ich muss hierbei für Leser, die wohl Java, jedoch nicht Bantam kennen, die Bemerkung machen, dass in dieser Residentschaft »persönliches Grundeigentum« besteht, was anderswo nicht der Fall ist.

Saïdjahs Vater also war sehr bekümmert. Er fürchtete, dass seine Frau Reis nötig haben werde, und auch Saïdjah, der noch ein Kind war, und die Brüderchen und Schwesterchen von Saïdjah.

Auch werde das Distriktshaupt ihn beim Assistent-Residenten verklagen, wenn er in der Bezahlung seiner Landrenten zurückbleiben würde, denn darauf steht Gesetzesstrafe.

Da nahm Saïdjahs Vater einen Kris, der ein Pusaka von seinem Vater war. Der Kris war nicht sehr schön, aber es waren silberne Bänder um die Scheide gelegt, und auch die Spitze der Scheide war mit Silber plattiert. Er verkaufte diesen Dolch an einen Chinesen, der am Hauptplatze wohnte, [269]und kam nach Hause mit vierundzwanzig Gulden, für welches Geld er einen anderen Büffel kaufte.

Saïdjah, der damals etwa sieben Jahre alt war, hatte mit dem neuen Büffel schnell Freundschaft geschlossen. Nicht ohne Absicht sage ich: Freundschaft, denn es ist in der That rührend, zu sehen, wie der javanische Kerbo dem kleinen Jungen, der ihn hütet und versorgt, anhängt. Das starke Tier beugt willig den schweren Kopf rechts, links oder nach unten auf den Fingerdruck des Kindes, das es kennt, das es versteht, mit dem es aufgewachsen ist.

Solche Freundschaft hatte denn auch der kleine Saïdjah dem neuen Gast sehr bald einzuflössen gewusst, und Saïdjahs ermutigende Kinderstimme schien dem kraftvollen Nacken des gewaltigen Tieres noch mehr Kraft zu geben, wenn es den schweren Kleigrund aufriss und seinen Weg in tiefen, scharfen Furchen zeichnete. Der Büffel wendete willig um, wenn er das Ende des Ackers erreicht hatte, und verlor nicht eines Daumens Breite Grund beim Zurückpflügen der neuen Furche, die jedesmal neben der alten lag, als wäre die Sawah ein von einem Riesen geharkter Gartengrund.

Daneben lagen die Sawahs von Adindas Vater, dem Vater des Kindes, das mit Saïdjah einst ehelichen sollte. Und wenn Adindas Brüderchen an die zwischenliegende Grenze kamen und just auch Saïdjah da war mit seinem Pflug, dann riefen sie einander fröhlich zu und rühmten um die Wette die Kraft und die Willigkeit ihrer Büffel. Doch ich glaube, dass Saïdjahs der beste war, vielleicht wohl weil dieser ihm besser zuzusprechen wusste als die andern. Denn Büffel haben viel Gefühl für ein gutes Wort.

Saïdjah war neun Jahre alt geworden und Adinda sechs Jahre, als dieser Büffel Saïdjahs Vater durch das Distriktshaupt von Parang-Kudjang abgenommen wurde.

Saïdjahs Vater, der sehr arm war, verkaufte nun zwei silberne Klambuhaken—Pusakas von den Eltern seiner Frau—für achtzehn Gulden. Und für dieses Geld kaufte er einen neuen Büffel. [270]

Aber Saïdjah war betrübt. Denn er wusste von den kleinen Brüdern Adindas, dass der vorige Büffel nach dem Hauptplatz getrieben worden war, und er hatte seinen Vater gefragt, ob er das Tier nicht gesehen habe, als er dort war, die Klambuhaken zu verkaufen. Auf diese Frage hatte ihm sein Vater nicht antworten wollen, darum fürchtete er, dass sein Büffel geschlachtet war, wie die andern Büffel, die das Distriktshaupt der Bevölkerung abnahm.

Und Saïdjah weinte viel, wenn er an den armen Büffel dachte, mit dem er zwei Jahre lang so innig umgegangen war. Und er konnte nicht essen, lange Zeit nicht, denn seine Kehle war zu eng, wenn er schluckte.

Man bedenke, dass Saïdjah ein Kind war.

Der neue Büffel lernte Saïdjah kennen und nahm in der Geneigtheit des Kindes sehr schnell den Platz seines Vorgängers ein. Allzu schnell eigentlich. Denn ach, die Wachseindrücke unseres Herzens werden so leicht glattgestrichen, um Platz zu machen für spätere Schrift! Wie dem auch sei, der neue Büffel war nicht so stark wie der vorige ... wohl war das alte Joch zu weit für seinen Nacken ... aber das arme Tier war willig wie sein Vorgänger, der geschlachtet war, und konnte gleich Saïdjah beim Zusammentreffen an der Grenze mit Adindas Brüderchen die Kraft seines Büffels nicht besonders rühmen, er behauptete doch, dass kein anderer den seinen an gutem Willen überträfe. Und wenn die Furche nicht so gradlinig wie früher war oder wenn Erdklumpen undurchschnitten zur Seite geblieben waren, so besserte er gern mit seinem Patjol, so viel er konnte. Obendrein, kein Büffel hatte ein User-useran wie der seine. Der Penghulu selbst hatte ja gesagt, dass da Ontong sei in dem Lauf der Haarwirbel auf den Hinterblättern.

Einstmals auf dem Felde rief Saïdjah seinem Büffel vergebens zu, eilig am Werk zu sein. Das Tier stand wie angewurzelt da. Überrascht über so grosse und vor allem so ungewohnte Widerspenstigkeit, konnte er sich nicht enthalten, einen Schimpf auszustossen. Er sagte: a. s. Jeder, der in Indien [271]gewesen ist, wird mich verstehen. Und wer mich nicht versteht, gewinnt nur dabei, wenn ich ihm die Erklärung eines groben Ausdrucks erspare.

Saïdjah meinte gleichwohl nichts Böses damit. Er sagte es nur, weil er es so mehrmals von andern hatte sagen hören, wenn sie über ihre Büffel ungehalten waren. Aber er hätte nichts zu sagen brauchen, denn es half nichts: sein Büffel that keinen Schritt vorwärts. Er schüttelte den Kopf, als wollte er das Joch abwerfen ... man sah ihn den Atem aus seinen Nüstern blasen ... er schnob, bebte, schauderte ... Angst war in seinem blauen Auge, und die Lefze war aufgezogen, sodass das Zahnfleisch bloss lag ...

»Fliehe, fliehe,« riefen auf einmal Adindas Brüderchen, »Saïdjah, fliehe! da ist ein Tiger!«

Und alle entledigten ihre Büffel der Pflugjoche und schwangen sich auf die breiten Rücken und galloppierten davon durch Sawahs, über Galangans, durch Schlamm, durch Krüppelholz und Buschwerk und hohes Alanggras, längs der Felder und Wege, und als sie schnaubend und schwitzend ins Dorf Badur einritten, war Saïdjah nicht unter ihnen.

Denn als dieser wie die andern seinen vom Joch befreiten Büffel bestiegen hatte, um wie sie die Flucht zu ergreifen, hatte ein unerwarteter Sprung des Tieres ihm das Gleichgewicht genommen und ihn zur Erde geworfen. Der Tiger war sehr nahe ...

Saïdjahs Büffel, durch eigene Schwungkraft vorwärtsgetrieben, schoss um einige Sätze an dem Fleck vorbei, wo seines kleinen Herrn der Tod wartete. Das Tier war nur infolge seiner heftigen Fahrt und ohne seine Absicht weiter an Saïdjah vorbeigesaust. Denn kaum hatte es die Kraft überwunden, die allen Stoff beherrscht, auch nachdem die treibende Ursache wirkungslos geworden ist, da kam es zurück, setzte auf seine ungeschlachten Füsse den ungeschlachten Leib gleich einem Dach über das Kind und kehrte seine gehörnte Stirn dem Tiger zu. Dieser sprang ... aber er sprang zum letztenmal. Der Büffel fing ihn [272]mit seinen Hörnern auf, er selbst verlor nur ein Stück Fleisch, das der Tiger ihm am Halse ausschlug. Der Angreifer lag da mit aufgeschlitztem Bauch, Saïdjah war gerettet. Wirklich war da Ontong gewesen in dem User-useran dieses Büffels!

Als dieser Büffel Saïdjahs Vater abgenommen war und geschlachtet ...

ich habe dir gesagt, Leser, dass meine Geschichte eintönig ist!

... als dieser Büffel geschlachtet war, zählte Saïdjah schon 12 Jahre, und Adinda wob schon Sarongs, und »batikte« sie mit Kapalas. Sie hatte schon Gedanken in den Lauf ihres ‚Farbschiffchens‘ zu bringen, und sie zeichnete Betrübtheit auf ihr Gewebe, denn sie hatte Saïdjah sehr traurig gesehen.

Und auch Saïdjahs Vater war sehr betrübt, doch seine Mutter am meisten. Hatte diese doch die Wunde am Halse des treuen Tieres geheilt, das ihr Kind unversehrt nach Hause gebracht hatte, während sie auf die Erzählung von Adindas Brüderchen geglaubt hatte, dass es von dem Tiger davongeschleppt sei. Sie hatte die Wunde so oft mit dem Gedanken betrachtet, wie tief wohl die Krallen, die so weit in die rauhen Fasern des Büffels eindrangen, in den weichen Leib ihres Kindes eingedrungen sein möchten, und oft, wenn sie frische Heilkräuter auf die Wunde gelegt hatte, streichelte sie den Büffel und sprach ihm einige freundliche Worte zu, damit das gute, treue Tier doch wissen sollte, wie dankbar eine Mutter ist. Sie hoffte später, dass der Büffel sie doch verstanden haben möchte, denn dann hätte er auch ihr Jammern begriffen, als er weggeführt wurde, um geschlachtet zu werden, und er hätte dann gewusst, dass es nicht Saïdjahs Mutter war, die ihn schlachten liess.

Einige Zeit darnach flüchtete Saïdjahs Vater aus dem Lande. Denn er hatte grosse Furcht vor der Strafe, wenn er seine Landrente nicht bezahlen würde, und er hatte kein Pusaka mehr, um einen neuen Büffel zu kaufen, da seine [273]Eltern stets in Parang-Kudjang gewohnt hatten und ihm also wenig nachlassen konnten. Auch die Eltern seiner Frau wohnten dauernd im selben Distrikt. Nach dem Verlust des letzten Büffels hielt er sich gleichwohl noch einige Jahre aufrecht, indem er mit gemieteten Pflugtieren arbeitete. Doch das ist ein sehr undankbares Arbeiten, und vor allem verdriesslich für jemanden, der im Besitz von einigen Büffeln gewesen. Saïdjahs Mutter starb vor Kummer, und da war es, dass sein Vater sich in einem Augenblick der Mutlosigkeit aus Lebak und aus Bantam fortmachte, um im Buitenzorgschen Arbeit zu suchen. Er wurde mit Stockschlägen bestraft, weil er Lebak ohne Pass verlassen hatte, und durch die Polizei nach Badur zurückgebracht. Hier wurde er ins Gefängnis gebracht, weil man ihn für irrsinnig hielt, was nicht so befremdend gewesen wäre, und weil man fürchtete, er werde, in einem Anfall von matah-glap, amokh machen oder andere Verkehrtheiten begehen. Doch er war nicht lange gefangen, indem er kurz darauf starb.

Was aus den Brüdern und Schwestern Saïdjahs geworden ist, weiss ich nicht. Das Häuschen, das sie zu Badur bewohnten, stand einige Zeit leer und fiel dann schnell ein, da es nur von Bambus gebaut und mit Atap gedeckt war. Ein bisschen Staub und Schutt bedeckte den Fleck, wo so viel erduldet wurde. Es giebt viele solcher Orte in Lebak.

Saïdjah war fünfzehn Jahre alt, als sein Vater nach Buitenzorg verzog. Er hatte ihn nicht dahin begleitet, weil er sich mit grösseren Plänen trug. Man hatte ihm gesagt, dass in Batavia sehr viele Herren seien, die in Bendies führen, sodass er also dort leicht eine Stelle als Bendiejunge finden müsse, wozu man gewöhnlich jemanden wählt, der noch jung und unausgewachsen ist, um nicht durch zu grosse Last hinten auf dem zweirädrigen Fuhrwerk das Gleichgewicht aufzuheben. Es wäre, hatte man ihm versichert, bei guter Führung ein gut Stück Geld bei solchem Dienste zu gewinnen. Vielleicht gar würde er auf diese Weise binnen drei Jahren genug ersparen können, um zwei Büffel zu kaufen. Diese [274]Aussicht lachte ihm entgegen. Mit selbstbewusstem Schritt, wie jemand, der grosse Dinge im Sinne hat, trat er nach der Abreise seines Vaters bei Adinda ein und teilte ihr seinen Plan mit.

—Denk’ doch, sagte er, wenn ich wiederkomme, werden wir alt genug sein, zu freien, und wir werden dann zwei Büffel haben!

—Prächtig, Saïdjah, ich will gern zu dir gehen, wenn du wiederkommst. Ich werde spinnen und Sarongs und Slendangs weben und batiken und sehr fleissig sein die ganze Zeit.

—O, ich glaube dir, Adinda! Aber ... wenn ich dich verheiratet finde?

—Saïdjah, du weisst doch sehr gut, dass ich mit niemandem ehelichen werde. Mein Vater hat mich deinem Vater zugesagt.

—Und du selbst?

—Ich werde dich heiraten, dessen sei sicher!

—Wenn ich zurückkomme, werde ich von ferne rufen ...

—Wer soll es hören, wenn wir im Dorfe Reis stampfen?

—Das ist wahr. Doch Adinda ... das ist besser: erwarte mich bei dem Djatigehölz, unter dem Ketapanbaum, wo du mir die Melattiblume gegeben hast.

—Aber, Saïdjah, wie kann ich wissen, wann ich hingehen muss, um dich bei dem Ketapan zu erwarten?

Saïdjah bedachte sich einen Augenblick und sagte:

—Zähl’ die Monde. Ich werde drei-mal-zwölf Monde ausbleiben. Dieser Mond rechnet nicht mit. Sieh, Adinda, schneide eine Kerbe bei jedem neuen Mond in deinen Reisblock. Wenn du drei-mal-zwölf Kerben eingeschnitten hast, werde ich den Tag, der darauf folgt, bei dem Ketapan ankommen. Gelobst du, dass du da bist?

—Ja, Saïdjah, ich werde unter dem Ketapan beim Djatigehölz sein, wenn du zurückkommst.


Nun riss Saïdjah einen Streifen von seinem blauen Kopftuch, das sehr verschlissen war, und er gab das Stückchen [275]Leinwand Adinda, damit sie es als Pfand bewahre. Und darauf verliess er sie und Badur.


Er lief viele Tage hindurch. Er ging an Rangkas-Betung vorbei, das derzeit noch nicht der Hauptplatz von Lebak war, und an Warang-Gunung, wo damals der Assistent-Resident wohnte, und folgenden Tages sah er Pandeglang, das da liegt wie in einem Garten. Wieder einen Tag später kam er in Serang an, und er stand überwältigt von der Pracht eines so grossen Platzes mit vielen Häusern, gebaut aus Stein und gedeckt mit roten Ziegeln. Saïdjah hatte dergleichen nie gesehen. Er blieb dort einen Tag, weil er ermüdet war, aber in der Kühle der Nacht marschierte er weiter und kam am folgenden Tag nach Tangerang, noch bevor der Schatten bis auf seine Lippen gesunken war, wiewohl er den grossen Tudung trug, den sein Vater ihm hinterlassen hatte.

In Tangerang badete er sich nahe bei der Überfahrt im Flusse, und er ruhte aus im Hause eines Bekannten seines Vaters, der ihn unterwies, wie man Strohhüte flicht, gerade solche, wie sie von Manilla kommen. Er blieb dort einen Tag, um dies zu lernen, und er dachte, hiermit später sich etwas verdienen zu können, falls er in Batavia etwa kein Glück haben würde. Den folgenden Tag gegen Abend, als es kühl wurde, dankte er seinem Gastherrn sehr und ging weiter. Sobald es ganz dunkel war, sodass niemand mehr es sehen mochte, brachte er das Blatt zum Vorschein, worin er die Melatti bewahrte, die Adinda ihm unter dem Ketapanbaum gegeben hatte. Denn er war betrübt geworden, weil er sie nun so lange Zeit nicht sehen würde. Den ersten Tag und auch den zweiten hatte er minder stark gefühlt, wie allein er war, da seine Seele noch gänzlich von dem grossen Gedanken erfüllt war, dass er Geld verdienen und hiermit zwei Büffel kaufen werde, wo doch selbst sein Vater nie mehr als einen besessen hatte; auch richteten sich seine Gedanken zu viel auf das Wiedersehen mit Adinda, als dass sie der Betrübtheit über den Abschied viel Raum bieten konnten. [276]Er hatte in überspannter Hoffnung Abschied genommen und ihn in seinen Gedanken schon mit dem endlichen Wiedersehen unter dem Ketapanbaum verknüpft. Denn eine so grosse Rolle spielte die Aussicht auf das Wiedersehen in seinem Herzen, dass er, als er bei der Abreise von Badur an diesem Baum vorüberging, eine Fröhlichkeit in sich fühlte, als wären sie schon vorbei, die sechsunddreissig Monde, die ihn von diesem Augenblicke schieden. Es war ihm vorgekommen, als brauche er nur umzukehren, als sei er schon von der Reise zurück und sehe nun dort unter dem Baume Adinda seiner harren.

Doch je weiter er sich von Badur entfernte und je mehr er inne wurde, wie furchtbar lang ein Tag sein kann, um so mehr empfand er die grosse Dauer der sechsunddreissig Monde. Es war etwas in seiner Seele, das ihn minder schnell fortschreiten liess. Er fühlte Unlust in seinen Knieen, und war es auch nicht Mutlosigkeit, was ihn da überfiel, so doch eine Wehmut, die nicht fern ist von Mutlosigkeit. Er dachte daran, zurückzukehren; doch was sollte dann Adinda von so geringer Beherztheit sagen?

Also schritt er rüstiger zu, wenn auch nicht so schnell wie am ersten Tage. Er hatte die Melatti in der Hand und drückte sie gar manches Mal gegen die Brust. Er war seit drei Tagen viel älter geworden und begriff nicht mehr, wie er früher so ruhig gelebt hatte, wo doch Adinda ihm so nahe war und er sie sehen konnte, so oft und so lange er begehrte. Denn nun würde er nicht so ruhig sein, wenn er erwarten könnte, dass sie da stracks vor ihm stehen werde. Und auch begriff er nicht, dass er nach dem Abschied nicht noch einmal umgekehrt war, um ihr noch einmal ins Gesicht zu schauen! Auch kam es ihm in den Sinn, wie er noch kurz zuvor mit ihr wegen der Schnur gezankt hatte, die sie für den Lalayang, den Drachen ihrer Brüderchen, gesponnen hatte, und die gebrochen war, weil, wie er meinte, ein Fehler in ihrem Gespinnst war, wodurch eine Wette gegen die Kinder aus Tjipurut verloren ging. »Wie war’s möglich«, dachte er, »deswegen [277]bös zu werden auf Adinda! Denn hätte sie auch einen Fehler in die Schnur gesponnen, und wäre auch wirklich hierdurch die Wette von Badur gegen Tjipurut verloren worden, und nicht durch die Glasscherbe—so hinterlistig und geschickt sie immer durch den kleinen Djamien aus seinem Versteck hervor geworfen sein mochte—hätte ich selbst dann so hart gegen sie sein und sie mit ungehörigen Namen benennen dürfen? Was ist nun, wenn ich in Batavia sterbe, ohne sie um Vergebung für so grosse Grobheit gebeten zu haben? Ist es nicht, als wenn ich ein schlechter Mensch sei, der ein Mädchen mit Schimpfworten bewirft? Und wird nicht in Badur, wenn man hört, dass ich in fremdem Lande gestorben bin, ein jeder sagen: es ist gut, dass Saïdjah starb, denn er hat einen grossen Mund gehabt gegen Adinda?«

So nahmen seine Gedanken einen Lauf, der sich von der voraufgegangenen Gehobenheit sehr unterschied, und unwillkürlich äusserten sie sich, erst in halben, in sich hinein gesprochenen Worten, dann im Selbstgespräch, und schliesslich in dem wehmütigen Sang, von dem ich hier die Übersetzung folgen lasse. Meine Absicht war zunächst, etwas Mass und Reim in die Wiedergabe zu bringen, doch finde ich es schliesslich besser, das Schnürleibchen wegzulassen.

Ich weiss nicht, wo ich sterben soll.

Ich habe die grosse See gesehn am Südrand, da ich da war mit meinem Vater, Salz zu machen.

Wenn ich sterbe auf der See und wenn man meinen Leichnam wirft ins tiefe Wasser, werden Haie kommen.

Sie werden um meine Leiche schwimmen und fragen: wer von uns wird den Leichnam verschlingen, der da im Wasser treibt?

Ich werd’s nicht hören.

Ich weiss nicht, wo ich sterben soll.

Ich habe das Haus brennen sehen des Pa-ansu, das er selbst ansteckte, weil er matah-glap war.

Wenn ich in einem brennenden Hause sterbe, werden glühende Stücke Holz auf meinen Leichnam niederfallen.

Und draussen vorm Hause wird ein gross Geruf von Menschen sein, die Wasser werfen, um den Brand zu töten.

Ich werd’s nicht hören.

[278]

Ich weiss nicht, wo ich sterben soll.

Ich habe den kleinen Si-unah fallen sehen aus dem Klappa-Baum, als er einen Klappa pflückte für seine Mutter.

Wenn ich aus einem Klappa-Baum niederfalle, werd’ ich tot niederliegen an seinem Fuss, in den Sträuchern, wie Si-unah.

Dann wird meine Mutter nicht weinen, denn sie ist tot. Doch andre werden rufen mit harter Stimme: »Siehe, da liegt Saïdjah!«

Ich werd’s nicht hören.

Ich weiss nicht, wo ich sterben soll.

Ich habe den Leichnam von Pa-lisu gesehen, der an hohem Alter starb, denn seine Haare waren weiss.

Wenn ich vor Alter sterbe, mit weissen Haaren, werden die Klagefrauen um meine Leiche stehn.

Und sie werden wehklagen wie die Klagefrauen an Pa-lisus Leiche, und auch die Enkelkinder werden weinen, sehr laut.

Ich werd’s nicht hören.

Ich weiss nicht, wo ich sterben soll.

Ich habe viele gesehn zu Badur, die gestorben waren. Man kleidete sie in ein weiss Kleid und begrub sie in den Grund.

Wenn ich sterbe zu Badur und man begräbt mich ausserhalb der Dessah ostwärts gegen den Hügel, wo das Gras hoch ist,

Dann wird Adinda dort vorbeigehn, und der Saum ihres Sarongs wird leise über das Gras schleifen ...

Ich werd’ es hören.

Saïdjah kam in Batavia an. Er bat einen Herrn, dass er ihn in Dienst nehme, und dieser that es auf der Stelle, weil er Saïdjah nicht verstand. Denn in Batavia hat man gern Bedienstete, die noch kein Malayisch sprechen und also noch nicht verdorben sind wie die andern, die schon länger mit der europäischen Kultur in Berührung stehen. Saïdjah lernte bald Malayisch, aber er passte brav auf, denn er dachte stets an die zwei Büffel, die er kaufen wollte, und an Adinda. Er wurde gross und stark, weil er alle Tage ass, was in Badur nicht immer möglich war. Er war beliebt im Stall und wäre sicher nicht abgewiesen worden, wenn er die Tochter des Kutschers zum Weibe begehrt hätte. Sein Herr selbst hielt so viel von Saïdjah, dass er gar bald zum Hausbedienten erhoben wurde. Man erhöhte seinen Lohn und gab ihm obendrein [279]fortwährend Geschenke, weil man so besonders zufrieden mit seinen Diensten war. Mevrouw hatte den Roman von Sue gelesen, der so viel Aufsehen machte, und wurde nun stets an den Prinzen Djalma erinnert, wenn sie Saïdjah sah. Auch die jungen Damen des Hauses begriffen nun besser als früher, wie der javanische Maler Radhen Saleh zu soviel Glück und Ehren in Paris gelangen konnte.

Doch fand man Saïdjah undankbar, als er nach beinahe dreijährigem Dienst seine Entlassung begehrte und um ein Zeugnis ersuchte, dass er sich gut betragen habe. Man konnte es ihm jedoch nicht verweigern, und Saïdjah ging fröhlichen Herzens auf die Reise.

Er ging an Pising vorbei, wo lange vorher einst Havelaar wohnte. Aber dies wusste Saïdjah nicht. Und hätte er es auch gewusst, er trug etwas ganz anderes in der Seele, das ihn beschäftigt hielt. Er zählte die Schätze, die er mit heimbrachte. In einer Bambusrolle hatte er seinen Pass und das Zeugnis seines guten Betragens. In einem Köcher, den er an einem ledernen Riemen trug, schien unaufhörlich etwas Gewichtiges gegen seine Schulter zu schlagen, aber er fühlte es gern ... ich glaube es schon, darin waren doch dreissig Spanische Dollars, genug also, um drei Büffel zu kaufen. Was Adinda wohl sagen würde! Und das war noch nicht alles. Auf seinem Rücken sah man die mit Silber beschlagene Scheide eines Dolches, den er am Gürtel trug. Der Griff war sicher aus feingeschnitztem Kamuning-Holz, denn er hatte ihn sorgfältig mit einer seidenen Hülle umwickelt. Und er besass noch mehr Schätze. In den Falten des Kahin um seine Lenden bewahrte er einen Leibgurt von silbernen Gliedern, mit goldener Agraffe. Es ist wahr, der Gürtel war nur kurz, aber sie war auch so schlank ... Adinda!

Und an einem Schnürchen um den Hals, unter seinem Vor-Baadju, trug er ein seidenes Beutelchen, darin einige vertrocknete Melatti waren.

War es ein Wunder, dass er sich in Tangerang nicht länger aufhielt als nötig war, den Bekannten seines Vaters [280]zu besuchen, der die feinen Strohhüte flocht? War es ein Wunder, dass er nicht viel zu den Mädchen sagte, die ihn auf dem Wege fragten: »wohin, woher?«, wie der Gruss in diesen Gegenden lautet? Dass er Serang nicht mehr so schön fand, da er doch Batavia kennen gelernt hatte? Dass er sich nicht mehr, wie er es vor drei Jahren that, ins Gestrüpp verkroch, als der Resident vorüberritt, er, der den viel grösseren Herrn gesehen hatte, der zu Buitenzorg wohnt und der ‚Grossvater‘ des Susuhunan zu Solo ist? War es ein Wunder, dass er wenig acht gab auf die Erzählungen derer, die ein Stück Weges mit ihm gingen und von allem Neuen in Bantan-Kidul sprachen? Dass er kaum hinhörte, als man ihm berichtete, dass die Kaffeekultur nach vielen unbelohnten Mühen nun ganz eingezogen sei? Dass das Distriktshaupt von Parang-Kudjang wegen Raubes auf öffentlicher Strasse zu vierzehn Tagen Arrest, im Hause seines Schwiegervaters abzusitzen, verurteilt war? Dass der Hauptplatz nach Rangkas-Betung verlegt war? Dass ein neuer Assistent-Resident gekommen sei, weil der vorige vor einigen Monaten starb? Wie der neue Beamte auf der ersten Sebah-Versammlung gesprochen hatte? Wie da seit einiger Zeit niemand mehr wegen seiner Klagen bestraft worden sei und dass man hoffe, dass alles Gestohlene wiedergegeben oder vergütet werde?

Nein, er hatte schönere Bilder vor dem Auge seiner Seele. Er suchte den Ketapanbaum in den Wolken, zu fern noch, um ihn in Badur suchen zu können. Er griff in die Luft, die ihn umgab, als wollte er die Gestalt umfassen, die ihn unter dem Baume erwarten würde. Er malte sich Adindas Antlitz aus, ihren Kopf, ihre Schultern ... er sah den schweren Kondeh, so glänzend schwarz, in der eigenen Schlinge gefangen auf den Nacken herabhängend ... er sah ihr grosses Auge, in dunklem Wiederschein leuchtend ... die Nasenflügel, die sie so trotzig-stolz aufzog als Kind, wenn er—wie war’s möglich!—sie plagte, und den Winkel zwischen ihren Lippen, in dem sie ein Lächeln [281]bewahrte. Er sah ihre Brust, die nun schwellen werde unter der Kabaai ... er sah, wie der Sarong, den sie selbst gewoben hatte, ihre Hüften eng umschloss und, dem Schenkel in gebogener Linie folgend, in herrlichem Wurf am Knie herunterfiel bis auf den kleinen Fuss ...

Nein, er hörte wenig von dem, was man ihm sagte. Er hörte ganz andere Töne. Er hörte, wie Adinda sagen würde: »Sei willkommen, Saïdjah! Ich habe an dich gedacht beim Spinnen und Weben und beim Stampfen des Reises in dem Block, der drei-mal-zwölf Kerben trägt von meiner Hand. Hier bin ich unter dem Ketapan, am ersten Tage des neuen Monds. Sei willkommen, Saïdjah: ich will deine Frau sein!«

Das war die Musik, die so herrlich in seinen Ohren wiederklang und die ihn hinderte, auf all das Neue zu hören, das man ihm auf seinem Wege erzählte.

Endlich sah er den Ketapan. Oder vielmehr, er sah einen dunklen Fleck, der viele Sterne vor seinem Auge verdeckte. Das musste der Djatiwald sein, in der Nähe des Baumes, bei dem er Adinda wiedersehen sollte, am folgenden Tage nach Sonnenaufgang. Er suchte im Dunkel umher und betastete viele Stämme. Alsbald fand er eine ihm bekannte Unebenheit an der Südseite eines Baumes, und er legte den Finger in einen Spalt, den Si-panteh mit seinem Parang hineingehackt hatte, um den Pontianak zu beschwören, der das Zahnweh von Si-pantehs Mutter verschuldete, das diese kurz vor der Geburt seines Brüderchens befiel. Das war der Ketapan, den er suchte.

Jawohl, das war der Fleck, wo er zuerst Adinda anders angesehen hatte als seine übrigen Spielgenossen, weil sie sich da zuerst geweigert hatte, an einem Spiel teilzunehmen, das sie doch noch kurz zuvor mit allen Kindern—Knaben und Mädchen—mitgespielt hatte. Da hatte sie ihm die Melatti gegeben.

Er setzte sich an den Fuss des Baumes nieder und schaute zu den Sternen auf. Als einer herniederschoss, nahm er das als einen Gruss bei seiner Wiederkunft zu Badur auf. Und er dachte: ob Adinda nun wohl schläft? [282]Und ob sie wohl sorgfältig die Monde in ihren Reisblock geschnitten hat? Es würde ihn schmerzen, wenn sie einen Mond überschlagen hätte; als wenn das nicht genügte ... sechsunddreissig! Und ob sie schöne Sarongs und Slendangs gebatikt haben werde? Und auch fragte er sich, wer nun wohl in seines Vaters Hause wohnen werde? Und seine Jugend trat ihm vor den Geist, und seine Mutter, und wie der Büffel ihn vor dem Tiger rettete; und er bedachte, was doch wohl aus Adinda geworden sein möchte, wenn der Büffel minder treu gewesen wäre.

Er gab sehr auf das Sinken der Sterne im Westen acht, und bei jedem Stern, der am Himmelsrande verschwand, berechnete er, wieviel näher jetzt die Sonne ihrem Aufgang im Osten sei, und wieviel näher er selbst dem Wiedersehen mit Adinda.

Denn beim ersten Strahle gewiss werde sie kommen, ja, beim Dämmern des Morgens schon werde sie da sein ... ach, warum war sie nicht schon am Tage vorher gekommen?

Es betrübte ihn, dass sie ihm nicht vorausgeeilt war, dem schönen Augenblick, der drei Jahre lang seiner Seele mit unbeschreiblichem Glanz vorgeleuchtet hatte. Und, unbillig in der Selbstsucht seiner Liebe, schien es ihm so, als hätte Adinda da sein müssen, um auf ihn zu warten, der nun sich beklagte—und vor der Zeit schon!—dass er auf sie warten müsste.

Aber er beklagte sich zu Unrecht. Denn noch war nicht die Sonne aufgegangen, noch hatte das Auge des Tages keinen Blick auf die Ebene geworfen. Wohl verblichen die Sterne dort oben in der Höhe, beschämt, dass ihrer Herrschaft so bald ein Ende gemacht werde ... wohl fluteten da seltsame Farben über die Spitzen der Berge, die um so dunkler erschienen, je schärfer sie von dem lichteren Grunde sich abhoben ... wohl flog hier und da durch die Wolken im Osten ein glühender Strahl—Pfeile von Gold und Feuer, die hin und wieder über den Horizont schossen—aber sie verschwanden wieder und schienen hinter den undurchdringbaren [283]Vorhang niederzufallen, der dem Auge Saïdjahs noch immer den Tag verbarg.

Doch wurde es allmählich lichter und lichter um ihn her. Er schaute schon die Landschaft, und schon konnte er die Kronen des kleinen Klappahains unterscheiden, in dem Badur versteckt lag ... da schlief Adinda!

Nein, sie schlief nicht mehr! Wie sollte sie wohl schlafen können? Wusste sie nicht, dass Saïdjah ihrer warte? Gewiss, sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Sicher hatte die Dorfwache an ihre Thür geklopft, um zu fragen, warum die Pelitah in ihrem Häuschen noch fortbrenne, und mit liebem Lächeln hatte sie dann gesagt, dass ein Gelübde sie wach halte; sie müsse den Slendang noch abweben, an dem sie arbeite, und am ersten Tage des neuen Mondes müsse er fertig sein.

Oder sie hatte die Nacht im Finstern verbracht, auf ihrem Reisblock sitzend und mit begierigem Finger zählend, ob auch wirklich sechsunddreissig tiefe Kerben nebeneinander darin eingeschnitzt waren. Und sie hatte sich spielend an dem Schrecken ergötzt, dass sie sich vielleicht verrechnete, dass vielleicht noch ein Einschnitt fehle, um noch und noch einmal und immer wieder in der herrlichen Gewissheit zu schwelgen, dass da wohlgezählte drei-mal-zwölf Monde vergangen seien, seit Saïdjah sie zum letztenmal sah.

Auch sie strengte nun wohl, wo es so hell wurde, ihre Augen mit fruchtlosem Bemühen an, die Blicke über den Horizont hinweg zu senken, dass sie der Sonne begegnen möchten, der trägen Sonne, die wegblieb ... wegblieb ...

Da kam ein Streif bläulichen Rots herauf, der sich an die Wolken klammerte, und die Ränder wurden licht und glühend, und es begann zu blitzen, und wieder schossen da feurige Pfeile durch den Luftraum, doch sie fielen diesmal nicht nieder, sie hefteten sich an den dunklen Grund fest und teilten ihre Glut in grösseren und grösseren Kreisen mit, und begegneten einander, kreuzten, verschlangen, wendeten sich und vereinigten sich zu Strahlenbündeln, und wetterleuchteten [284]in goldenem Glanz auf einem Grunde von Perlmutter, und es war da Rot und Gelb und Blau und Silbern und Purpurn und Azurn in diesem allen ... o Gott, das war die Morgenröte: das war das Wiedersehen mit Adinda!

Saïdjah hatte nicht beten gelernt, und ihn es zu lehren, wäre auch unnütz gewesen, denn heiligeres Gebet und ein feurigerer Dank, als da in dem sprachlosen Entzücken seiner Seele lag, war nicht in menschliche Sprache zu fassen.

Er wollte nicht nach Badur hinein. Das Wiedersehen mit Adinda selbst schien ihm minder schön als die Sicherheit, dass er sie nun alsbald sehen werde. Er setzte sich an den Fuss des Ketapan und liess das Auge über die Landschaft schweifen. Die Natur lachte ihm zu und schien ihn willkommen zu heissen wie eine Mutter ihr zurückkehrendes Kind. Und ebenso wie diese ihre Freude äussert durch das eigenwillige Erinnern an vorübergegangenen Schmerz beim Vorzeigen dessen, was sie während der Trennung als Andenken bewahrte, so ergötzte auch Saïdjah sich an dem Wiedererkennen so vieler Örtlichkeiten, die Zeugen seines kurzen Lebens waren. Aber wie seine Augen oder seine Gedanken auch umherschweiften, immer fielen Blick und Verlangen zurück auf den Pfad, der von Badur nach dem Ketapanbaum führt. Alles, was seine Sinne wahrnahmen, hiess Adinda. Er sah den Abgrund links, wo die Erde so gelb ist, wo einmal ein junger Büffel in die Tiefe sank: da hatten sich die Bewohner des Dorfes versammelt, um das Tier zu retten—denn es ist keine geringe Sache, einen jungen Büffel zu verlieren!—und sie hatten sich an starken Rottanstricken hinuntergelassen. Adindas Vater war der mutigste gewesen ... o, wie sie in die Hände klatschte, Adinda!

Und drüben an der andern Seite, wo das Kokoswäldchen seine Kronen über den Hütten des Dorfes schaukelt, da irgendwo war Si-unah aus dem Baum gefallen und hatte den Tod gefunden. Wie weinte seine Mutter: »weil Si-unah noch so klein war«, jammerte sie ... als ob sie sich minder [285]betrübt hätte, wenn Si-unah grösser gewesen wäre! Doch klein war er, das ist wahr, denn er war kleiner und schwächer noch als Adinda ...

Niemand betrat den schmalen Weg, der von Badur nach dem Baum leitete. Gleich aber werde sie kommen; o gewiss, es war noch früh.

Saidjah sah einen Badjing1, der mit ausgelassener Hurtigkeit hin und wieder sprang gegen den Stamm eines Klappabaums. Das Tierchen—ein Ärgernis für den Eigner des Baumes, aber doch so lieb in Gestalt und Bewegung—kletterte unermüdlich auf und nieder. Saïdjah sah es und zwang sich, es im Auge zu behalten, weil dies seinen Gedanken Ablenkung gab von der schweren Arbeit, die sie seit dem Aufgange der Sonne verrichteten—Ruhe nach dem ermüdenden Warten. Sehr bald äusserten sich seine Eindrücke in Worten, und er sang, was in seiner Seele vorging. Es wäre mir lieber, euch sein Lied in Malayisch vorlesen zu können, dem Italienisch des Ostens; doch hier ist die Übertragung:

Sieh, wie der Badjing Atzung sucht

Auf dem Klappabaum. Er steigt auf und ab, hopst links und rechts,

Er kreist um den Baum, springt, fällt, klimmt und fällt wieder:

Er hat keine Flügel und ist doch hurtig wie ein Vogel.

Viel Glück, mein Badjing, ich wünsch’ dir Heil!

Sicher wirst du finden die Atzung, die du suchst ...

Doch ich sitze allein bei dem Djatibusch,

Wartend auf Atzung für mein Herz.

Lang’ schon ist der kleine Bauch meines Badjing gesättigt ...

Lang’ schon ist er zurückgekehrt in sein Nestchen ...

Doch immerdar noch ist meine Seele

Und mein Herz bitter betrübt ... Adinda!

Noch war da niemand auf dem Pfade, der von Badur nach dem Ketapanbaum leitete.

Saïdjahs Auge fiel auf einen Falter, der sich zu freuen schien, weil es warm zu werden begann: [286]

Sieh, wie der Falter dort rundflattert.

Seine Schwingen prangen wie eine vielfarbige Blume.

Sein Herz ist verliebt in die Kenarieblüte:

Gewiss sucht er sein wohlriechendes Liebchen.

Viel Glück, mein Falter, ich wünsch’ dir Heil!

Sicher wirst du finden, was du suchst ...

Doch ich sitze allein bei dem Djatibusch,

Wartend auf die, die mein Herz lieb hat.

Lang’ schon hat der Falter geküsst

Die Kenarieblume, die er so lieb hat ...

Doch immerdar noch ist meine Seele

Und mein Herz bitter betrübt ... Adinda!

Und es war da niemand auf dem Pfade, der von Badur nach dem Baum leitete.

Die Sonne begann auf die Höhe zu klimmen ... es war schon heiss in der Luft.

Sieh, wie die Sonne leuchtet dort in der Höhe,

Hoch über dem Waringi-Hügel.

Sie fühlt sich zu warm und wünscht niederzusteigen,

Dass sie schlafe in der See wie im Arm eines Gatten.

Viel Glück, o Sonne, ich wünsch’ dir Heil!

Was du suchst, wirst sicher du finden ...

Doch ich sitze allein bei dem Djatibusch,

Wartend auf Ruh für mein Herz.

Lang’ schon wird die Sonne untergegangen sein

Und schlafen in der See, wenn alles dunkel ist ...

Und immerdar noch wird meine Seele

Und mein Herz bitter betrübt sein ... Adinda!

Noch war niemand auf dem Wege, der da von Badur her nach dem Ketapan leitete.

Wenn nicht länger Falter werden rundflattern,

Wenn nicht die Sterne mehr werden glänzen,

Wenn die Melatti nicht mehr wohlriechend sein wird,

Wenn da nicht länger Herzen betrübt sind,

Nicht mehr sein wird wildes Getier in dem Wald ...

Wenn die Sonne verkehrt wird laufen,

Und der Mond vergessen, was Ost und West ist ...

Wenn dann Adinda noch nicht gekommen ist,[287]

Dann wird ein Engel mit blinkenden Flügeln

Niederkommen zur Erde, dass er suche, was da allein blieb.

Dann wird mein Leichnam hier liegen unter dem Ketapan ...

Meine Seele ist bitter betrübt ... Adinda!

Und noch immer war da niemand auf dem Pfade, der von Badur nach dem Baum leitete.

Dann wird mein Leichnam von dem Engel gesehn werden.

Er wird ihn seinen Brüdern mit dem Finger weisen:

„Sehet, dort ist ein gestorb’ner Mensch vergessen,

Sein erstarrter Mund küsst eine Melattiblume.

Kommt, dass wir ihn aufnehmen und gen Himmel tragen,

Ihn, der Adindas harrte, bis er tot war.

Fürwahr, er darf nicht allein dahierbleiben,

Dessen Herz die Kraft hatte, so zu lieben!“

Dann soll noch einmal mein erstarrter Mund sich öffnen,

Um Adinda zu rufen, die mein Herz lieb hat ...

Noch einmal will ich die Melatti küssen,

Die sie mir gab ... Adinda ... Adinda!

Und noch immer war da niemand auf dem Pfade, der von Badur nach dem Ketapan führte.

O, sie war gewiss gegen Morgen hin in Schlaf gefallen, ermüdet von all dem Wachen während der Nacht, vom Wachen vieler Nächte! Sicher hatte sie seit Wochen nicht geschlafen: so war es!

Sollte er aufstehen und nach Badur gehen? Nein! Möchte es nicht scheinen, als ob er an ihrem Kommen zweifelte?

Wenn er den Mann anriefe, der da einen Büffel aufs Feld trieb? Der Mann war zu fern. Überdies, Saïdjah wollte nicht sprechen über Adinda, nicht fragen nach Adinda ... er wollte sie wiedersehen, sie allein, sie zuerst! O sicher, sicher musste sie nun gleich kommen!

Er sollte warten, warten ...

Aber wenn sie krank wäre oder ... tot?

Wie ein angeschossener Hirsch flog Saïdjah den Pfad entlang, der von dem Ketapan nach dem Dorf führt, wo [288]Adinda wohnte. Er sah nichts und er hörte nichts, und doch hätte er etwas hören können, denn es standen Menschen auf dem Wege am Eingang des Dorfes, die riefen: »Saïdjah, Saïdjah!«

Doch ... war es seine Hast, seine Leidenschaft, die ihn hinderte, Adindas Haus zu finden? Er war schon bis ans Ende des Weges, wo das Dorf aufhört, dahingeflogen, und wie toll kehrte er um und schlug sich vor den Kopf, dass er an ihrem Hause vorbeilaufen konnte, ohne es zu sehen. Aber wieder war er am Dorfeingang, und—mein Gott, war es ein Traum?—wieder hatte er Adindas Haus nicht gefunden! Noch einmal flog er zurück, und plötzlich blieb er stehen, griff mit beiden Händen an seinen Kopf, als wollte er den Wahnsinn herausreissen, der ihn packte, und rief laut: »Von Sinnen, betrunken, ich bin betrunken!«

Und die Frauen von Badur kamen aus ihren Häusern und sahen mit Erbarmen Saïdjah da stehen, denn sie erkannten ihn und begriffen, dass er Adindas Haus suche, und wussten, dass ein Haus Adindas nicht im Dorfe Badur sei.

Denn als das Distriktshaupt von Parang-Kudjang Adindas Vater den Büffel weggenommen hatte ...

ich hab’ dir gesagt, Leser, dass meine Geschichte eintönig ist!

... da war Adindas Mutter gestorben vor Kummer. Und ihr jüngstes Schwesterchen war gestorben, weil es keine Mutter hatte, die es säugte. Und Adindas Vater, der sich vor der Strafe fürchtete, als er seine Landrenten nicht bezahlen konnte ...

weiss wohl, weiss wohl, dass meine Geschichte eintönig ist!

... Adindas Vater war fortgegangen aus dem Lande. Er hatte Adinda mitgenommen und auch ihre Brüder. Aber er hatte vernommen, wie Saïdjahs Vater in Buitenzorg mit Stockschlägen gestraft worden war, weil er Badur ohne Pass verlassen hatte. Und darum war Adindas Vater weder nach Buitenzorg gegangen, noch nach Krawang, noch nach Preanger, [289]noch in die Bataviaschen Ommelande ... er war nach Tjilangkahan gegangen, dem Distrikt von Lebak, der an die See grenzt. Da hatte er sich in den Wäldern versteckt gehalten und die Ankunft von Pa-ento, Pa-lontha, Si-uniah, Pa-ansiu, Abdul-isma und noch einigen andern abgewartet, die durch das Distriktshaupt von Parang-Kudjang ihrer Büffel beraubt worden waren und die Alle Strafe fürchteten, wenn sie ihre Landrenten nicht bezahlten. Da hatten sie sich bei Nacht zum Herrn eines Fischerewers gemacht und waren in See gestochen. Sie steuerten westlich und liessen das Land rechts liegen, bis nach Javapunt. Von hier hatten sie sich nordwärts gewendet, bis sie Tanah-itam vor sich sahen, das die europäischen Seeleute Prinseneiland nennen. Sie hatten das Eiland an der Ostseite umsegelt und steuerten auf die Kaiserbai, indem sie den hohen Pik in den Lampongs zur Richtung nahmen. Wenigstens war so der Weg, den man sich im Lebakschen flüsternd ins Ohr sagte, wenn über offiziellen Büffelraub und unbezahlte Landrenten gesprochen wurde.

Doch der verwirrte Saïdjah verstand nicht deutlich, was man ihm sagte. Selbst den Bericht von seines Vaters Tode begriff er nicht völlig. Es war ein Gebrause in seinen Ohren, als hätte man in seinem Kopfe einen Gong angeschlagen. Er fühlte, wie das Blut stossweise durch die Adern gegen seine Schläfen geschleudert wurde, die unter der Wucht so schweren Anstürmens zu zerspringen drohten. Er sprach nicht und starrte mit erstorbenem Blick umher, ohne zu sehen, was um ihn und wer bei ihm war, und brach endlich in grausiges Gelächter aus.

Eine alte Frau nahm ihn mit nach ihrem Häuschen und verpflegte den armen Schelm. Dann lachte er nicht mehr so schaurig, aber doch sprach er nicht. Nur des Nachts wurden die Hausgenossen durch seine Stimme aufgeschreckt, wenn er tonlos sang: »Ich weiss nicht, wo ich sterben soll«, und einige Bewohner von Badur legten Geld zusammen, um den Boajas des Tjudjung-Gewässers ein Opfer für die Genesung [290]Saïdjahs zu bringen, den sie für wahnsinnig hielten. Doch wahnsinnig war er nicht.

Denn eines Nachts, als der Mond heller leuchtete, stand er vom Baleh-baleh auf, verliess leise das Haus und suchte nach der Stelle, wo Adinda gewohnt hatte. Es war nicht leicht, sie zu finden, weil so viele Häuser eingestürzt waren. Doch er meinte, den Platz an der bestimmten Weite des Winkels zu erkennen, die etliche Lichtungen, die durch das Gehölz liefen, bei ihrer Begegnung in seinem Auge bildeten, wie der Seemann seinen Stand nach Leuchttürmen und hervorragenden Bergspitzen berechnet.

Ja, hier musste es sein ... hier hatte Adinda gewohnt!

Über halbverfaulten Bambus und Stücke des niedergestürzten Daches strauchelnd, bahnte er sich einen Weg zu dem Heiligtume, das er suchte. Und wirklich, er fand noch einen Rest der aufrechtstehenden Wand, neben welcher Adindas Baleh-baleh gestanden hatte, und es steckte gar noch der kleine Bambuspflock darin, an dem sie ihr Kleid aufhängte, wenn sie sich schlafen legte ...

Aber der Baleh-baleh war, wie das Haus, eingestürzt und beinahe zu Staub vergangen. Er nahm eine Handvoll davon, drückte ihn an seine geöffneten Lippen und atmete sehr tief ...

Tags darauf fragte er die alte Frau, die ihn gepflegt hatte, wo der Reisblock sei, der auf dem Erbe von Adindas Haus gestanden hätte. Die Frau war erfreut, dass sie ihn reden hörte, und lief im Dorfe herum, um den Block zu suchen. Als sie Saïdjah den neuen Eigner bezeichnen konnte, folgte er ihr schweigend, und beim Reisblocke angelangt, zählte er an ihm zweiunddreissig Kerbschnitte ...

Darauf gab er der Frau so viele spanische Dollars, wie zum Kauf eines Büffels erforderlich waren, und verliess Badur. In Tjilangkahan kaufte er einen Fischerewer und erreichte damit nach einigen Tagen Segelns die Lampongsche Küste, wo die Aufständischen sich gegen die Niederländische [291]Herrschaft empörten. Er schloss sich einem Trupp von Bantamern an, weniger um des Kampfes willen, als um Adinda zu suchen. Denn er war sanftmütig von Art und eher Betrübtheit zugänglich als Bitterkeit.

Eines Tages, als die Aufständischen aufs neue geschlagen waren, schweifte er suchend in einem Dorf umher, das eben durch das Niederländische Heer erobert war und also in Flammen stand. Saïdjah wusste, dass der Haufe, der dort vernichtet worden war, grossenteils aus Leuten von Bantam bestanden hatte. Wie ein Spuk irrte er unter den Häusern umher, die noch nicht ganz verbrannt waren, und fand den Leichnam von Adindas Vater, mit einer Klewang-Bajonettwunde in der Brust. Neben ihm fand Saïdjah Adindas drei Brüder ermordet liegen, Jünglinge, beinahe Kinder noch, und ein wenig weiter lag der Leichnam Adindas, nackt, abscheulich misshandelt ...

Es war ein schmaler Streifen blauer Leinwand in die klaffende Brustwunde eingedrungen, die langer, verzweifelter Abwehr ein Ende gemacht zu haben schien ...

Da stürzte sich Saïdjah einigen Soldaten entgegen, die mit gefälltem Gewehr die noch lebenden Aufständischen in das Feuer der brennenden Häuser trieben. Er umfasste die breiten Säbelbajonette, schob sich mit Allgewalt vorwärts und drängte noch mit einem letzten grossen Kraftaufwand die Soldaten zurück, indem die Säbelknäufe ihm bis gegen die Brust vordrangen ...

Und um Geringes später war da in Batavia gross Gejubel über den neuen Sieg, der wieder so viele Lorbeeren zu den alten Lorbeeren der Niederländisch-Indischen Armee gefügt hatte. Und der Landvogt schrieb heim ins Mutterland, dass die Ruhe in den Lampongs wiederhergestellt sei. Und der König von Niederland, erleuchtet durch seine Staatsdiener, belohnte wiederum soviel Heldenmut mit vielen Ritterkreuzen.

Und wahrscheinlich stiegen da aus den Herzen der Frommen, in der Sonntagskirche oder in der Betstunde, [292]Dankgebete gen Himmel, als man vernahm, dass »der Herr der Heerscharen« wieder einmal mitgestritten hatte unter dem Banner der Niederlande ...

„Doch Gott, der alles Weh ersicht,

Erhörte dieses Tages Opfer nicht.“


Ich habe den Schluss der Geschichte von Saïdjah kürzer gemacht, als ich hätte thun können, wenn ich Gefallen daran fand, Grausiges zu schildern. Der Leser wird wahrgenommen haben, wie ich bei der Beschreibung des Wartens unter dem Ketapan verweilte, als schreckte ich zurück vor der traurigen Lösung, und wie ich über sie mit Scheu hingeglitten bin. Und doch war dies gar nicht meine Absicht, als ich begann, über Saïdjah zu reden. Denn anfänglich fürchtete ich, ich würde stärkere Farben nötig haben, um bei dem Leser Rührung zu erzielen mit der Schilderung so sonderlicher Zustände. Im Laufe der Sache jedoch empfand ich, dass es eine Beleidigung für mein Publikum sein würde, wenn ich glaubte, mehr Blut in meine Schilderung bringen zu müssen.

Doch hätte ich dies thun können, denn ich habe hier Dokumente vor mir liegen ... doch nein: lieber ein Bekenntnis.

Ja, ein Bekenntnis, Leser! Ich weiss nicht, ob Saïdjah Adinda lieb hatte. Nicht, ob er nach Batavia ging. Nicht, ob er in den Lampongs ermordet wurde von Niederländischen Bajonetten. Ich weiss nicht, ob sein Vater erlag unter den Stockprügeln, die ihm gegeben wurden, weil er Badur ohne Pass verlassen hatte. Ich weiss nicht, ob Adinda die Monde zählte, indem sie Kerben in ihren Reisblock schnitt ...

Dies alles weiss ich nicht!

Doch ich weiss mehr als dies alles. Ich weiss und kann beweisen, dass es viele Adindas gab und viele Saïdjahs, und dass, was Erdichtung im Einzelfall, Wahrheit wird im allgemeinen. Ich sagte bereits, dass ich die [293]Namen von Personen angeben kann, die, wie die Eltern von Saïdjah und von Adinda, durch Unterdrückung aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Es liegt nicht in meiner Absicht, in diesem Werk Auseinandersetzungen zu geben, wie sie vor einen Gerichtshof gehörten, der einen Spruch zu fällen hätte über die Art und Weise, in welcher die Niederländische Autorität in Indien ausgeübt wird, Auseinandersetzungen, die nur für den Beweiskraft haben würden, der die Geduld hätte, sie mit Aufmerksamkeit und Interesse durchzulesen, wie es nicht erwartet werden kann von einem Publikum, das Zerstreuung in seiner Lektüre sucht. Darum habe ich an Stelle dürrer Namen von Personen und Plätzen mit den Daten dabei, an Stelle einer Abschrift der Liste von Diebstählen und Erpressungen, die vor mir liegt, eine ungefähre Schilderung dessen zu geben gesucht, was vorgehen kann in den Herzen der armen Leute, die man dessen beraubt, was zum Unterhalt ihres Lebens nötig ist, oder gar: ich habe dies nur den Leser ahnen lassen, in der Befürchtung, mich zu sehr täuschen zu können in der Zeichnung der Umrisse von Empfindungen, die ich selber nie erfahren.

Aber was die Hauptsache betrifft? O, dass ich aufgerufen würde, um zu beweisen, was ich schrieb! O, dass man sagte: »du hast diesen Saïdjah erdichtet ... er sang niemals das Lied ... es wohnte keine Adinda in Badur!« Nur wünschte ich, dass es gesagt werde mit der Macht und mit dem Willen, Recht zu schaffen, sobald ich bewiesen haben würde, dass aus mir nicht die Lästerzunge spricht!

Ist es lügenhaft, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, weil vielleicht niemals ein ausgeplünderter Reisender in ein samaritanisches Haus aufgenommen wurde? Ist sie wohl lügenhaft, die Parabel vom Säemann, weil kein Landbauer seine Saat auf einen Felsen auswerfen wird? Oder—um auf die Ebene zu gelangen, in der mein Buch liegt—will man die Wahrheit nicht gelten lassen, die die Hauptsache von »Onkel Toms Hütte« ausmacht, weil vielleicht niemals eine Evangeline bestanden hat? Wird man zu der Verfasserin [294]dieses unsterblichen Plaidoyers—unsterblich nicht wegen der Kunst oder wegen des Talentes, sondern wegen der Tendenz und wegen der Wirkung—wird man zu ihr sagen: »Du hast gelogen, die Sklaven werden nicht misshandelt, denn—es ist Unwahrheit in deinem Buch: es ist ein Roman!«? Musste nicht auch sie an Stelle einer Aufzählung von dürren Thatsachen eine Geschichte bieten, die diese Thatsachen einkleidete, um die Einsicht der Notwendigkeit einer Besserung eindringen zu lassen bis in die Herzen? Hätte man ihr Buch gelesen, wenn sie ihm die Form eines Aktenstückes gegeben hätte? Ist es ihre Schuld—oder die meine—dass die Wahrheit, um Zugang zu finden, so oft das Kleid der Lüge borgen muss?

Und jene, die vielleicht behaupten, dass ich Saïdjah und seine Liebe idealisiert habe, muss ich fragen, wie sie das wissen können? Gewiss erachten es nur sehr wenige Europäer der Mühe wert, sich niederzubeugen, um die Empfindungen der Kaffee- und Zuckerwerkzeuge wahrzunehmen, die man ‚Eingeborene‘ nennt. Doch wäre immerhin ihr Einwurf begründet: wer solche Bedenken als Beweis gegen die Haupttendenz meines Buches anführt, verschafft mir einen grossen Triumph. Denn sie lauten übersetzt: »Das Übel, das du bekämpfst, besteht nicht, oder besteht nicht in so hohem Masse, weil der Inländer nicht ist wie dein Saïdjah ... es liegt in der Misshandlung der Javanen jetzt kein so grosses Verbrechen, wie darin liegen würde, wenn du deinen Saïdjah richtiger gezeichnet hättest. Der Sundanese singt solche Lieder nicht, liebt nicht so, fühlt nicht so, und also ...

Nein, Minister der Kolonien, nein, ihr Generalgouverneurs im Ruhestande, nicht das habt ihr zu beweisen! Ihr habt zu beweisen, dass die Bevölkerung nicht misshandelt wird, gleichgültig, ob es sentimentale Saïdjahs unter dieser Bevölkerung giebt oder nicht. Oder solltet ihr zu behaupten wagen, Büffeldiebstahl sei gestattet gegenüber Leuten, die nicht lieben, die keine schwermütigen Lieder singen, die nicht sentimental sind? [295]

Bei einem Angriff auf litterarischem Gebiet würde ich die Korrektheit der Zeichnung meines Saïdjah verteidigen, aber auf politischem Boden streiche ich sogleich vor allen Aussetzungen bezüglich dieser Korrektheit die Segel, um zu verhindern, dass die grosse Frage auf ein verkehrtes Terrain verschleppt werde. Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob man mich für einen ungeschickten Zeichner hält, wenn man mir nur zugiebt, dass die Misshandlung des Eingeborenen eine „weitgehende“ ist; so lautet doch das Wort in der Note des Vorgängers von Havelaar, die von diesem dem Kontrolleur Verbrugge unterbreitet wurde: eine Note, die vor mir liegt!

Doch ich habe andere Beweise! Und das ist ein Glück, denn auch Havelaars Vorgänger konnte sich geirrt haben.

O Gott, wenn er sich irrte, wurde er für diesen Irrtum sehr hart gestraft. Er wurde ermordet. [296]


1 Badjing = das javanische Eichhörnchen.

Achtzehntes Kapitel.

Es war Nachmittag. Havelaar trat aus dem Zimmer und fand seine Tine in der Vorgalerie mit dem Thee auf ihn wartend. Mevrouw Slotering trat aus ihrem Hause und schien sich nach Havelaars begeben zu wollen, doch auf einmal wendete sie sich nach dem Zaune und wies dort mit ziemlich heftigen Geberden einen Mann zurück, der ebenzuvor eingetreten war. Sie blieb stehen, bis sie sich versichert hatte, dass er nach draussen zurückgegangen war, und kehrte darauf dem Rasen entlang nach Havelaars Haus zurück.

»Ich will doch endlich mal wissen, was das bedeutet!« sagte Havelaar, und als die Begrüssung vorüber war, fragte er in scherzhaftem Tone, damit sie nicht meine, er missgönne ihr das bisschen Autorität auf einem Erbe, das früher das ihre war:

—Bitte, Mevrouw, sagen Sie mir doch mal, warum Sie nur immer die Leute, die das Erbe betreten, zurückschicken! Wenn der Mann da eben gerade einer war, der Hühner zu verkaufen hatte oder sonst irgendwas, was man in der Küche braucht?

Da zeigte sich auf dem Gesicht der Mevrouw Slotering ein schmerzlicher Zug, der Havelaars Blick nicht entging.

—Ach, sagte sie, es giebt soviel schlechtes Volk!

—Gewiss, das giebt’s überall. Doch wenn man es den Menschen so schwierig macht, werden die Guten auch wegbleiben. Nun, Mevrouw, erzählen Sie mir doch nun mal [297]ganz offen, warum Sie so streng Aufsicht üben über das Erbe!

Havelaar sah sie an und suchte vergebens die Antwort zu lesen in ihrem feuchten Auge. Er drang etwas stärker auf Erklärung ... die Witwe brach in Thränen aus und sagte, dass ihr Mann im Hause des Distriktshauptes von Parang-Kudjang vergiftet worden wäre.

—Er wollte Gerechtigkeit üben, M’nheer Havelaar, fuhr die arme Frau fort, er wollte ein Ende machen der Misshandlung, unter der die Bevölkerung seufzt. Er ermahnte und bedrohte die Häupter, in Versammlungen und schriftlich ... Sie müssen doch wohl seine Briefe gefunden haben im Archiv?

Es war so. Havelaar hatte diese Briefe gelesen, von denen Abschriften vor mir liegen.

—Er sprach mehrfach mit dem Residenten, sagte weiter die Witwe, doch immer vergeblich. Denn da es allgemein bekannt war, dass die Erpressung statthatte zu Nutzen und unter dem Schutze des Regenten, den der Resident nicht bei der Regierung anklagen wollte, so führten alle diese Unterredungen zu nichts anderm als zur Misshandlung der Kläger. Darum hatte mein armer Mann gesagt, dass er, falls keine Besserung eintrete vor Jahresschluss, sich direkt an den Generalgouverneur wenden werde. Das war im November. Er ging kurz darnach auf eine Inspektionsreise, nahm das Mittagmahl im Hause des Dhemang von Parang-Kudjang ein, und wurde kurz darauf in erbarmungswürdigem Zustande nach Haus gebracht. Er rief, auf den Magen deutend: »Feuer, Feuer!«, und wenige Stunden später war er tot, er, der immer ein Muster von Gesundheit gewesen war.

—Haben Sie den Arzt von Serang rufen lassen? fragte Havelaar.

—Ja, doch er hat meinen Gatten nur kurze Zeit behandelt, weil er bald nach seinem Eintreffen gestorben ist. Ich wagte dem Doktor meine Vermutung nicht mitzuteilen, weil ich besorgte, ich würde wegen meines Zustandes diesen [298]Ort nicht schnell verlassen können, und auch Rache fürchtete. Ich habe gehört, dass Sie ebenso wie mein Gatte den Missbräuchen entgegentreten, die hier herrschen, und darum habe ich keinen ruhigen Augenblick. Ich hatte dies alles vor Ihnen verbergen wollen, um Sie und Mevrouw nicht ängstlich zu machen, und beschränkte mich also auf die Überwachung von Garten und Erbe, damit keine Fremden Zutritt zur Küche erlangten.

Nun wurde es Tine deutlich, warum Mevrouw Slotering ihre eigene Haushaltung weiter führte und selbst keinen Gebrauch von der Küche machen wollte, »die doch so geräumig sei«.

Havelaar liess den Kontrolleur rufen. Inzwischen richtete er an den Arzt in Serang ein Ersuchen um Angabe der Erscheinungen bei Sloterings Tode. Die Antwort, die er auf diese Frage erhielt, war nicht in dem Sinne der Vermutung von der Witwe. Dem Arzte nach war Slotering gestorben an einem »Abscess in der Leber«. Es ist nicht zu meiner Wissenschaft gelangt, ob ein derartiges Leiden so plötzlich auftreten und den Tod verursachen kann binnen weniger Stunden. Ich glaube hier der Erklärung der Mevrouw Slotering Beachtung schenken zu müssen, dass ihr Ehegatte früher immer gesund gewesen war. Doch wenn man solcher Erklärung keinen Wert beimisst, weil die Auffassung des Begriffes ‚Gesundheit‘ vor allem bei Nicht-Heilkundigen eine ziemlich grobsinnliche und auch unterschiedliche ist—so bleibt doch die gewichtige Frage bestehen, ob jemand, der heute stirbt an einem »Abscess in der Leber«, sich gestern noch zu Pferde setzen konnte mit der Absicht, einen bergigen Landstrich zu inspizieren, der in einzelnen Richtungen zwanzig Stunden breit ist? Der Arzt, der Slotering behandelte, kann ein tüchtiger Heilkundiger gewesen sein und nichtsdestoweniger sich getäuscht haben in der Beurteilung der Erscheinungen der Krankheit, unvorbereitet wie er war, ein Verbrechen zu vermuten.

Wie dem sei, ich kann nicht beweisen, dass Havelaars [299]Vorgänger vergiftet wurde, da man Havelaar die Zeit nicht gelassen hat, diese Sache zur Klarheit zu bringen. Wohl aber kann ich beweisen, dass seine Umgebung ihn für vergiftet hielt, und dass diese Vermutung sich stützte auf des Vorgängers Leidenschaft, Unrecht entgegenzutreten.


Der Kontrolleur Verbrugge trat bei Havelaar ein. Dieser fragte kurzab:

—Woran ist M’nheer Slotering gestorben?

—Das weiss ich nicht.

—Ist er vergiftet?

—Das weiss ich nicht, aber ...

—Sprechen Sie deutlich, Verbrugge!

—Aber er suchte den Missbräuchen entgegenzutreten, wie Sie, M’nheer Havelaar, und ... und ...

—Nun? Weiter?

—Ich bin überzeugt, dass er ... vergiftet worden wäre, wenn er noch länger hier geblieben wäre.

—Schreiben Sie das auf!

Verbrugge hat diese Worte aufgeschrieben. Seine Erklärung liegt vor mir!

—Noch etwas. Ist es wahr oder ist es nicht wahr, dass gewuchert und erpresst wird in Lebak?

Verbrugge antwortete nicht.

—Antworten Sie, Verbrugge!

—Ich wage es nicht.

—Schreiben Sie auf, dass Sie’s nicht wagen!

Verbrugge hat es aufgeschrieben: es liegt vor mir!

—Gut! Noch etwas: Sie wagen nicht zu antworten auf die letzte Frage, doch sagten Sie mir unlängst, als die Rede von Vergiftung war, dass Sie die einzige Stütze Ihrer Schwestern zu Batavia seien, nicht wahr? Liegt darin vielleicht die Ursache Ihrer Furcht, der Grund dessen, was ich stets Halbheit nannte?

—Ja!

—Schreiben Sie das auf. [300]

Verbrugge schrieb es auf: seine Erklärung liegt vor mir!

—Es ist gut, sagte Havelaar, nun weiss ich genug.

Und Verbrugge konnte gehen.1

Havelaar trat ins Freie und spielte mit dem kleinen Max, den er mit besonderer Innigkeit küsste. Als Mevrouw Slotering weggegangen war, schickte er das Kind fort und rief Tine zu sich ins Zimmer.

—Liebe Tine, ich habe eine Bitte an dich! Ich möchte, dass du mit Max nach Batavia gingest: ich klage heute den Regenten an.

Und sie fiel ihm um den Hals und war zum erstenmal ungehorsam und rief schluchzend:

—Nein, Max! nein, Max! das thue ich nicht ... wir essen und trinken zusammen!


Hatte Havelaar unrecht, als er behauptete, dass sie ebensowenig recht zum Nasenschnauben hätte wie die Frauen zu Arles?


Er schrieb und versandte den Brief, von dem ich hier eine Abschrift gebe. Nachdem ich einigermassen die Verhältnisse geschildert, unter denen dies Schriftstück verfasst wurde, glaube ich nicht nötig zu haben, auf die beherzte Pflichterfüllung hinzuweisen, die daraus hervorstrahlt, und ebensowenig auf die edle Milde, die Havelaar bewog, den Regenten vor allzu schwerer Strafe in Schutz zu nehmen. Doch nicht so überflüssig wird es sein, dabei seine kluge Umsicht zu betonen, die ihn kein Wort verlieren liess über die soeben gemachte Entdeckung, damit er die Bestimmtheit und Zuverlässigkeit seiner Anklage nicht durch die Ungewissheit einer wohl bedeutungsvollen, doch noch unbewiesenen [301]Beschuldigung abschwäche. Seine Absicht war, die Leiche seines Vorgängers ausgraben und wissenschaftlich untersuchen zu lassen, sobald der Regent entfernt und sein Anhang unschädlich gemacht sein würde. Doch man hat ihm hierzu die Gelegenheit nicht gelassen.

In den Abschriften von offiziellen Schriftstücken—Abschriften, die übrigens buchstäblich übereinstimmen mit den Originalen—glaube ich die thörichten Titulaturen durch einfache Pronomina ersetzen zu dürfen. Von dem guten Geschmack meiner Leser erwarte ich, dass sie diese Änderung bereitwillig hinnehmen.

»No. 88. Rangkas-Betung, den 24. Februar 1856.
Geheim. Eile.

An den Residenten von Bantam.

Seit ich vor einem Monat meine Stellung hier antrat, habe ich mir hauptsächlich die Untersuchung angelegen sein lassen über die Art und Weise, wie die Inländischen Häupter ihre Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung im Punkte des Herrendienstes, des ‚Pundutan‘ und dergleichen erfüllen.

Sehr bald entdeckte ich, dass der Regent auf eigene Autorität und zu seinem Nutzen Menschen in einer Zahl aufrufen liess, die die gesetzlich ihm zustehende Anzahl von Pantjens und Kemits weit überschritt.

Ich schwankte zwischen der Wahl, sofort offiziell zu rapportieren, und dem lebhaften Wunsche, durch Milde oder später selbst durch Drohungen diesen Inländischen Hauptbeamten hiervon abzubringen, um mit diesem letzteren schliesslich das doppelte Ziel zu erreichen: dass dieser Missbrauch aufhörte und dass gleichzeitig dieser alte Diener des Gouvernements nicht gleich allzu streng behandelt würde, vor allem in Ansehung der schlechten Beispiele, die, wie ich glaube, ihm mehrfach gegeben worden sind, und sodann in Berücksichtigung des besonderen Umstandes, [302]dass er Besuch erwartete von zwei Verwandten, den Regenten von Bandung und von Tjanjor, zum mindesten von dem letzteren—der, wie ich meine, schon mit grossem Gefolge unterwegs ist—und er also mehr als sonst der Versuchung ausgesetzt war—und angesichts des beschränkten Status seiner Geldmittel sozusagen der Notwendigkeit—durch ungesetzliche Mittel für die durch diesen Besuch nötigen Vorbereitungen Vorsorge zu treffen.

Dies alles stimmte mich zur Milde bezüglich dessen, was schon geschehen war, doch keineswegs war ich geneigt zur Nachgiebigkeit gegenüber weiteren Fällen.

Ich drang auf augenblickliche Unterlassung jedweder Ungesetzlichkeit.

Von diesem vorläufigen Versuch, den Regenten durch Güte auf den Weg seiner Pflicht zu bringen, habe ich Ihnen unter der Hand Kenntnis verschafft.

Ich habe jedoch erfahren müssen, dass er mit brutaler Unverschämtheit alles in den Wind schlägt, und ich fühle mich kraft meines Amtseides verpflichtet, Ihnen mitzuteilen:

dass ich den Regenten von Lebak, Radhen Adhipatti Karta Natta Negara, beschuldige des Missbrauchs der Amtsgewalt durch ungesetzliches Verfügen über die Arbeit der ihm Unterstellten, und verdächtig erkläre der Erpressung durch die Forderung von Aufwendungen in natura ohne oder gegen willkürlich festgestellte, unausreichende Bezahlung;

dass ich im weiteren den Dhemang von Parang-Kudjang—seinen Schwiegersohn—verdächtig erkläre der Mitschuld an den genannten Thatsachen.

Um beide Sachen gehörig einleiten zu können, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen vorzustellen, dass Sie mir befehlen:

  • 1. den obengenannten Regenten von Lebak mit grösster Eile nach Serang zu senden und dafür Sorge zu tragen, dass er weder vor seiner Abreise noch unterwegs [303]die Gelegenheit habe, durch Bestechung oder auf andere Art die Zeugnisse zu beeinflussen, die ich werde einholen müssen;
  • 2. den Dhemang von Parang-Kudjang vorläufig in Arrest zu nehmen;
  • 3. gleiche Massregel anzuwenden auf solche Personen niedrigeren Ranges, die, zur Familie des Regenten gehörend, Einfluss auf den geordneten Verlauf der anzustellenden Untersuchung ausüben könnten;
  • 4. diese Untersuchung sofort stattfinden zu lassen und von dem Ausfall ausführlichen Bericht einzureichen.

Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen weiterhin in Erwägung zu geben, den Besuch des Regenten von Tjanjor abzubestellen.

Zum Schlusse habe ich die Ehre—zum Überfluss für Sie, der Sie die Abteilung Lebak besser kennen, als es mir schon möglich ist—die Versicherung zu geben, dass aus einem politischen Gesichtspunkt der streng gerechten Behandlung dieser Sache nicht das mindeste im Wege steht, und dass ich eher Gefahr besorgen möchte, falls sie nicht zur Klarheit gebracht wird. Denn ich bin informiert, dass der gemeine Mann, der, wie ein Zeuge mir sagte, »pussing« ist (also: ratlos und in Verwirrung gebracht) durch all die Plackerei und Bedrückung, schon lange nach Rettung ausschaut.

Ich habe die Kraft zu der beschwerlichen Pflicht, die ich mit dem Schreiben dieses Briefes erfülle, zum Teil geschöpft aus der Hoffnung, dass es mir vergönnt sein wird, zu seiner Zeit das eine und andere zur Schonung des alten Regenten beizubringen, mit dessen Position, wie sehr er sie durch eigene Schuld verursacht, ich gleichwohl tiefes Mitleid fühle.

Der Assistent-Resident von Lebak,

Max Havelaar

[304]

Folgenden Tags antwortete ihm ... der Resident von Bantam? O nein, der Herr Slymering, privatim!

Diese Antwort ist ein kostbarer Beitrag für die Kenntnis der Art und Weise, wie in Niederländisch-Indien die Verwaltung gehandhabt wird. Der Herr Slymering beklagte sich, »dass Havelaar ihm von der Sache, die vorkäme in dem Briefe No. 88, nicht erst mündlich Kenntnis gegeben hätte«. Natürlich weil dann mehr Möglichkeit gewesen wäre, zu »schipperen«. Und weiterhin: »dass Havelaar ihn in seinen dringenden Geschäften störe«!

Der Mann war gewiss mit einem Jahresbericht über »ruhige Ruhe« beschäftigt! Ich habe diesen Brief vor mir liegen und traue meinen Augen nicht. Ich lese noch einmal den Brief des Assistent-Residenten von Lebak ... ich stelle ihn und den Residenten von Bantam, Havelaar und Slymering, nebeneinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Dieser Shawlmann ist ein gemeiner Lump! Du musst wissen, Leser, dass Bastians wieder sehr oft nicht aufs Kontor kommt, weil er die Gicht hat. Da ich nun eine Gewissenssache aus dem Wegschmeissen der Kapitalien der Firma—Last & Co.—mache ... denn in Grundsätzen bin ich unerschütterlich ... kam ich vorgestern auf den Gedanken, dass Shawlmann doch eine leidlich gute Hand schreibe, und da er so power aussieht und also für mässigen Lohn wohl zu kriegen wäre, drängte es sich mir auf, dass ich der Firma verpflichtet sei, auf die wohlfeilste Art für den Ersatz Bastians zu sorgen. Ich ging also nach der Langen-Leydener-Querstrasse. Die Frau von dem Laden war vorn, schien mich jedoch nicht wiederzuerkennen, obschon ich ihr unlängst recht deutlich gesagt hatte, dass ich M’nheer Droogstoppel sei, Makler in Kaffee, von der Lauriergracht. Es berührt immer beleidigend, wenn man nicht wiedererkannt wird, doch da es jetzt weniger kalt ist und ich das vorige Mal mein Pelzwerk anhatte, schreibe ich es dem zu und ziehe es mir [305]nicht an ... die Beleidigung, meine ich. Ich sagte also noch einmal, dass ich M’nheer Droogstoppel sei, Makler in Kaffee, von der Lauriergracht, und ersuchte sie, doch nachzusehen, ob der Shawlmann zu Hause wäre, weil ich nicht wieder wie unlängst mit seiner Frau zu thun haben wollte, die stets unzufrieden ist. Doch das Trödelweib weigerte sich, nach oben zu gehen. »Sie könnte nicht den ganzen Tag Treppen klettern für das Bettelvolk, sagte sie, ich sollte nur selbst nachsehen.« Und darauf folgte wieder eine Beschreibung der Treppen und Flure, die bei mir durchaus nicht nötig war, denn ich erkenne stets einen Ort wieder, wo ich einmal war, weil ich überall mein Auge habe. Das habe ich mir so bei den Geschäften angewöhnt. Ich kletterte also die Treppen hinauf und klopfte an die bekannte Thür, die von selbst wich. Ich trat ein, und da ich niemanden im Zimmer fand, sah ich mich mal um. Nun, viel zu sehen war da nicht. Es hing ein halbes Höschen mit gestickter Borde über einem Stuhl ... was brauchen solche Menschen gestickte Hosen zu tragen? In einer Ecke stand ein nicht sehr schwerer Reisekoffer, den ich in Gedanken beim Henkel erfasste, und auf dem Kaminsims lagen einige Bücher, die ich einsah. Eine wunderliche Sammlung! Ein paar Bände von Byron, Horaz, Bastiat, Béranger, und ... rat einmal? Eine Bibel, eine komplette Bibel, mit den apokryphen Büchern noch dazu! Das hatte ich bei Shawlmann nicht erwartet. Und es schien auch drin gelesen zu sein, denn ich fand viele Notizen auf losen Stücken Papier, die sich auf die SCHRIFT bezogen—er sagt, dass Eva zweimal zur Welt kam ... der Kerl ist verrückt—nun, alles war von derselben Hand wie die Manuskripte in dem verwünschten Paket. Vor allem schien er das Buch Hiob eifrig studiert zu haben, denn da klafften die Blätter. Ich denke, dass er die Hand des HERRN zu fühlen beginnt, und darum durch Lektüre in den Heiligen Büchern sich mit GOTT versöhnen will. Ich habe nichts dagegen. Doch wie ich so wartete, fiel mein Auge auf einen Nähkasten, der auf dem Tisch stand. Ohne Hintergedanken [306]besah ich mir ihn. Es waren ein paar halbfertige Kinderstrümpfe darin und eine Anzahl alberner Verse. Auch ein Brief an Shawlmanns Frau, wie ich aus der Adresse ersah. Der Brief war geöffnet und sah aus, als wenn man ihn in Erregung zusammengeknutscht hätte. Nun habe ich den festen Grundsatz, niemals etwas zu lesen, was nicht an mich gerichtet ist, weil ich es nicht anständig finde. Ich thue es denn auch nie, wenn ich kein Interesse daran habe. Aber nun wurde mir eine Eingebung, dass es meine Pflicht wäre, mal Einsicht in diesen Brief zu nehmen, weil sein Inhalt mir vielleicht einen Fingerzeig gewährte bei der menschenfreundlichen Absicht, die mich zu Shawlmann führte. Ich dachte daran, wie doch der HERR allzeit den Seinen nah ist, da Er mir hier unerwartet die Gelegenheit gab, etwas mehr über diesen Mann zu erfahren, und mich also vor der Gefahr behütete, einer unsittlichen Person eine Wohlthat zu erweisen. Ich gebe genau acht auf solche Fingerzeige des HERRN, und das hat mir oftmals viel Nutzen im Geschäft gebracht. Zu meiner grossen Verwunderung sah ich, dass die Frau des Shawlmann aus sehr geachteter Familie war, wenigstens war der Brief von einem Blutsverwandten unterzeichnet, dessen Name angesehen ist in Niederland, und ich war in der That auch entzückt von dem schönen Inhalt dieses Schreibens. Es schien jemand zu sein, der eifrig für den HERRN arbeitet, denn er schrieb, »dass die Frau des Shawlmanns sich scheiden lassen müsse von solch einem Elenden, der sie Armut leiden liesse, der sein Brot nicht verdienen könne, der obendrein ein Schurke wäre, denn er hätte Schulden ... dass der Schreiber des Briefes um ihren Zustand bekümmert sei, wiewohl sie sich dieses Los durch eigene Schuld auf den Hals geladen hätte, indem sie den HERRN verliess und Shawlmann anhing ... dass sie zum HERRN zurückkehren müsse, und dass dann vielleicht die ganze Familie die Hände dazu verbinden würde, ihr Näharbeit zu verschaffen. Doch vor diesem allen müsse sie von dem Shawlmann lassen, der eine wahre Schande für die Familie bedeute«. [307]

Kurz, selbst in der Kirche war nicht mehr Erbauung zu holen, als da in diesem Briefe stand.

Ich wusste genug und war dankbar, dass ich auf so wunderbare Weise gewarnt war. Ohne diese Warnung wäre ich sicher wieder das Schlachtopfer meines guten Herzens geworden. Ich beschloss also nochmals, Bastians nur zu behalten, bis ich einen passenderen Ersatzmann fände, denn ich setze nicht gern jemanden auf die Strasse, und wir können im Augenblick auch keinen von den Leuten entbehren, weil unser Geschäft so flott geht.

Der Leser wird gewiss neugierig sein, zu erfahren, wie ich es gemacht habe auf dem letzten Kränzchen, und ob ich das Triolett gefunden habe. Ich bin nicht auf dem Kränzchen gewesen. Es sind wundersame Dinge vorgefallen: ich bin nach Driebergen gewesen, mit meiner Frau und Marie. Mein Schwiegervater, der alte Last, der Sohn von dem ersten Last—als die Meyers noch drin waren, aber die sind nun lange raus—hatte schon so oft gesagt, dass er meine Frau und Marie mal sehen möchte. Nun war es ziemlich gutes Wetter, und meine Angst vor der Liebesgeschichte, mit der Stern gedroht hatte, brachte mir auf einmal diese Einladung wieder in Erinnerung. Ich sprach mit unserm Buchhalter darüber, der ein Mann von viel Erfahrung ist und mir nach gründlicher Beratung in Erwägung gab, meinen Plan zu beschlafen. Das nahm ich mir sofort vor, denn ich bin schnell in der Ausführung meiner Beschlüsse. Bereits den folgenden Tag sah ich ein, wie weise der Rat gewesen war, denn die Nacht hatte mich auf den Gedanken gebracht, dass ich nicht besser thun könnte, als den Entschluss bis Freitag hinauszuschieben. Kurzum, nachdem ich reiflich alles erwogen—es sprach viel dafür, aber auch viel dagegen—sind wir gegangen Sonnabend Mittag und sind Montag Morgen zurückgekehrt. Ich würde das ja alles nicht so ausführlich erzählen, wenn es nicht in enger Beziehung zu meinem Buche stände. Zum ersten liegt mir daran, dass ihr wisst, warum ich nicht protestiere gegen die Albernheiten, die Stern letzten Sonntag [308]gewiss wieder ausgekramt hat.—Was ist das nur für eine Geschichte von einem Menschen, der noch was hören sollte, als er schon tot war? Marie sprach davon. Sie hatte es von den jungen Rosemeyers, die in Zucker machen.—Zum zweiten bin ich so ausführlich, weil ich wiederum aufs neue die sichere Überzeugung gewonnen habe, dass all diese Erzählungen über Elend und Unruhe in Ostindien ganz offenbare Lügen sind. Da sieht man wieder, wie das Reisen einem Gelegenheit giebt, recht auf den Grund der Dinge zu kommen.

Samstag Abend nämlich hatte mein Schwiegervater eine Einladung bei einem Herrn angenommen, der früher in Ostindien Resident war und nun auf einem grossen Landsitz wohnt. Da sind wir gewesen, und wahrlich, ich kann den liebenswürdigen Empfang nicht genug rühmen. Er hatte sein Fuhrwerk geschickt, um uns abzuholen, und der Kutscher hatte eine rote Weste an. Nun war es wohl noch etwas zu kalt, um den Landsitz zu besichtigen, der im Sommer prächtig sein muss, aber im Hause selbst blieb einem nichts zu wünschen übrig, denn es war von allem, was das Leben angenehm macht, vollauf da: ein Billardsaal, ein Bibliotheksaal, eine überdeckte eiserne Glasgalerie als Gewächshaus, und der Kakadu sass auf einem Ständer von Silber. Ich hatte niemals sowas gesehen und ersah sogleich wieder daraus, wie gutes Betragen doch immer belohnt wird. Der Mann hatte gehörig auf seine Sachen gepasst, denn er hatte wohl drei Orden. Er besass einen herrlichen Landsitz und obendrein noch ein Haus in Amsterdam. Beim Souper war alles getrüffelt, und auch die Dienerschaft, die uns servierte, hatte rote Westen an, gerade wie der Kutscher.

Da mich indische Angelegenheiten sehr interessieren—wegen des Kaffees—brachte ich das Gespräch darauf, und sah sehr bald, woran ich mich zu halten hatte. Der Resident hat mir gesagt, dass er’s im Osten immer sehr gut gehabt hat, und dass also kein wahres Wort ist an all den Erzählungen über die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Ich brachte das Gespräch auf Shawlmann. Er kannte ihn, und zwar von [309]einer sehr ungünstigen Seite. Er versicherte mir, dass man sehr recht daran that, den Mann wegzujagen, denn er war eine sehr unzufriedene Person, die stets an allem was auszusetzen hatte, während überdies sehr über sein eigenes Betragen Klage zu führen war. Er entführte nämlich oft Mädchen und brachte sie dann zu seiner eigenen Frau, und er bezahlte seine Schulden nicht, was doch sehr unanständig ist. Da ich nun aus dem Brief, den ich gelesen hatte, so gut wusste, wie begründet all diese Beschuldigungen waren, war es mir eine grosse Genugthuung, zu sehen, dass ich die Dinge so gut beurteilt hatte, und war ich sehr zufrieden mit mir selbst. Dafür bin ich denn auch bekannt an meinem Börsenpfeiler—dass ich stets so richtig urteile, meine ich.

Dieser Resident und seine Frau waren liebe, herzliche Menschen. Sie erzählten uns viel von ihrer Lebensweise in Ostindien. Es muss doch wohl angenehm dort sein. Sie sagten, dass ihr Landsitz bei Driebergen nicht halb so gross wäre als ihr »Erbe«, wie sie es nannten, in den Binnenlanden von Java, und dass zur Unterhaltung desselben wohl an die hundert Menschen nötig waren. Doch—und das ist wohl ein Beweis dafür, wie beliebt sie waren—das thaten diese Leute ganz umsonst und rein aus Wohlwollen für sie. Auch erzählten sie, dass bei ihrem Abzug von dort der Verkauf ihrer Möbel wohl zehnmal mehr aufgebracht hätte, als dieselben wert waren, weil die Inländischen Häuptlinge so gern ein Andenken an einen Residenten kaufen, der wohlwollend gegen sie gewesen ist. Ich sagte Stern später davon, der behauptete, dass es durch Zwang geschehe, und dass er dies aus Shawlmanns Paket beweisen könnte. Doch ich habe ihm gesagt, dass der Shawlmann ein Verleumder ist, dass er Mädchen entführt hat—gerade wie der junge Deutsche bei Busselinck & Waterman—und dass ich auf sein Urteil durchaus keinen Wert legte, denn ich hätte nun von einem Residenten selbst gehört, wie die Dinge ständen, und hätte also von M’nheer Shawlmann nichts zu lernen.

Es waren dort noch mehr Leute aus Ostindien, unter [310]anderm ein Herr, der sehr reich war und noch immer viel Geld an Thee verdient, den die Javanen ihm für wenig Geld liefern müssen und den die Regierung ihm für einen hohen Preis abkauft, um die Arbeitsamkeit dieser Javanen anzuregen. Auch dieser Herr war sehr bös auf all die unzufriedenen Menschen, die fortwährend gegen die Regierung reden und schreiben. Er konnte die Verwaltung der Kolonien nicht genug rühmen, denn er sagte, er sei überzeugt, dass man viel Verlust hätte an dem Thee, den man von ihm kaufte, und dass es also ein wahrer Edelmut sei, dass man dauernd einen so hohen Preis für einen Artikel bezahle, der eigentlich geringen Wert hätte und den er selbst denn auch nicht gern möchte, denn er tränke stets chinesischen Thee. Auch sagte er, dass der Generalgouverneur, der die sogenannten Theeverträge verlängert hätte, trotz seiner Nachrechnung, dass das Land so bedeutenden Verlust bei diesem Artikel habe, so ein befähigter, braver Mensch sei, und vor allem denen ein so treuer Freund, die ihn früher schon gekannt hätten. Denn dieser Generalgouverneur hätte sich den Teufel um das Gerede gekümmert, dass an dem Thee soviel Verlust wäre, und er hätte ihm, als von Einziehung dieser Verträge—ich glaube im Jahre 1846—die Rede war, einen grossen Dienst erwiesen, indem er bestimmte, dass man nur immer fortfahren solle, seinen Thee zu kaufen. »Ja, rief er aus, das Herz blutet mir, wenn ich so edle Menschen beschimpfen höre! Wenn er nicht gewesen wäre, liefe ich nun zu Fuss mit Frau und Kindern.« Darauf liess er sein »barouchet« vorfahren, und das sah doch so apart aus, und die Pferde waren so wohlgenährt, dass ich recht gut begreifen kann, wie man glüht vor Dankbarkeit gegen so einen Generalgouverneur. Es thut in der Seele wohl, wenn man das Auge auf so liebreiche Empfindungen richtet, vor allem, wenn man einen Vergleich anstellt mit dem verfluchten Murren und Klagen von Geschöpfen, wie dieser Shawlmann eins ist.

Am folgenden Tag erwiederte der Resident den Besuch, und ebenfalls der Herr, für den die Javanen Thee bauen. [311]Es sind die allerbesten Menschen und doch von ganz besonderem Ansehen! Beide fragten sie gleichzeitig, mit welchem Zuge wir in Amsterdam anzukommen gedächten. Wir begriffen nicht, was dies auf sich hatte, doch später wurde es uns klar, denn als wir am Montag Morgen dort ankamen, waren zwei Bediente am Bahnhof, einer mit einer roten Weste, und ein anderer mit einer gelben Weste, die beide aussagten, sie hätten per Depesche Auftrag erhalten, uns mit Fuhrwerk abzuholen. Meine Frau war ganz aus dem Häuschen, und ich dachte daran, was Busselinck & Waterman wohl gesagt haben würden, wenn sie das gesehen hätten ... dass zwei Fuhrwerke zugleich für uns da waren, meine ich. Aber es war nicht leicht, eine Wahl zu treffen, denn ich konnte mich nicht entschliessen, eine von den Parteien zu kränken, indem ich eine so liebe Aufmerksamkeit abwies. Guter Rat war teuer. Aber ich habe mich aus dieser höchst schwierigen Situation schon wieder gerettet. Ich habe meine Frau und Marie im roten Fuhrwerk Platz nehmen lassen—in dem Wagen von der roten Weste meine ich—und ich habe mich ins gelbe gesetzt—ins Fuhrwerk, meine ich.

Was die Pferde nur liefen! In der Weesperstrasse, wo es immer so schmutzig ist, flog der Dreck rechts und links haushoch, und, als wenn’s wieder so sein sollte, da lief der lumpige Shawlmann, in gebückter Haltung, den Kopf gesenkt, und ich sah, wie er mit dem Ärmel seines schäbigen Rockes sein bleiches Gesicht von den Dreckspritzen zu reinigen suchte. Ich bin selten so famos ausgewesen, und meine Frau fand es auch. [312]


1 Dem ersten Bande meines Multatuli-Unternehmens habe ich eine Beilage in Facsimile beigegeben, welche die dieser Stelle des „Havelaar“ entsprechenden, von dem Assistent-Residenten Eduard Douwes Dekker handschriftlich gestellten Fragen, sowie die Antworten seines Kontrolleurs Van Hemert in Nachbildung des Original-Aktenstückes enthält. W. Sp.

Neunzehntes Kapitel.

In dem privaten Schreiben, das der Herr Slymering an Havelaar sandte, teilte er diesem mit, dass er ungeachtet seiner »dringenden Geschäfte« am folgenden Tage nach Rangkas-Betung kommen werde, um zu erwägen, was gethan werden müsste. Havelaar, der nur allzu gut wusste, was solche Erwägungen zu bedeuten hatten—sein Vorgänger hatte so oft mit dem Residenten von Bantam »abouchiert«!—schrieb den nachfolgenden Brief, den er dem Residenten entgegenschickte, damit dieser ihn gelesen haben sollte, bevor er den Hauptplatz von Lebak erreichte. Ein Kommentar zu diesem Schriftstück erübrigt sich.

»No. 91. Rangkas-Betung, den 25. Februar 1856,
Geheim. Eilig. abends 11 Uhr.

Gestern mittag um 12 Uhr hatte ich die Ehre, meine Eilmissive No. 88 an Sie abzusenden, im wesentlichen des Inhalts:

dass ich nach langer Untersuchung und nach vergeblichen Bemühungen, den Betreffenden durch Güte von seinem unrechten Wandel abzubringen, mich kraft meines Amtseides verpflichtet fühlte, den Regenten von Lebak zu beschuldigen des Gewaltmissbrauchs, und dass ich ihn verdächtig hielte der Erpressung.

[313]

Ich war so frei, in dem Briefe Ihnen vorzustellen, diesen Inländischen Häuptling nach Serang zu berufen, mit dem Zwecke, nach seiner Abreise und nach Neutralisierung des verderblichen Einflusses seiner ausgebreiteten Familie eine Untersuchung einzuleiten über die Begründetheit meiner Beschuldigung und meiner Vermutung.

Lange, oder richtiger gesagt: viel hatte ich nachgedacht, ehe ich zu diesem Entschluss kam.

Es war Ihnen durch mich selbst bekannt geworden, dass ich getrachtet habe, durch Ermahnungen und Androhungen den alten Regenten vor Unglück und Schande zu bewahren, und mich selbst vor dem tiefen Schmerz, hiervon—sei es auch nur die unmittelbar voraufgehende—Ursache zu sein.

Doch ich sah an der andern Seite die seit Jahren ausgesogene, tief niedergebeugte Bevölkerung, ich dachte an die Notwendigkeit eines Beispiels—denn viele andere Bedrückungen werde ich Ihnen zu rapportieren haben, wenn nicht zum mindesten diese von mir angefasste Sache durch Ihren Einfluss denselben ein Ende macht—und, ich wiederhole es, nach reiflicher Überlegung habe ich gethan, was ich für Pflicht hielt.

In diesem Augenblick erhalte ich Ihr freundliches und geehrtes Privatschreiben, enthaltend die Mitteilung, dass Sie morgen hierherkommen werden, und zugleich einen Wink, dass ich diese Sache lieber vorher privat und vertraulich hätte behandeln sollen.

Morgen werde ich also die Ehre haben, Sie zu sehen, und just darum nehme ich mir die Freiheit, Ihnen dieses entgegenzusenden, um vor unserer Begegnung das Folgende zu konstatieren.

Alles, was ich bezüglich der Handlungen des Regenten einer Untersuchung unterwarf, war tief geheim. Nur er selbst und der Patteh wussten davon, denn ich habe ihn loyal verwarnt. Sogar der Kontrolleur weiss jetzt nur [314]erst zum Teil den Ausfall meiner Untersuchungen. Diese Geheimhaltung hatte einen doppelten Zweck. Erst, als ich noch hoffte, den Regenten von seinem Wege abzubringen, beobachtete ich sie, um, wenn ich damit Erfolg hatte, ihn nicht zu kompromittieren. Der Patteh hat mir in seinem Namen—es war am 12. dieses—ausdrücklich für diese Diskretion Dank gesagt. Doch später, als ich an dem Erfolg meiner Versuche zu verzweifeln begann, oder besser, als das Mass meiner Entrüstung durch einen eben gehörten Vorfall überlief, als längeres Schweigen Mitverantwortlichkeit bedeutet hätte, da war diese Geheimhaltung meinethalben nötig, denn auch gegen mich selbst und die Meinen habe ich Pflichten zu erfüllen.

Gewiss wäre ich nach dem Schreiben der Missive von gestern unwürdig, dem Gouvernement zu dienen, wenn das darin Ausgesprochene hinfällig, unbegründet, aus der Luft gegriffen wäre. Und würde oder wird es mir möglich sein, zu beweisen, dass ich gethan habe, »was einem guten Assistent-Residenten zu thun obliegt«, wie es mein Amtseid vorschreibt, zu beweisen, dass ich als Person nicht unter dem Niveau des Postens stehe, der mir gegeben ward, zu beweisen, dass ich nicht unbedacht und leichtfertig siebenzehn mühevolle Dienstjahre aufs Spiel setze, und was mehr sagt, das Wohl von Frau und Kind ... wird es mir möglich sein, das alles zu beweisen, wenn nicht tiefe Geheimhaltung meine Nachforschungen verbirgt und den Schuldigen hindert, sich, wie man es nennt, zu ‚decken‘?

Bei dem geringsten Argwohn sendet der Regent einen Express an seinen Neffen, der schon unterwegs ist und interessiert an der Erhaltung des Regenten. Er verlangt von ihm, auf wessen Kosten immer, Geld, teilt es aus mit verschwenderischer Hand an jeden, den er in der letzten Zeit benachteiligt hat, und die Folge würde sein—ich hoffe, nicht sagen zu brauchen: wird sein—dass ich ein leichtfertiges Urteil gefällt habe und mit einem Wort [315]ein unbrauchbarer Beamter bin, um es nicht ärger auszudrücken.

Mich gegen diese Eventualität zu sichern, dient dieses Schreiben. Ich habe die grösste Hochachtung vor Ihnen, aber ich kenne den Geist, den man ’den Geist der Ost-Indischen Beamten’ nennen könnte, und ich besitze diesen Geist nicht!

Ihr Wink, dass die Sache vorher besser »privat« wäre behandelt worden, lässt mich Befürchtungen hegen vor einer mündlichen Besprechung. Was ich in meinem Briefe von gestern gesagt habe, ist wahr. Doch vielleicht würde es unwahr scheinen, wenn die Sache in einer Weise behandelt würde, die die Offenbarwerdung meiner Beschuldigung wie meines Vermutens veranlasste, bevor der Regent von hier entfernt ist.

Ich mag Ihnen nicht verhehlen, dass sogar Ihr unerwartetes Kommen in Verbindung mit dem gestern von mir nach Serang gesandten Express mich befürchten lässt, dass der Schuldige, der früher meine Ermahnungen in den Wind schlug, jetzt vor der Zeit aufmerksam werden und versuchen wird, wenn möglich die Beweise seiner Schuld, tant soit peu, zu verwischen.

Ich habe die Ehre, mich noch jetzt buchstäblich auf meine Missive von gestern zu beziehen, doch erlaube ich mir die Freiheit, dabei ausdrücklich zu bemerken, dass diese Missive auch den Vorschlag enthielt: vor der Untersuchung den Regenten zu entfernen und die von ihm Abhängigen vorläufig unschädlich zu machen. Ich vermeine nicht weiter verantwortlich zu sein für das, was ich vorher andeutete, wenn Sie nicht meinem Vorschlage betreffs der Art und Weise der Untersuchung—d. i. unparteiisch, öffentlich, und vor allem frei—zuzustimmen belieben.

Diese Freiheit besteht nicht, ehe nicht der Regent entfernt ist, und nach meiner bescheidenen Meinung liegt hierin nichts Gefährliches. Ihm kann doch gesagt werden, [316]dass ich ihn beschuldige und verdächtig erkläre, dass ich Gefahr laufe und nicht er, wenn er unschuldig ist. Denn ich selbst bin der Ansicht, dass ich aus dem Dienst entlassen zu werden verdiene, wenn sich herausstellt, dass ich leichtfertig oder selbst nur voreilig gehandelt habe.

Voreilig! Nach Jahren, Jahren schwersten Missbrauchs!

Voreilig! Als wenn ein ehrlicher Mensch schlafen könnte und leben und geniessen, solange die, über deren Wohlergehen zu wachen er berufen ist, sie, die im höchsten Sinne seine ‚Nächsten‘ sind, vergewaltigt werden und ausgesogen!

Es ist wahr, ich bin hier erst kurze Zeit, doch ich hoffe, dass die Frage einmal sein wird: was man gethan hat, ob man es gut gethan hat, und nicht, ob man es in zu kurzer Zeit gethan hat. Für mich ist jede Spanne Zeit zu lang, die gekennzeichnet ist durch Erpressung und Unterdrückung, und schwer wiegt mir die Sekunde, die durch meine Nachlässigkeit, durch meine Pflichtversäumnis, durch meinen ‚Geist des ‚Schipperns‘‘ in Elend verbracht wäre.

Mich quälen die Tage, die ich verstreichen liess, ehe ich Ihnen offiziell Rapport erstattete, und ich bitte um Vergebung wegen dieses Versäumnisses.

Ich nehme mir die Freiheit, Sie zu ersuchen, dass Sie mir die Gelegenheit geben, mein Schreiben von gestern zu rechtfertigen und mich zu sichern vor dem Missglücken meiner Versuche, die Abteilung Lebak von dem Wurm zu befreien, der seit Menschengedenken an ihrem Wohlergehen nagt.

Hier liegt die Ursache, dass ich aufs neue so frei bin, Sie zu ersuchen, meine Handlungen diesangehend—die ja wahrlich ganz nach Vorschrift der Instruktion allein bestehen in Untersuchung, Rapport und Vorschlag—gütigst gutheissen zu wollen, den Regenten von Lebak, ohne voraufgehende direkte oder indirekte Warnung, [317]von hier zu entfernen, und darauf eine Untersuchung bezüglich dessen einzuleiten, was ich in meinem Schreiben von gestern, No. 88, mitteilte.

Der Assistent-Resident von Lebak,

Max Havelaar

Diese Bitte, die Schuldigen nicht in Schutz zu nehmen, empfing der Resident unterwegs. Eine Stunde nach seiner Ankunft stattete er dem Regenten einen kurzen Besuch ab und fragte bei dieser Gelegenheit: was er gegen den Assistent-Residenten vorbringen könne? und dann: ob er, der Adhipatti, Geld nötig habe? Auf die erste Frage antwortete der Regent: »Nichts, das kann ich beschwören!« Auf die zweite antwortete er zustimmend, worauf der Resident ihm ein paar Banknoten gab, die er—für den vorkommenden Fall mitgebracht!—aus seiner Westentasche zog. Man wird verstehen, dass dies gänzlich ohne Wissen Havelaars vor sich ging, und bald werden wir erfahren, wie diese schändliche Handlungsweise ihm bekannt wurde.

Als der Resident Slymering bei Havelaar abstieg, war er bleicher als gewöhnlich, und seine Worte standen weiter voneinander denn je. Es war denn auch keine geringe Sache für jemanden, der sich so auszeichnete durch ’Schippern’ und jährliche Ruheberichte, so plötzlich Briefe zu empfangen, worin sich weder eine Spur fand vom gebräuchlichen offiziellen Optimismus, noch von künstlicher Verdrehung der Sache, noch von einiger Furcht vor der Unzufriedenheit der Regierung über die »Belästigung« mit ungünstigen Berichten. Der Resident von Bantam war erschrocken, und wenn man mir das unedle Bild um seiner Korrektheit willen verzeihen will, habe ich Lust, ihn mit einem Gassenjungen zu vergleichen, der sich über Verletzung urgrossväterlicher Gewohnheiten beklagt, weil ein excentrischer Kamerad ihn ohne voraufgehende Schimpfworte geschlagen hat.

Er begann damit, den Kontrolleur zu fragen, warum er [318]nicht versucht habe, Havelaar von seiner Anklage zurückzuhalten. Der arme Verbrugge, dem die ganze Anklage unbekannt war, gab dies an, fand aber keinen Glauben. Der Herr Slymering konnte das Eine nicht begreifen, wie jemand ganz allein, auf eigene Verantwortung und ohne in die Länge gezogene Erwägungen oder ‚Rücksprachen‘ zu so unerhörter Pflichterfüllung hatte übergehen können. Da gleichwohl Verbrugge—vollkommen wahrheitsgemäss—dabei blieb, dass er keine Wissenschaft von den Briefen besitze, die Havelaar geschrieben hatte, so musste der Resident nach vielen Ausrufen voll ungläubiger Verwunderung endlich sich darein finden, und er ging—ich weiss nicht, warum—dazu über, diese Briefe zu verlesen.

Was Verbrugge beim Anhören derselben litt, ist schwer zu beschreiben. Er war ein ehrlicher Mann und würde sicher nicht gelogen haben, wenn Havelaar sich auf ihn berufen hätte, um die Wahrheit des Inhalts der Briefe festzustellen. Aber auch abgesehen von dieser Ehrlichkeit, er hatte in vielen schriftlichen Rapporten nicht immer vermeiden können, die Wahrheit zu sagen, auch hin und wieder da, wo sie gefährlich war. Was würde es geben, wenn Havelaar davon Gebrauch machte?

Nach dem Verlesen der Briefe erklärte der Resident, es würde ihm angenehm sein, wenn Havelaar diese Schriftstücke zurücknähme, um sie als nicht geschrieben betrachten zu können, was dieser mit höflicher Bestimmtheit von sich wies. Nachdem er vergebens versucht hatte, ihn hierzu zu bewegen, sagte der Resident, dass ihm dann nichts anderes übrig bliebe, als eine Untersuchung über die Begründetheit der erhobenen Klagen anzustellen, und dass er also Havelaar ersuchen müsste, die Zeugen aufrufen zu lassen, die seinen Beschuldigungen Halt geben könnten.

Ihr armen Leute, die ihr euch verwundet hattet an den Dornsträuchen in dem Ravijn, wie angstvoll würden eure Herzen geklopft haben, wenn ihr von diesem Verlangen hättet hören können! [319]

Armer Verbrugge, du, erster Zeuge, Hauptzeuge, Zeuge ex officio, Zeuge kraft Amtes und Eides! Zeuge, der du schon Zeugnis abgelegt hattest durch schriftlichen Bericht! Durch schriftlichen Bericht, der dalag, auf dem Tisch, unter Havelaars Hand ...

Havelaar antwortete:

»Resident, ich bin Assistent-Resident von Lebak, ich habe gelobt, die Bevölkerung zu schirmen gegen Erpressung und Gewaltthat, ich klage den Regenten an und seinen Schwiegersohn zu Parang-Kudjang, ich werde die Begründetheit meiner Anklage beweisen, sobald mir dazu die Gelegenheit gegeben wird, die ich in meinen Briefen erbat, ich bin schuldig der Verleumdung, wenn meine Beschuldigung falsch ist!«

Wie Verbrugge aufatmete!

Und wie sonderbar der Resident Havelaars Worte fand!

Die Unterhaltung dauerte lange. Mit Höflichkeit—denn höflich und wohlerzogen war der Herr Slymering—suchte er Havelaar zu bewegen, von so verkehrten Grundsätzen abzulassen. Doch mit ebenso grosser Höflichkeit blieb dieser unerschütterlich. Das Ende war, dass der Resident sich darin fügen musste, und als Bedrohung sagte, was für Havelaar ein Triumph war: dass er sich dann genötigt sähe, die fraglichen Briefe der Regierung zu unterbreiten.

Die Sitzung wurde aufgehoben. Der Resident besuchte den Adhipatti—wir sahen schon, was er da zu verrichten hatte!—und nahm darauf das Mittagmahl an dem dürftigen Tische der Havelaars ein. Gleich darauf kehrte er nach Serang zurück, mit grosser Eile: Weil. Er. So. Besonders. Drängend. Zu thun. Habe.

Am folgenden Tage empfing Havelaar vom Residenten von Bantam einen Brief, dessen Inhalt ersichtlich wird aus der Antwort, die ich hier abschreibe: [320]

»No. 93. Rangkas-Betung, den 28. Februar 1856.
Geheim.

Ich habe die Ehre gehabt, Ihre Eilmissive vom 26. dieses, La O, geheim, zu empfangen, in der Hauptsache Mitteilung enthaltend:

dass Sie Gründe hätten, nicht den Vorschlägen Gewähr zu geben, die ich in meinen Amtsschreiben vom 24. und 25. dieses, No. 88 und 91, machte;

dass Sie vorher vertrauliche Mitteilung gewünscht hätten;

dass Sie meine Handlungen, wie sie in den beiden Briefen umschrieben sind, nicht billigten;

und zum Schluss einige Befehle.

Ich habe nun die Ehre, wie es bereits in der vorgestrigen Konferenz mündlich geschah, nochmals und zum Überfluss zu versichern:

dass ich vollkommen die Legitimität Ihrer Autorität respektiere, wo es sich um die Wahl handelt, meinen Vorschlägen Gewähr zu geben oder nicht;

dass den empfangenen Befehlen mit Genauigkeit und nötigenfalls mit Selbstverleugnung nachgekommen werden wird, als wären Sie zugegen bei allem, was ich thue und sage, oder genauer: bei allem, was ich nicht thue und nicht sage.

Ich weiss, dass Sie auf meine Loyalität bezüglich dessen vertrauen.

Doch ich erlaube mir die Freiheit, auf das feierlichste zu protestieren gegen den geringsten Schein von Missbilligung bezüglich einer einzigen Handlung, eines einzigen Wortes, eines einzigen Satzes, von mir in dieser Angelegenheit verrichtet, gesprochen oder geschrieben.

Ich habe die Überzeugung, dass ich meine Pflicht gethan habe, sowohl was die Absicht, als auch was die Art der Ausführung angeht, vollkommen meine Pflicht, nichts als meine Pflicht ohne die mindeste Abweichung. [321]

Lange hatte ich nachgedacht, bevor ich handelte—das heisst: bevor ich »untersuchte, rapportierte und Vorschläge machte«—und wenn ich in etwas auch nur im geringsten gefehlt haben sollte ... aus Übereilung fehlte ich nicht.

In gleichen Umständen würde ich wiederum ... etwas schneller jedoch ... ganz, buchstäblich ganz dasselbe thun und lassen.

Und wäre es selbst, dass eine höhere Macht denn die Ihre etwas missbilligte von dem, was ich that—ausgenommen vielleicht die Eigenart meines Stils, die einen Teil meiner selbst ausmacht, ein Gebrechen, für das ich so wenig verantwortlich bin, wie ein Stotterer für das seine—wäre es das immerhin ... doch nein, dies kann es nicht sein, aber wäre es auch so: ich habe meine Pflicht gethan!

Gewiss thut es mir—gleichwohl ohne befremdet zu sein—leid, dass Sie hierüber anders urteilen—und was mich selbst angeht, ich würde mich sogleich dabei beruhigen, dass eine Verkennung meiner Person stattfand—doch es ist ein Prinzip in Frage, und ich habe Gewissensgründe, die es fordern, dass festgestellt werde, welche Meinung richtig ist, die Ihre oder die meine.

Anders dienen, als ich zu Lebak diente, kann ich nicht. Wünscht also das Gouvernement anders bedient zu werden, dann muss ich als ehrlicher Mann ehrerbietig darum ersuchen, dass man mich verabschiede. Dann muss ich in einem Alter von sechsunddreissig Jahren danach streben, aufs neue eine Laufbahn mir zu erkämpfen. Dann muss ich—nach siebenzehn Jahren, nach siebenzehn schweren, mühevollen Dienstjahren, nachdem ich meine besten Lebenskräfte dem zum Opfer gebracht habe, was ich für meine Pflicht hielt—aufs neue die Gesellschaft fragen, ob sie mir Brot geben will für Frau und Kind, Brot in Tausch für meine Gedanken, Brot vielleicht in Tausch für Arbeit mit Schubkarren oder Spaten, wenn der Kraft meines Arms mehr Wert zuerkannt wird als der Kraft meiner Seele. [322]

Doch ich kann und will nicht glauben, dass Ihre Meinung von Seiner Excellenz dem Generalgouverneur geteilt wird, und ich bin also verpflichtet, ehe ich übergehe zu dem Bittersten und Äussersten, das ich in dem vorhergehenden Absatz niederschrieb, Sie ehrerbietig zu ersuchen, dem Gouvernement vorzustellen:

es möge dem Residenten von Bantam Befehl geben, dass er annoch die Handlungen des Assistent-Residenten, wie sie in dessen Missives vom 24. und 25. dieses, No. 88 und 91, umschrieben sind, gutheisse.

Oder aber:

es möge genannten Assistent-Residenten zur Verantwortung aufrufen gegen die vom Residenten von Bantam zu formulierenden Punkte der Missbilligung.

Ich habe die Ehre, Ihnen zum Schluss die dankbare Versicherung zu geben, dass, wenn etwas mich abbringen könnte von meinen lang durchdachten und ruhig, doch ebenso mit Leidenschaft verfolgten Prinzipien in dieser Frage ... wahrlich, es würde dies nur der rücksichtsvollen, einnehmenden Weise gelungen sein, in der Sie in der Konferenz von ehegestern diese Prinzipien bekämpft haben.

Der Assistent-Resident von Lebak,

Max Havelaar.


Ohne ein Urteil auszusprechen über den guten Grund des Argwohns der Witwe Slotering, die Ursache betreffend, die ihre Kinder zu Waisen machte, und indem ich allein annehme, was beweisbar ist, dass nämlich in Lebak eine enge Beziehung besteht zwischen Pflichterfüllung und Gift—[323]mochte auch immer diese Beziehung nur in bestimmter Leute Meinung bestehen—so wird doch jeder einsehen, dass Max und Tine kummervolle Tage nach des Residenten Besuch zu durchleben hatten. Ich glaube, ich habe nicht nötig, die Angst einer Mutter zu schildern, die, wenn sie ihrem Kinde Nahrung reicht, sich stets die Frage vorlegen muss, ob sie vielleicht ihren Liebling ermorde? Ach, war er doch ein »abgebetetes Kind«, der kleine Max, der sieben Jahre nach der Verehelichung ausgeblieben war, als hätte der Schalk gewusst, dass es keinen Vorteil bedeute, als Sohn von solchen Eltern zur Welt zu kommen!


Neunundzwanzig lange Tage hatte Havelaar zu warten, ehe der Generalgouverneur ihm mitteilte ... doch wir sind so weit noch nicht.


Kurz nach des Residenten vergeblichen Versuchen, Havelaar zur Einziehung seiner Briefe zu bewegen, oder zum Verrat der armen Leute, die auf seine Grossmut vertraut hatten, trat Verbrugge einmal bei ihm ein. Der brave Mann war totenbleich und konnte nur mit Mühe sprechen.

—Ich bin beim Regenten gewesen, sagte er ... das ist infam ... doch verraten Sie mich nicht.

—Was? Was soll ich nicht verraten?

—Geben Sie mir Ihr Wort, keinen Gebrauch machen zu wollen von dem, was ich Ihnen jetzt sagen werde?

—Wieder Halbheit, sagte Havelaar. Doch ... gut! Ich gebe mein Wort.

Und darauf erzählte Verbrugge, was dem Leser bereits bekannt ist, dass nämlich der Resident an den Adhipatti die Frage gestellt hatte, ob er gegen Havelaar etwas vorzubringen wüsste, und dass er ihm gleichzeitig ganz unerwartet Geld angeboten und ihm auch gegeben hatte. Verbrugge wusste es von dem Regenten selbst, der ihn fragte, welche Gründe den Residenten hierzu veranlasst haben könnten. Havelaar war entrüstet, allein ... er hatte sein Wort gegeben.

Am folgenden Tage kam Verbrugge wieder und sagte, [324]dass Duclari ihm vorgehalten, wie unedel es war, Havelaar, der mit solchen Gegnern zu kämpfen hätte, so ganz allein zu lassen, worauf er nun komme, ihn von seinem gegebenen Wort zu entbinden.

—Gut, rief Havelaar, schreiben Sie das auf!

Verbrugge schrieb es auf. Auch diese Erklärung liegt vor mir.

Der Leser hat gewiss schon längst eingesehen, warum ich so leicht allen Ansprüchen auf juridische Echtheit der Geschichte Saïdjahs entsagen konnte.

Es war recht bemerkenswert, wie der furchtsame Verbrugge—vor Duclaris Mahnung—auf Havelaars Wort ohne weiteres baute, und doch in einer Sache, die zum Wortbruch so stark nötigte!

Und noch etwas. Es sind seit den Geschehnissen, die ich erzähle, Jahre dahingegangen. Havelaar hat in dieser Zeit schwer gelitten, er hat seine Familie leiden sehen—die Schriftstücke, die vor mir liegen, zeugen davon!—und es scheint, dass er auf etwas wartete ... nun, ich teile hier, nach dem Original von seiner Hand, folgende Aufzeichnung mit:

»Ich habe in den Zeitungen gelesen, dass der Herr Slymering zum Ritter des Niederländischen Löwen ernannt ist. Er scheint jetzt Resident von Djokjakarta zu sein. Ich würde also nun ohne Gefahr für Verbrugge auf die Lebakschen Angelegenheiten zurückkommen können.« [325]

Zwanzigstes Kapitel.

Es war Abend. Tine sass lesend in der Binnengalerie, und Havelaar zeichnete ein Stickmuster. Der kleine Max zauberte ein ‚Legebild‘ ineinander und wurde ganz erregt, dass er »den roten Leib von der Frau« nicht finden konnte.

—Wird es nun so gut sein, Tine? fragte Havelaar. Sieh, ich habe die Palme etwas grösser gemacht ... es ist nun die leibhaftige ‚line of beauty‘ von Hogarth, nicht wahr?

—Ja, Max! Aber die Schnürlöcher stehen zu dicht aneinander.

—So? Wie sind sie denn bei dem andern Besatz? Max, lass mich deine Hose mal sehen! Ei, hast du den Besatz dran? Ach, ich weiss noch, wo du das gestickt hast, Tine!

—Ich nicht. Wo denn?

—Es war im Haag, wie Max krank war und wir so erschreckt waren, weil der Doktor sagte, dass er einen so ungewöhnlich geformten Kopf hätte, und dass sehr viel Sorgfalt nötig wäre, um Andrang nach dem Gehirn zu verhüten. Gerade in den Tagen arbeitetest du an dieser Stickerei.

Tine stand auf und küsste den Kleinen.

—Ich hab’ ihren Bauch, ich hab’ ihren Bauch! rief das Kind fröhlich, und die rote Frau war komplett.

—Wer hört da einen Tontong schlagen? fragte die Mutter.

—Ich, sagte der kleine Max.

—Und was bedeutet das? [326]

—Schlafengehen! Aber ... ich hab’ noch nicht gegessen.

—Erst kriegst du zu essen, das versteht sich.

Und sie stand auf und gab ihm sein einfaches Mahl, das sie aus einem gut verschlossenen Behälter in ihrem Zimmer geholt zu haben schien, denn man hatte das Schnappen von vielen Schlössern gehört.

—Was giebst du ihm da? fragte Havelaar.

—O, sei ruhig, Max: es ist Zwieback aus einer Blechdose von Batavia! Und auch der Zucker ist immer unter Verschluss gewesen.

Havelaars Gedanken wendeten sich wieder dem Punkte zu, wo sie abgebrochen waren.

—Weisst du auch, dass wir dem Doktor von damals die Rechnung noch nicht bezahlt haben? O, das ist sehr hart!

—Lieber Max, wir leben hier so sparsam, bald werden wir alles abthun können! Überdies, du wirst gewiss bald Resident werden, und dann ist alles binnen kurzer Zeit geregelt.

—Das ist nun gerade eine Sache, die mir Kummer macht, sagte Havelaar. Ich würde so sehr ungern Lebak verlassen ... das will ich dir erklären. Meinst du nicht, dass wir nach seiner Krankheit noch mehr von unserm Max hielten? Nun, so werde ich auch das arme Lebak lieben nach der Genesung von dem Krebs, woran es seit so vielen Jahren leidet. Der Gedanke an Beförderung lässt mich erschrecken: man kann mich hier nicht entbehren, Tine! Und doch, andererseits, wenn ich wieder bedenke, dass wir Schulden haben ...

—Alles wird schon gut gehen, Max! Müsstest du jetzt auch fort von hier, dann kannst du Lebak später helfen, wenn du Generalgouverneur bist.

Da kamen wüste Streifen in Havelaars Stickmuster! Es war Zorn in dieser Blume, die Schnürlöcher wurden eckig, scharf, sie bissen einander ... [327]

Tine begriff, dass sie etwas Ungehöriges gesagt hatte.

—Lieber Max ... begann sie freundlich.

—Verflucht! Willst du die armen Teufel so lange hungern lassen? Kannst du leben von Sand?

—Lieber Max!

Doch er sprang auf. Es wurde nicht mehr gezeichnet den Abend. Er ging zornig auf und nieder in der Binnengalerie, und endlich sagte er in einem Tone, der jedem Fremden rauh und hart geklungen haben würde, doch von Tine ganz anders aufgenommen wurde:

—Verflucht, diese Lauheit, diese schändliche Lauheit! Da sitze ich nun schon einen Monat und warte auf Recht, und inzwischen muss das arme Volk furchtbar leiden. Der Regent scheint darauf zu rechnen, dass niemand etwas gegen ihn wagt! Sieh ...

Er ging in sein Bureau und kam zurück mit einem Brief in der Hand, einem Brief, der vor mir liegt, Leser!

—Sieh, in diesem Briefe untersteht er sich, mir mit Vorschlägen zu kommen über die Art von Arbeit, die er verrichten lassen will von den Menschen, die er ungesetzlich aufgerufen hat. Ist das nicht die Unverschämtheit zu weit getrieben? Und weisst du, was für Leute das sind? Es sind Frauen mit kleinen Kindern, mit Säuglingen, schwangere Frauen, die von Parang-Kudjang nach dem Hauptplatze getrieben sind, um für ihn zu arbeiten! Männer sind nicht mehr da! Und sie haben nichts zu essen, und sie schlafen am Wege, und sie essen Sand! Kannst du Sand essen? Sollen sie Sand essen, bis ich Generalgouverneur bin? Verflucht!

Tine wusste sehr gut, auf wen Max eigentlich böse war, wenn er so sprach mit ihr, die er so lieb hatte.

—Und, fuhr Havelaar fort, das fällt alles meiner Verantwortung zur Last! Wenn in diesem Augenblick da draussen welche von den armen Wesen umherirren ... wenn sie den Schein sehen von unsern Lampen, so werden sie sagen: »da wohnt der Elende, der uns beschützen sollte, da [328]sitzt er ruhig bei Frau und Kind und zeichnet Stickmuster, und wir liegen hier wie Buschhunde auf dem Wege, um zu verhungern mit Frau und Kindern!« Ja, ich hör’ es wohl, ich hör’ es wohl das Rufen nach Rache über mein Haupt! Komm her, Max, komm her!

Und er küsste sein Kind mit einer Wildheit, die es erschreckte.

—Mein Kind, wenn man dir sagen wird, dass ich ein Elender sei, der nicht den Mut hatte, Recht zu schaffen ... dass so viele Mütter gestorben seien durch meine Schuld ... wenn man dir sagen wird, dass das Zögern deines Vaters dir den Segen vom Haupt stahl ... o Max, o Max, zeuge du dann davon, was ich litt!

Und er brach in Thränen aus, die Tine abküsste. Sie brachte darauf den kleinen Max in sein Bettchen—eine Strohmatte—und als sie zurückkam, fand sie Havelaar im Gespräch mit Verbrugge und Duclari, die soeben eingetreten waren. Das Gespräch drehte sich um die erwartete Entscheidung von der Regierung.

—Ich begreife sehr gut, dass der Resident sich in einer schwierigen Situation befindet, sagte Duclari. Er kann dem Gouvernement nicht empfehlen, Ihren Vorstellungen Folge zu geben, denn dann würde zu viel an den Tag kommen. Ich bin schon lange im Bantamschen und weiss viel hiervon, mehr noch als Sie selbst, M’nheer Havelaar! Ich war schon als Unteroffizier in dieser Gegend, und dann erfährt man von Dingen, die der Inländer nicht so leicht den Beamten zu sagen wagt. Doch wenn nun nach einer öffentlichen Untersuchung das alles an den Tag kommt, wird der Generalgouverneur den Residenten zur Verantwortung rufen und von ihm Erklärung darüber fordern, wie es kommt, dass er in zwei Jahren nicht entdeckt hat, was Ihnen sofort ins Auge fiel. Er muss also natürlich einer derartigen Untersuchung zuvorzukommen suchen ...

—Das habe ich eingesehen, antwortete Havelaar, und, aufmerksam geworden durch seinen Versuch, den Adhipatti [329]zu bewegen, etwas gegen mich geltend zu machen—was ein Zeichen scheint, dass er versuchen möchte, die Frage zu verdrehen, indem er z. B. mich beschuldigt des ... was weiss ich, welchen Vergehens—ich habe mich also hiergegen gedeckt, indem ich Abschriften von meinen Briefen direkt an die Regierung sandte. In einem derselben ist das Ersuchen enthalten, man möge mich zur Verantwortung rufen, wenn vielleicht vorgegeben werden möchte, dass ich in etwas mich vergangen hätte. Wenn nun der Resident mich antastet, kann darauf nach herkömmlicher Billigkeit kein Beschluss erfolgen, ohne dass man mich zuvor hört. Das ist man selbst einem Verbrecher schuldig, und da ich nichts verbrochen habe ...

—Da kommt die Post! rief Verbrugge.

Ja, es war die Post! Die Post, die nachfolgenden Brief brachte, einen Brief des Generalgouverneurs von Niederländisch-Indien an den gewesenen Assistent-Residenten von Lebak, Havelaar:

»Kabinett. Buitenzorg, den 23. März 1856.

No. 54.

Die Art und Weise, wie von Ihnen bei der Entdeckung oder Vermutung von üblen Praktiken der Häupter in der Abteilung von Lebak zu Werke gegangen ist, und die Haltung, die Sie dabei gegenüber Ihrem Chef, dem Residenten von Bantam, annahmen, haben in hohem Masse meine Unzufriedenheit erregt.

In Ihren diesbezüglichen Handlungen werden ebensosehr massvolle Überlegung, Einsicht und Vorsicht vermisst, die so sehr erforderlich sind bei einem mit Ausübung der Autorität in den Binnenlanden bekleideten (sic) Beamten, als auch der rechte Begriff von Subordination unter Ihren unmittelbaren Vorgesetzten.

Bereits wenige Tage nach Ihrem Amtsantritt haben Sie beliebt, ohne voraufgehende Beratschlagung des (sic) [330]Residenten das Haupt der Inländischen Verwaltung in Lebak zur Zielscheibe ihm beschwerlicher Untersuchungen zu machen.

In diesen Untersuchungen haben Sie, ohne selbst Ihre Beschuldigungen gegen dieses Haupt durch Thatsachen, viel weniger noch durch Beweise zu stützen, Veranlassung gefunden, Vorschläge einzubringen, die darauf hinzielten, einen Inländischen Beamten von der Bedeutung eines Regenten von Lebak, einen sechzigjährigen, doch noch eifrigen Landesdiener, der benachbarten, angesehenen Regentengeschlechtern verschwägert ist und über den stets günstige Zeugnisse ausgefertigt wurden, einer ihn moralisch völlig vernichtenden Behandlung zu unterwerfen.

Darüber hinaus haben Sie, als der Resident sich nicht geneigt zeigte, Ihren Vorschlägen sogleich Folge zu geben, sich geweigert, dem billigen Verlangen Ihres Chefs zu entsprechen, unumwundene Erklärungen bezüglich dessen abzugeben, was Ihnen in Bezug auf die Handlungen der Inländischen Verwaltung bekannt war.

Solche Handlungen verdienen alle Missbilligung und lassen sehr leicht auf Untauglichkeit für die Bekleidung eines Amtes bei der Binnenländischen Verwaltung schliessen.

Ich habe mich verpflichtet gesehen, Sie der ferneren Erfüllung des Amtes eines Assistent-Residenten von Lebak zu entheben.

Gleichwohl habe ich in Ansehung früher empfangener günstiger Rapporte über Sie in dem Vorgefallenen keinen Grund finden wollen, Ihnen die Aussicht auf eine Wiederplacierung bei der Binnenländischen Verwaltung zu benehmen. Ich habe Sie daher vorläufig mit der Wahrnehmung des Amtes eines Assistent-Residenten von Ngawi betraut.

Es wird ganz von Ihren ferneren Handlungen in diesem Amte abhängen, ob Sie bei der Binnenländischen Verwaltung werden angestellt bleiben können.«

[331]

Und darunter stand der Name des Mannes, auf dessen »Eifer, Tüchtigkeit und gute Treue« der König sich verlassen zu können vorgab, als er desselben Ernennung zum Generalgouverneur von Niederländisch-Indien unterzeichnete.


—Wir gehen von hier fort, beste Tine, sagte Havelaar gelassen, und er reichte den Kabinettsbrief Verbrugge, der das Schriftstück mit Duclari las.

Verbrugge hatte Thränen in den Augen, sprach aber nicht. Duclari, ein sehr gebildeter Mensch, brach in einen wilden Fluch aus:

—Gottverdammt! ich habe hier in der Verwaltung Schelme und Diebe gesehen ... sie sind in Ehren von hier gegangen, und man schreibt Ihnen solch einen Brief!

—Es besagt nichts, sagte Havelaar, der Generalgouverneur ist ein ehrlicher Mann: er muss betrogen sein ... wenngleich er sich auch vor diesem Betruge hätte sichern können, indem er mich erst hörte. Er ist verstrickt in das Gewebe der buitenzorgschen Amtswirtschaft. Wir kennen das! Doch ich werde zu ihm gehen und ihm zeigen, wie hier die Sachen stehen. Er wird Recht schaffen, davon bin ich überzeugt!

—Aber wenn Sie nach Ngawi gehen ...

—Jawohl, ich weiss das! In Ngawi ist der Regent dem Djokjaschen Hof verwandt. Ich kenne Ngawi, denn ich war zwei Jahre lang in den Baglen, was in der Nähe ist. Ich würde in Ngawi dasselbe thun müssen, was ich hier gethan habe: das würde unnützes Hin- und Wiederreisen sein. Überdies, es ist mir unmöglich, Dienst auf Probe zu thun, als ob ich mich schlecht betragen hätte! Und endlich, ich sehe ein, dass ich, um all der Jämmerlichkeit ein Ende zu machen, kein Beamter sein darf. Als Beamter stehen zwischen der Regierung und mir zuviel Personen, die ein Interesse daran haben, das Elend der Bevölkerung zu leugnen. Es sind noch mehr Gründe, die mich hindern, nach Ngawi zu gehen. [332]Dieser Posten war nicht vakant ... sehen Sie mal her, er ist für mich freigemacht!

Und er zeigte in der »Javasche Courant«, die mit derselben Post angekommen war, dass in der That mit demselben Beschluss, durch den ihm die Verwaltung von Ngawi übertragen wurde, der Assistent-Resident dieser Provinz nach einer anderen Abteilung versetzt wurde, die vakant war.

—Wissen Sie, warum ich gerade nach Ngawi muss, und nicht nach dieser vakanten Abteilung? Das will ich Ihnen sagen! Der Resident von Madiūn, wozu Ngawi gehört, ist der Schwager des vorigen Residenten von Bantam. Ich habe gesagt, dass der Regent früher solche schlechten Vorbilder gehabt hätte ...

—Ah! riefen Verbrugge und Duclari zugleich. Sie kapierten, warum Havelaar gerade nach Ngawi versetzt wurde, um auf die Probe zu dienen, ob er sich vielleicht bessern würde!

—Und wegen noch eines Grundes kann ich nicht dorthin gehen, sagte er. Der gegenwärtige Generalgouverneur wird in allernächster Zeit abtreten ... seinen Nachfolger kenne ich und ich weiss, dass von ihm nichts zu erwarten ist. Um also noch zeitig etwas für das arme Volk zu erreichen, muss ich den gegenwärtigen Generalgouverneur noch vor seinem Verzuge sprechen, und wenn ich jetzt nach Ngawi ginge, so würde das unmöglich sein. Tine, höre mal!

—Lieber Max?

—Du hast Mut, nicht wahr?

—Max, du weisst, dass ich Mut habe ... wenn ich bei dir bin!

—Also!

Er stand auf, und er schrieb das folgende Request, meines Erachtens ein Muster von Wohlberedtheit:

»Rangkas-Betung, den 29. März 1856.

An den Generalgouverneur von Niederländisch-Indien.

Ich hatte die Ehre, Eurer Excellenz Kabinettsmissive vom 23. ds., No. 54, zu empfangen. [333]

Ich sehe mich genötigt, in Beantwortung dieses Schreibens Euer Excellenz zu ersuchen, mir einen ehrenvollen Abschied aus des Landes Diensten zu verleihen.

Max Havelaar.«

Es war zu Buitenzorg für die Gewährung des geforderten Abschieds nicht so lange Zeit nötig, als sie sich erforderlich erwies für die Entscheidung, wie man Havelaars Anklage abwenden konnte. Dieses hatte doch einen Monat erfordert, und der verlangte Abschied kam binnen weniger Tage in Lebak an.

—Gott sei Dank, dass du endlich du selbst sein kannst! rief Tine.

Havelaar erhielt keinen Befehl, die Verwaltung seiner Abteilung vorläufig Verbrugge zu übergeben, und meinte also, seinen Nachfolger abwarten zu müssen. Dieser blieb lange aus, weil er aus einem ganz anderen Winkel von Java kommen musste. Nach beinahe drei Wochen Wartens schrieb der gewesene Assistent-Resident von Lebak, der jedoch noch immer als solcher aufgetreten war, den folgenden Brief an den Kontrolleur Verbrugge:

»No. 153. Rangkas-Betung, den 15. April 1856.

An den Kontrolleur von Lebak.

Es ist Ihnen bewusst, dass ich durch Gouvernementsbeschluss vom 4. dieses, No. 4, auf mein Ersuchen ehrenvoll aus Landesdiensten verabschiedet bin.

Vielleicht wäre ich im Recht gewesen, wenn ich nach dem Empfang dieser Bestimmung meine Geschäfte als Assistent-Resident sofort niedergelegt hätte, da es eine Anomalie scheint, eine Funktion zu erfüllen, ohne Beamter zu sein.

Ich empfing gleichwohl keinen Befehl, meine Geschäfte zu übergeben, und zum Teil im Bewusstsein der Verpflichtung, meinen Posten nicht zu verlassen, ohne gehörig abgelöst zu sein, zum Teil aus Ursachen untergeordneter [334]Bedeutung wartete ich die Ankunft meines Nachfolgers ab, in der Meinung, dass dieser Beamte bald—wenigstens diesen Monat noch—eintreffen würde.

Jetzt vernehme ich von Ihnen, dass mein Nachfolger noch nicht so bald erwartet werden kann—Sie haben, meine ich, hiervon in Serang Kenntnis erhalten—und zugleich, dass es den Residenten verwundere, dass ich bei der sehr ungewöhnlichen Position, in der ich mich befinde, noch nicht darum ersucht habe, die Verwaltung Ihnen übertragen zu dürfen.

Nichts konnte mir angenehmer sein als dieser Bericht. Denn ich brauche Ihnen nicht zu versichern, dass ich, der ich erklärt habe, nicht anders dienen zu können, als ich es hier that—ich, der ich für diese Art zu dienen mit hartem Tadel bestraft bin, mit einer für mich nachteiligen und schimpflichen Versetzung ... mit dem Befehl, die armen Leute zu verraten, die auf meine Ritterlichkeit vertrauten—mit der Wahl also zwischen Unehre und Brotmangel!—dass ich nach dem allen mit Mühe und Sorge jeden vorkommenden Fall an meiner Pflicht zu prüfen hatte, und dass die einfachste Sache mir schwer fiel, der ich mich geschoben sah zwischen mein Gewissen und die Prinzipien des Gouvernements, dem ich Treue schuldig bin, solange ich nicht meines Amtes enthoben bin.

Diese Schwierigkeit offenbarte sich vor allem, wenn ich Klägern Antwort zu geben hatte.

Einstens doch hatte ich gelobt, dass ich niemanden der Rancune seiner Häupter überliefern würde! Einmal hatte ich—unvorsichtig genug!—mein Wort verpfändet für die Gerechtigkeit des Gouvernements.

Die arme Bevölkerung konnte nicht wissen, dass dieses Versprechen und diese Bürgschaft desavouiert waren, und dass ich arm und ohnmächtig allein stand mit meiner heissen Liebe für Recht und Menschlichkeit.

Und man fuhr mit Klagen fort!

Es war bitter schmerzlich, nach dem Empfang der Kabinettsmissive [335]dazusitzen als vermeintliche Zuflucht, als machtloser Beschützer.

Es war herzzerreissend, die Klagen über Misshandlung, Aussaugung, Armut, Hunger anzuhören ... derweil ich selbst nun mit Frau und Kind Hunger und Armut entgegengehe.

Und auch das Gouvernement konnte ich nicht verraten. Ich konnte nicht sagen zu den armen Leuten: »gehet hin und leidet, denn die Verwaltung will, dass ihr geschunden werdet!« Ich durfte meine Ohnmacht nicht zu erkennen geben, da sie eins war mit der Schande und mit der Gewissenlosigkeit der Ratgeber des Generalgouverneurs.

Hören Sie, was ich den Leuten antwortete:

»Zur Stunde kann ich euch nicht helfen! Doch ich werde nach Batavia gehen; ich werde mit dem Grossen Herrn sprechen über euer Elend. Er ist gerecht und er wird euch beistehen. Gehet vorläufig ruhig nach Haus ... widersetzt euch nicht ... geht noch nicht ausser Landes ... wartet geduldig: ich denke, ich ... hoffe, dass Recht geschehen wird!«

So meinte ich, beschämt darüber, dass meine Hülfezusage zunichte gemacht wurde, meine Pflichtbegriffe in Übereinstimmung zu bringen mit meiner Pflicht gegenüber der Verwaltung, die mich noch diesen Monat bezahlt, und ich würde also bis zur Ankunft meines Nachfolgers ausgeharrt haben, wenn nicht ein besonderer Vorfall mich heute in die Notwendigkeit gebracht hätte, diesem doppelsinnigen Verhältnis ein Ende zu machen.

Sieben Personen hatten geklagt. Ich gab ihnen obenstehende Antwort. Sie kehrten an ihren Wohnort zurück. Unterwegs begegnet ihnen der Häuptling ihres Dorfes. Er muss ihnen verboten haben, ihren Kampong wieder zu verlassen, und nahm ihnen—wie man mir rapportiert—ihre Kleider ab, um sie zu zwingen, zu Hause zu bleiben. Einer von ihnen entkommt, verfügt sich wieder zu mir [336]und erklärt: dass er nicht wieder nach seinem Dorfe zurückzukehren wage.

Was ich nun diesem Mann antworten soll, weiss ich nicht!

Ich kann ihm keinen Schutz mehr geben ... ich darf ihm meine Ohnmacht nicht gestehen ... ich will den angeklagten Dorfhäuptling nicht verfolgen, da das den Schein aufkommen lassen würde, als wenn diese Sache durch mich pour le besoin de ma cause aufgegriffen wäre: ich weiss nicht mehr, was thun ...

Ich belege Sie, in Erwartung näherer Zustimmung des Residenten von Bantam, von morgen früh ab mit der Wahrnehmung der Verwaltung der Abteilung Lebak.

Der Assistent-Resident von Lebak,

Max Havelaar

Darauf verzog Havelaar mit Frau und Kind von Rangkas-Betung. Er wies alles Geleit zurück. Duclari und Verbrugge waren tief gerührt beim Abschied. Auch Max ging es nahe, vor allem, als er am Ort des ersten Pferdewechsels eine zahlreiche Menge antraf, die aus Rangkas-Betung fortgeschlichen war, um ihn dort zum letztenmal zu begrüssen.

In Serang stieg die Familie bei dem Herrn Slymering ab, der sie mit der gewohnten indischen Gastfreiheit empfing.

Abends kam viel Besuch zum Residenten. Man sagte so bedeutungsvoll, wie es erlaubt war, man sei gekommen, um Havelaar zu begrüssen, und Max empfing manchen beredten Händedruck ...

Doch er musste nach Batavia, um den Generalgouverneur zu sprechen ...

Dort angekommen, liess er um Gehör ersuchen. Dieses wurde ihm verweigert, weil Seine Excellenz ein Geschwür am Fusse hätte.

Havelaar wartete, bis das Geschwür geheilt war. Dann liess er ein anderes Mal darum ersuchen, gehört zu werden. [337]

Seine Excellenz »sei so mit Arbeit überhäuft, dass sie selbst dem Generaldirektor der Finanzen eine Audienz hätte abschlagen müssen«, und könne also auch Havelaar nicht empfangen.

Havelaar wartete, bis Seine Excellenz sich durch diese Überhäufung hindurchgearbeitet haben würde. Inzwischen fühlte er etwas wie Neid auf die Personen, die Seiner Excellenz in der Arbeit beigegeben waren. Denn er arbeitete gern schnell und viel, und gewöhnlich schmolzen solche ‚Überhäufungen‘ ihm unter den Fingern weg. Aber hiervon war nun natürlich keine Rede. Havelaars Arbeit war schwerer als Arbeit: er wartete!

Er wartete. Endlich liess er aufs neue ersuchen, gehört zu werden. Man gab ihm zur Antwort, »dass Seine Excellenz ihn nicht empfangen könne, weil sie daran gehindert werde durch die mit dem bevorstehenden Verzuge in Zusammenhang stehende Arbeitsüberhäufung«.

Max empfahl sich der Geneigtheit Seiner Excellenz, ihm eine halbe Stunde Gehör zu schenken, sobald ein kleiner Zwischenraum sein sollte zwischen zwei ‚Überhäufungen‘.

Endlich vernahm er, dass Seine Excellenz am folgenden Tage verziehen werde! Das war ihm ein Donnerschlag. Noch immer hielt er krampfhaft an dem Glauben fest, dass der abtretende Landvogt ein ehrlicher Mann und ... betrogen sei. Eine Viertelstunde wäre genügend gewesen, um die Gerechtigkeit seiner Sache zu beweisen, und diese Viertelstunde schien man ihm nicht geben zu wollen.

Ich finde unter Havelaars Papieren den Entwurf eines Briefes, den er an den abtretenden Generalgouverneur am letzten Abend vor dessen Verzug ins Mutterland geschrieben zu haben scheint. Am Rande steht mit Bleistift angezeichnet: »nicht genau«, woraus ich entnehme, dass einzelne Sätze beim Abschreiben verändert sind. Ich bemerke dies, um nicht aus dem Mangel buchstäblicher Übereinstimmung bei diesem Schriftstück Zweifel entstehen zu lassen [338]an der Echtheit der anderen offiziellen Schriftstücke, die ich mitteilte, und die alle durch eine fremde Hand als »gleichlautende Abschrift« gezeichnet sind. Vielleicht hat der Mann, an den dieser Brief gerichtet war, Lust, den vollkommen genauen Text zu veröffentlichen. Man würde durch Vergleichung sehen können, wie weit Havelaar von seinem Entwurf abgewichen ist. Sachlich korrekt war der Inhalt also:

»Batavia, 23. Mai 1856.

Excellenz! Mein durch Missive vom 28. Februar von Amts wegen gestelltes Ersuchen, in Ansehen der Lebakschen Sachen gehört zu werden, ist ohne Erfolg geblieben.

Ebenso haben Euer Excellenz nicht beliebt, meinem wiederholten Ersuchen um Audienz Folge zu geben.

Euer Excellenz haben also einen Beamten, dessen »Dienste günstig bei dem Gouvernement aufgenommen sind«—das sind Eurer Excellenz eigene Worte!—jemanden, der siebenzehn Jahre dem Lande in diesen Breiten diente, jemanden, der nicht allein nichts verbrach, sondern gar mit ungewöhnlicher Selbstverleugnung das Gute verfolgte und für Ehre und Pflicht alles feil hatte ... so jemanden haben Euer Excellenz noch unter den Verbrecher gestellt. Denn den hört man zum mindesten.

Dass man Euer Excellenz betreffs meiner irregeführt hat, begreife ich. Doch dass Euer Excellenz nicht die Gelegenheit angenommen haben, dieser Irreführung zu entgehen, begreife ich nicht.

Morgen gehen Euer Excellenz von hier, und ich mag selbe nicht verziehen lassen, ohne noch einmal gesagt zu haben, dass ich meine Pflicht gethan habe, ganz und gar meine Pflicht, mit Einsicht, mit Bescheidenheit, mit Menschlichkeit, mit Milde und mit Mut.

Die Gründe, die die Missbilligung in Eurer Excellenz Kabinettsmissive vom 23. März zur Basis hat, sind durchweg erdichtet und lügenhaft. [339]

Ich kann dieses beweisen, und es wäre bereits geschehen, wenn Euer Excellenz mir eine halbe Stunde Gehör hätten schenken wollen. Wenn Euer Excellenz eine halbe Stunde Zeit hätten finden können, um recht zu thun!

Dies ist nicht so gewesen! Eine ehrenwerte Familie ist dadurch an den Bettelstab gebracht ...

Gleichwohl, hierüber klage ich nicht.

Doch Euer Excellenz haben sanktioniert: Das System von Gewaltmissbrauch, von Raub und Mord, unter dem der arme Javane gebeugt geht ... und darüber klage ich.

Das schreit zum Himmel!

Es klebt Blut an den angesammelten Geldern Ihres also empfangenen indischen Soldes, Excellenz!

Noch einmal bitte ich um einen Augenblick Gehör, sei es diese Nacht, sei es morgen früh! Und wiederum fordere ich dieses nicht für mich, sondern um der Sache willen, die ich vertrete, der Sache der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, die gleichzeitig die Sache wohlerfasster Politik ist.

So Euer Excellenz es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, von hier zu verziehen, ohne mich zu hören: das meinige wird beruhigt sein bei der Überzeugung, alle Möglichkeiten angewendet zu haben, um den traurigen, blutigen Geschehnissen vorzubeugen, die alsbald die Folge sein werden der selbstgewollten Unkunde, in der die Regierung hinsichtlich dessen gelassen wird, was in der Bevölkerung umgeht.

Max Havelaar.«

Havelaar wartete diesen Abend. Er wartete die ganze Nacht.

Er hatte gehofft, dass vielleicht Zorn über den Ton seines Briefes bewirken werde, was er durch Sanftmut und Geduld vergebens zu erreichen trachtete. Seine Hoffnung [340]war eitel! Der Generalgouverneur ging fort, ohne Havelaar gehört zu haben. Es hatte sich wieder eine Excellenz zur Ruhe begeben ins Mutterland!


Havelaar irrte arm und verlassen in die Runde. Er suchte ...

Genug, mein guter Stern! Ich, Multatuli, nehme die Feder auf. Du bist nicht gerufen, Havelaars Lebensgeschichte zu schreiben. Ich habe dich ins Leben gerufen ... ich liess dich kommen von Hamburg ... ich lehrte dich leidlich gut Holländisch schreiben in sehr kurzer Zeit ... ich liess dich Luise Rosemeyer küssen, die in Zucker macht ... es ist genug, Stern, du kannst gehen.


Der Shawlmann und seine Frau ...

Halt erst, elendes Produkt stinkender Geldgier und gotteslästerlicher Frömmelei! Ich habe dich geschaffen ... du bist angewachsen zum Ungeheuer unter meiner Feder ... mich erfasst Ekel vor meinem eigenen Machwerk: ersticke in Kaffee und verschwinde!


Ja, ich, Multatuli, »der ich viel getragen habe«, ich nehme die Feder auf. Ich winsele nicht um Schonung wegen der Form meines Buches. Diese Form schien mir geeignet zur Erreichung meines Zieles.

Dieses Ziel ist zweiteilig:

Ich wollte an erster Stelle einer Sache Ansehen geben, dass sie als heiliges Erbstück bewahrt werden könne von dem kleinen Max und seinem Schwesterchen, wenn ihre Eltern in Elend werden umgekommen sein.

Ich wollte den Kindern einen Adelsbrief geben von meiner Hand.

Und an zweiter Stelle: ich will gelesen werden! [341]

Ja, ich will gelesen werden! Ich will gelesen werden von Staatsmännern, die verpflichtet sind, zu achten auf die Zeichen der Zeit ... von Litteraten, die doch auch einmal Einsicht in das Buch nehmen müssen, von dem man soviel Böses spricht ... von Männern des Handels, die an den Kaffeeauktionen interessiert sind ... von Kammerzofen, die mich für wenige Cents leihen ... von Generalgouverneurs im Ruhestande ... von Ministern in Dienst ... von den Lakaien dieser Excellenzen ... von frommen Pastoren, die more majorum sagen werden, dass ich den Allmächtigen Gott antaste, wo ich mich nur widersetze gegen das Göttlein, das sie machten nach ihrem Bilde ... von Tausenden und Zehntausenden von Exemplaren aus der Droogstoppelrasse, die—indem sie ihr Geschäftchen in der bekannten Art wahrzunehmen fortfahren—am lautesten mitschreien werden über die Schönheit meines Geschreibs ... von den Mitgliedern der Volksvertretung, die wissen müssen, was da umgeht in dem grossen Reiche über See, das zum Reiche von Niederland gehört ...

Ja, ich werde gelesen werden!

Wenn dieses Ziel erreicht wird, bin ich zufrieden. Denn es war mir nicht darum zu thun, dass ich gut schriebe ... ich wollte so schreiben, dass es gehört würde. Und geradeso, wie einer, der ruft »Halt’ den Dieb!«, sich wenig um den Stil seines improvisierten Zurufs an das Publikum kümmert, ebenso gleichgültig ist es auch mir, wie man die Art und Weise beurteilen wird, wie ich mein »Halt’ den Dieb!« hinausschrie.

»Das Buch ist bunt ... es ist kein Ebenmass darin ... Jagd nach Effekt ... der Stil ist schlecht ... Der Autor ist ungeschickt ... kein Talent ... keine Methode ...

Gut, gut, alles gut! Aber: Der Javane wird misshandelt!

Denn: Widerlegung des Hauptmomentes in meinem Werke ist unmöglich!

Je lauter übrigens die Missbilligung meines Buches, [342]desto lieber wird sie mir sein, denn desto grösser wird die Aussicht, dass ich gehört werde. Und das will ich!

Doch ihr, die ich euch störe in euren ‚Arbeitsüberhäufungen‘ oder in eurem ‚Ruhestande‘, ihr Minister und Generalgouverneurs, rechnet nicht zu sehr auf die geringe Geschicklichkeit meiner Feder. Sie könnte sich üben und mit einiger Anstrengung vielleicht zu einer Fähigkeit gelangen, dass zuletzt die Wahrheit selbst vom Volke geglaubt würde! Dann würde ich vom Volke einen Platz verlangen im Repräsentantenhause, wäre es auch nur, um zu protestieren gegen die Certifikate der Rechtschaffenheit, die sich Indische Spezialitäten vice versa aushändigen, vielleicht, um auf die sonderbare Idee zu bringen, dass man selbst Wert lege auf diese Beschaffenheit ...

... um zu protestieren gegen die endlosen Expeditionen und Heldenthaten gegen arme, elende Geschöpfe, die man vorher durch Misshandlung zum Aufstande zwang.

... um zu protestieren gegen die schändliche Niedertracht, indem man durch Zirkulare, die die Ehre der Nation beschmutzen, die öffentliche Mildthätigkeit für die Schlachtopfer chronischen Seeraubes anruft.

Es ist wahr, diese Aufständischen waren ausgehungerte Skelette, und diese Seeräuber sind wehrhafte Männer!

Und wenn man mir diesen Platz einzunehmen weigerte ... wenn man mir fort und fort nicht glaubte ...

Dann will ich mein Buch übersetzen in die wenigen Sprachen, die ich kenne, und in die vielen Sprachen, die ich lernen kann, um von Europa zu fordern, was ich fruchtlos in Niederland gesucht.

Und in allen Hauptstädten wird das Volk Lieder singen mit dem Refrain:

Es liegt ein Raubstaat an der See,

Zwischen Ostfriesland und der Schelde!

Und wenn auch das nichts fruchtete?

Dann werde ich mein Buch übersetzen ins Malayische, Javanische, Sundaische, Alfurische, Buginesische, Battaksche ... [343]

Und ich werde klewang-wetzende Kriegsgesänge schleudern in die Gemüter der armen Dulder, denen ich Hülfe gelobt habe, ich, Multatuli!

Rettung und Hülfe—auf gesetzlichem Wege, wenn es sein kann ... auf dem rechtmässigen Wege der Gewalt, wenn es sein muss.

Und das würde sehr nachteilig wirken auf die Kaffeeauktionen der Niederländischen Handelsgesellschaft!

Denn ich bin kein fliegenrettender Dichter, kein sanftmütiger Träumer wie der getretene Havelaar, der seine Pflicht that mit dem Mut eines Löwen und Hunger leidet mit der Geduld eines Murmeltieres im Winter.

Dieses Buch ist eine Einleitung ...

Ich werde wachsen an Kraft und Schärfe meiner Waffen, je nachdem es nötig sein wird ...

Gott gebe, dass es nicht nötig sein werde!

Nein, es wird nicht nötig sein! Denn Dir widme ich mein Buch, Wilhelm der Dritte, König, Grossherzog, Prinz ... mehr als Prinz, Grossherzog und König: Kaiser des prächtigen Reiches INSULINDE, das sich da schlingt um den Aequator wie ein Gürtel von Smaragd ...

Dich wage ich mit Vertrauen zu fragen, ob es Dein kaiserlicher Wille ist:

Dass die Havelaars mit Kot bespritzt werden von den Slymerings und Droogstoppels?

Und dass da drüben Deine mehr als dreissig Millionen Unterthanen misshandelt und ausgesogen werden in Deinem Namen?

[344]

Erläuterungen zu Indiismen.

V. Kapitel.

Seite

49 Radhen Adhipatti Karta Natta Negara: die drei letzten Worte bilden den Namen, die beiden ersten drücken den Titel aus. Nach den vielerlei Titeln von mehr oder minder scheinbar-unabhängigen Fürsten ist der eines Pangérang der höchste. Er könnte etwa „Prinz“ bedeuten, da dieser Rang der Verwandtschaft mit einem der regierenden Häuser von Solo (Surakarta) und Djokja (Djokjakarta) entlehnt ist. Der nächstfolgende Titel ist der eines Adhipatti, oder vollständig: Radhen Adhipatti. Radhen allein deutet einen Rang tieferer Ordnung an, der jedoch noch ziemlich hoch über dem Gemeinen steht. Etwas niedriger als die Adhipattis stehen die Tommongongs. Der Adel spielt in dem Niederländisch-Javanischen Haushalt eine grosse Rolle.

58 sawahs, gagahs, tipars: Reisfelder, unterschieden nach der Lage und nach der Art der Bearbeitung, vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit oder Nichtmöglichkeit der Bewässerung.

58 padie: Reis in der Hülse.

58 dessah: Dorf. Anderswo: negrie. Auch: kampong. Der inländische Ursprung der beiden letzteren Wörter steht nicht ausser allem Zweifel.

61 alūn-alūn: ein grosser Platz vor der Gruppe von Gebäuden, die die Wohnung eines Regenten bilden. Gewöhnlich stehen auf solchem Platz zwei stattliche waringi-Bäume, aus deren Alter sich erweist, dass nicht sie auf den alūn-alūn gepflanzt sind, sondern dass die Regentenwohnung in ihrer Nähe, und wahrscheinlich gerade wegen ihrer Nähe an dieser Stelle errichtet worden ist.

62 mantrie: ein inländischer Beamter, dessen Stellung ungefähr als die eines „Aufsehers“ bezeichnet werden kann. [345]

VI. Kapitel.

66 sarong: das auf Java allgemein getragene Gewand. Siehe genaueres über die Indische Kleidung unter sarong in den Erläuterungen zu Kap. XVII.

66 sirie, pinang, gambier: die Bestandteile, die zusammen mit Tabak und Kalk den für den Javanen unentbehrlichen Betel-Kautabak bilden. Auch die Frauen sind fast ohne Ausnahme dem Betelgenuss ergeben. Der braune Saft des Tabaks, noch etwas mehr rot gefärbt durch die gambier, färbt aller Lippen und Zähne. Schön steht dies gerade nicht, doch für sehr mundsäubernd wird das Betelkauen gehalten. Der Genuss von sirie mit seinen Zuthaten ist so verbreitet, dass der europäische Begriff „Trinkgeld“ durch das Wort wang sirih, d. h. Siriegeld, ausgedrückt wird.—Die sirie ist das Blatt eines Rankengewächses, das nicht viel stärker ist als unsere Erbse und dem Pfefferbaum so ähnlich ist, dass der Uneingeweihte diese beiden Gewächse schwer unterscheidet. Es ist verwunderlich, dass man die sirie so wenig in der Zahnheilkunde anwendet, da sie doch eine säubernde, zusammenziehende Wirkung übt und der Geschmack nicht unangenehm ist. Die gambier hat, wie es scheint, eine Bedeutung erlangt in der Arzneibereitungslehre, von der pinang oder areka weiss ich nichts Sicheres hieraufbezüglich anzugeben. Die pinang oder areka ist eine Nuss, ähnlich einer Muskatnuss. Doch der Baum, auf dem sie wächst, ist eine Palmenart.

66 slamat: Gruss, und in diesem Fall das sehr eigenartige Kompliment—Zusammenfaltung—das in dem Text beschrieben wird. Frage: besteht ein Zusammenhang zwischen dem malayischen slamat, selamat und dem Wörtchen Sela, das so oft in den Psalmen vorkommt? Man weiss, dass nach den Riten des Orients gottesdienstliche Übungen bestehen aus Gebeten und Gesängen, mehrfach unterbrochen durch vielerlei Geberden und Komplimente im ursprünglichen Sinne des thatsächlichen Zusammenklappens, des Sich-Zusammenfaltens. So etwas geschah vielleicht auch beim Vortragen der Psalmen, und diese Vermutung wird verstärkt durch die Beachtung der vermutlich näheren Bedeutung des Wortes slamat oder selamat. In Zusammenhang gebracht mit Slam oder Islam—durch Buchstabenversetzung verwandt mit mosl, muzl = Muselmann—würde vielleicht als ursprünglicher Sinn sich herausstellen: der feierliche, ceremonielle oder rituelle Gruss, und das würde vollkommen der Bedeutung entsprechen, die das Wort Sela in den Psalmen füglich gehabt haben kann. Doch will ich einer anderen Belehrung gern zugänglich sein. [346]

68 kidang: eine Art Hirsch mittlerer Grösse. Viel kleiner, nicht grösser wie ein mittelmässiger Hund, sind die kandjiels, Hirschchen, die sich durch ausserordentliche Behendigkeit und durch Lieblichkeit auszeichnen. Man behauptet, dass sie im Zustande der Gefangenschaft nicht am Leben erhalten werden können. Der kidang jedoch scheint, ebenso wie die meisten Arten unserer Hirsche, sich leicht anzupassen.

71 tudung: die in Form einer grossen, runden Schüssel geflochtene Kopfbedeckung der Javanen; der Tudung schützt sowohl vor Sonne wie vor Regen, vor dem der Inländer eine lächerliche Furcht hat. Man hat in Europa schon Gartenhüte gehabt, die den Tudungs ähnlich sind.

76 Melattiblume: die melatti ist ein kleines weisses Blümchen mit starkem Jasmingeruch; es spielt, wie bei uns die Rose, eine grosse Rolle in Balladen, Sagen und Legenden.

76 kondeh: das auf dem Hinterhaupt zu einem Wulst vereinigte Haar, das jedoch niemals durch ein besonderes Band zusammengehalten wird, sondern stets durch eine Schlinge vom Haar selbst seinen Halt gewinnt. Der Kondeh ist auch niemals ‚chignon‘, sondern stets echtes Haar.

VII. Kapitel.

84 pajong: Sonnenschirm. Goldener Pajong: die Farbe des Sonnenschirms deutet nach Landesweise, dabei nach offiziell festgelegten Bestimmungen, den Rang des Häuptlings an, dem ein solcher Pajong nachgetragen wird. Durchweg vergoldet deutet er den höchsten Rang an.

85 tandu: Tragstuhl. In anderen Provinzen auch jolek, djuli und ähnlich.

90 Patteh, Kliwon, Djaksa: Inländische Häuptlinge. Der Patteh steht dem Regenten zur Seite als Sekretär, Botschafter, Faktotum. Der Kliwon ist die Mittelsperson zwischen der Verwaltung und den Dorfhäuptern; gewöhnlich hat er die Aufsicht über die Öffentlichen Arbeiten der Gemeinde, Verteilung der Wachtmannschaften, Regelung des Herrendienstes u. s. w. Der Djaksa ist Polizei- und Justizoffizier.

90 mantrie: Inländischer Beamter, etwa: Aufseher.

91 gong und gamlang: Musikinstrumente. Der gong ist ein schweres metallenes Becken, das an einem Strang hängt. Man spielt den gamlang wie unsere Glasharmonika oder wie das bekannte Holz- und Stroh-Instrument. Es hätte an dieser Stelle wohl gleichfalls von anklung gesprochen werden dürfen, einem Gestell nach Art eines Rostes, mit Becken, die auf gespannten Seilen liegen. Es [347]sei darauf hingewiesen, dass die Benennungen von all diesen Instrumenten Onomatopöen sind, die den Klang geschickt nachbilden. Der gong klingt stark, gewaltig und kriegerisch. Anklung und gamlang (gamelan) dagegen sanft und lieblich, doch sehr melancholisch.

VIII. Kapitel.

106 Dhemang: Distriktshäuptling. Im zentralen und östlichen Java heisst dieser Beamte Wedhono.

107 padie: Reis.

108 Bandung: Abteilung (Regentschaft, Assistent-Residentschaft) in den Preanger-Regentschaften.

108 patjol: Hacke, Karst, meisselartiger Spaten.

108 banjir: Sturmflut, Sturzflut. Über diese Naturerscheinung hat Multatuli ergreifend berichtet in einem Schriftchen: „Zeige mir den Platz, wo ich gesäet habe!“, dessen Titel dieser Stelle des „Havelaar“ entlehnt ist. Näheres über die Schrift in meinem Biographie- und Auswahlbande, und zwar in der Ersten Auflage auf S. 82 u. 83; bei der veränderten und in Neudruck befindlichen Zweiten Auflage dürfte die Stelle sich etwas verschieben. Der Hauptteil der Schrift wird in einem späteren Bande noch veröffentlicht.

109 dessah: Dorf.

109 kris und klewang: Waffen. Über kris siehe unter Kap. XVII.

112 maniessan: Süssigkeit, Konfituren. Der Genuss desselben beim Thee ist chinesischen Ursprungs.

112 Radhen Wiera Kusuma, Distriktshaupt von Parang-Kudjang: der im „Havelaar“ oft wiederkehrende Schwiegersohn und Handlanger des Regenten. In seinem Hause spielte auch die im XVIII. Kapitel vermeldete Vergiftungsaffaire.

120 djimats: Briefe oder andere Gegenstände, die aus dem Himmel fielen und Schwärmern und Bauernfängern zum Kredit verhalfen. Tout comme chez nous!

121 garem glap: Schmuggelsalz. Die Herstellung und der Verkauf von Salz ist in Indien Regie. Es wurde in der That an der Südküste von Lebak viel Salz gemacht, und es war den armen Leuten nicht übel zu nehmen, wenn man bedachte, dass sie vielfach viele Meilen zu laufen hatten, um einen Gouvernements-Debitsplatz zu erreichen, wo sie einen hohen Preis bezahlen mussten. Mir gilt die Monopolisierung der Salzbereitung als unbillig und vor allem grausam gegenüber Strandbewohnern, denen das Seesalz ins Haus spült. [348]

XI. Kapitel.

157 datu: Inländischer Häuptling.

159 Ophir: Wir finden diesen Namen auf den meisten Landkarten, und—wahrscheinlich weil der Berg, der so bezeichnet ist, weit von der See her zu sehen ist—auf allen Seekarten. Doch das Wort Ophir ist bei den Inländern unbekannt. Sie nennen den Berg, der ungefähr in der Mitte der Breite des Landes, eben nördlich der Linie liegt: Gunung Passaman. Wie also die Kartographen, die offenbar einander nachgeschrieben haben, die Benennung Ophir verantworten können, weiss ich nicht. Eine andere Frage ist, ob man diesen Berg mit der Gegend in Zusammenhang bringen will, von wo der Tyrische König Hiram für Salomos Tempelbau Gold, Ebenholz und Edelsteine holen liess (I. Könige, IX, 28; X, 11). Es ist sehr gewagt, dies auf Grund eines einzigen Wortes zu thun. Und überdies, woher stammt das Wort Ophir? Wer hat den Gunung Passaman zuerst so genannt? Der f-Klang lässt an Araber denken. In den „Arabischen Erzählungen“ wird Sumatra von Sindbad dem Seefahrer besucht.

165 baleh-baleh: Ruhebank aus Bambus, Pritsche.

165 klambu: Gardine.

165 pajong: Sonnenschirm. Unterscheidungsmerkmal für den Rang.

166 banjir: Sturmflut.

XII. Kapitel.

169 traūssa: ist nicht nötig!

XIII. Kapitel.

196 sambal-sambal: allerlei Zuspeise, durch deren Mannigfaltigkeit sich Indien auszeichnet. Die Beschreibung von den sambals, die dort genossen werden, würde Bände füllen. In wohlhabenden Familien erfordert diese Unterabteilung des täglichen Menüs die ausschliessliche Hingebung eines Bedienten, und bei Reichen ist hierfür eine Person nicht einmal hinreichend. Als Material dient alles, was essbar ist, so viel als möglich unkenntlich gemacht, und auch vieles, das Uneingeweihten nicht essbar vorkommt, z. B. unreife Früchte und verdorbener Fischlaich. Die Bereitung all dieser Gerichte nach den Regeln der Kunst erfordert ein wahres Studium. Auch ist für baren (Neulinge) bisweilen einige Übung nötig, um sie schmackhaft zu finden, doch Eingeweihte geben der indischen Küche den Vorzug vor den vielerlei Arten europäischer Küche. [349]

XIV. Kapitel.

199 Jang (njang) di Pertuan: „Er, der herrscht“. Wenn ich mich nicht irre, ist auf ganz Sumatra nur ein Häuptling, der diesen Titel trägt. Tuankus (myn-heer, mon-seigneur) giebt es viele. Beide Benennungen sind malayisch—die letzte Silbe des Wortes Tuanku kommt mir gar javanisch vor—und da der Jang di Pertuan ganz speziell der vornehmste Häuptling in den Battahlanden ist, so scheint diese Würde ursprünglich durch malayische Unterjocher eingeführt zu sein. Die Wurzel der Benennungen von autochthonen Würden und Titeln müssen stets in der ältesten Sprache des Landes gesucht werden. Sie sind nur von verhältnismässig jüngerem Ursprung als die unwillkürlichen Laute, die durch äussere Ursachen Lunge und Kehle entfahren, als die vielerlei Benennungen für „Wasser“, als die Andeutung von Terrainbesonderheiten oder Naturerscheinungen, und als die allgemeine Klangnachbildung.

201 Padries: wir nannten so die Atjinesen, die damals kurz vorher die Battahlande zum Islam bekehrt hatten. Das Wort muss wohl Pedirees bedeuten, nach Pedir, einem der kleinen Staaten von Atjin. Auch das Wort ‚Atjin‘ ist eine durch Sprachgebrauch allgemein angenommene Entartung. Aus ‚Atjeh‘ machten wir ‚Atjehnese‘ oder ‚Atjinese‘, wodurch das Grundwort selbst in ‚Atjin‘ sich veränderte. Litterarischer Purismus ist hier nicht angebracht.

Die Beweise für den im Text berührten Fanatismus laufen übrigens ins Unglaubliche. Gleichwohl muss man zugeben, dass die Einführung des Islam—der zugleich Vermehrung des Salzgebrauchs zur Folge hatte—dem Menschenfressen grossen Abbruch gethan hat. Dass diese Gewohnheit in der Gegend von Penjabungan—dem Zentrum unserer Herrschaft in den Battahlanden—noch zur Zeit bestanden haben soll, als Ida Pfeifer diese Gegenden besuchte (1844? 1845?), halte ich für eine Lüge. Sie knüpft an das Erlebnis, das sie in dieser Sache gehabt zu haben behauptet, eine Anekdote, die den Stempel der Unwahrheit an der Stirn trägt. Man habe sie geschont, erzählt sie, wegen der Spasshaftigkeit ihrer Bemerkung: sie sei „eine bejahrte Frau und deshalb zu zäh“. Als sie, einige Jahre nach mir, mit Battahleuten in Berührung kam, war die Anthropophagie in diesen Gegenden ausgerottet, und zwar durch den Einfluss derselben Völker, die wir jetzt im Namen der Civilisation bekriegen. Wann und wo hat Niederland je mit seiner Religion und mit seinen Waffen wie in diesem Fall sozusagen im Umsehen einen [350]ganzen Volksstamm von Kannibalen zu ruhigen Menschen gemacht?

204 sewah: die Waffe der Bewohner Sumatras, wie auf Java der kris. Der sewah ist ein krummer Dolch mit sehr kleinem Griff, die Schneide an der Binnenseite der Krümmung. Die ursprüngliche Absicht bei dieser Formgebung wird wohl gewesen sein, dass der Griff vollkommen in der Hand verborgen werden kann, während der sehr stumpfe Rücken gegen den Puls anliegt und so die Waffe durch den Arm verdeckt wird. Der Angefallene merkt also nicht eher, dass sein Gegner bewaffnet ist, als bis dieser—nach einer eigenartigen, behenden Bewegung von Puls und Arm in drei Tempis—ihn trifft. Ganz abgesehen von dieser Geeignetheit als Mordwerkzeug ist der sewah das symbolische Merkmal der Freiheit und Männlichkeit. Wer ein malayisches Haupt gefangen nimmt—wie es unter den auf S. 205 beschriebenen Umständen meine verdriessliche Aufgabe war—fordert ihm seinen sewah ab.

Eine andere Waffe auf Sumatra, die anderswo wohl nicht bekannt ist, heisst krambièh und dient ausschliesslich als Mordwaffe. Sie ist kleiner und noch viel krummer als der sewah. Der Griff besteht aus nicht viel mehr als einer ringförmigen Öffnung, in die der Mörder seinen Daumen steckt, während die Klinge ganz in oder hinter der Hand verborgen bleibt.

226 tikar: kleine Matte. Die Benutzung von fein geflochtenen Matten auf den Bettmatratzen ist in Indien ziemlich allgemein, und wird, weil sie kühl bleiben, für gesund gehalten. Die Herstellung dieser Matten und anderen Flechtwerks bildet eine nicht unwichtige Industrie, in der sich vor allem die Makassaren auszeichnen.

227 klapper: Kokosnuss. Auch klappa, kelappa.

227 pukul ampat: „vier Uhr“. Dies ist der Name eines Blümchens, das des Nachmittags um diese Stunde sich öffnet und gegen die Morgenstunde sich wieder schliesst; ampat heisst: vier, pukul: schlagen, Schlag, Glockenschlag.

227 Saudien oder Sudien für Si-Udien: ein sehr häufig vorkommender malayischer Name. Udien, Udin (das arabische Eddin) ist wahrscheinlich verwandt mit gleichartigen nordischen Namen in Europa. Über das sehr gebräuchliche Praefix si wäre viel zu sagen, mehr als mir jetzt der Raum zulässt.

XV. Kapitel.

233 Patteh: Häuptlingstitel, des Regenten Sekretär, Botschafter, Faktotum. [351]

XVI. Kapitel.

250 dessah: Dorf.

250 Saïdjah: dieser Name ist mit einer kleinen Buchstabenversetzung der „Liste von gestohlenen Büffeln“ in den „Liebesbriefen“ entlehnt (deutsche Ausg. S. 149 u. 150). In derselben findet man auch die Namen der Dörfer Badur und Tjipurut.

252 Orang Gunung: Bergbewohner, doch auf Java ganz besonders der Bewohner der Berge in der Westecke.

253 Alfur: das Wort aliforu, alifuru, hari furu hat in der Nordecke von Celebes, im ganzen molukkischen Archipel und auf Neu-Guinea auch eine Bedeutung wie Orang Gunung: Bergbewohner, oder mindestens die von: Bewohner der Binnenlande. Es ist also eigentlich kein Volks- oder Stammname, wie manche meinen, aber er wird—ebenso wie das Wort: Niederländer—häufig als solcher gebraucht.

258 kendang: Umfriedigung von rohem Pfahlwerk.

XVII. Kapitel.

268 sawah: durch künstliche Bewässerung unterhaltenes Reisfeld, in Gegensatz zu gagahs und tipars, die, was die Befeuchtung angeht, ganz vom Regen abhängen.

268 lombong: Bergeraum für Reis, enthülsten wie unenthülsten. Meistens ist der lombong ausserhalb des Hauses gegen eine der Wände angebaut.

268 kris: die volkstümliche Waffe des Javanen, die als solche zu seiner vollständigen Kleidung gehört, wie bei uns in früherer Zeit der Degen. Der kris ist ein schlangenförmiger, platter Dolch mit sehr kleinem Heft. Gewöhnlich sind die Krisse aus Streifen weichen Eisens zusammengeschmiedet und darnach mit Hülfe von Büffelhufen gestählt. Sie werden vor Rost bewahrt durch Einreibung mit djerook (einer Zitronenart), dem Arsen zugesetzt ist, welches dem Eisen einen eigentümlichen matten Schein verleiht. Der Aberglaube behauptet, dass man, wenn man einen Kris besehen will, diesen vollständig aus der Scheide ziehen müsse. Wer ihn nur zum Teil von der Scheide frei macht, stellt sich grossem Unglück bloss. Über bezauberte Krisse sind zahllose Erzählungen in Umlauf.

268 pusaka: Erbstück, hier—wie öfter—im pietätvollen Sinne: heiliges Erbstück.

269 Klambu-Haken: klambu ist: Gardine. In den platten, sehr breiten Haken, womit die Gardinen gehalten werden, wird einiger Luxus [352]entwickelt. Auch bei den ungünstigst Gestellten sind sie doch gewöhnlich von Messing.

270 patjol: die Hacke, das Werkzeug, das der Javane für den Spaten gebraucht. Das Blatt sitzt lotrecht auf dem hölzernen Stiel. Es wird also damit gehauen, nicht gegraben, was vielleicht dem Umstande zuzuschreiben ist, dass der Inländer barfuss geht.

270 user-useran: das Wort wird in dem Text erklärt. Vermeintliche Besonderheiten in der Beschaffenheit der Haarwirbel, vor allem wenn sie sich auf dem Scheitel eines Kindes zeigen, liefern Stoff zu allerlei Weissagungen (siehe z. B. S. 113, 117, 118.).

270 penghulu: Priester.

270 ontong: Glück, Vorteil.

271 galangans: kleine, schmale Deiche, die das Wasser auf den sawahs halten.

271 Alanggras (allang-allang): Riedgras, Riesen- oder Prairiegras. Es ist oft so hoch, dass ein berittener Mann sich darin verbergen kann. Auf Sumatra nennt man es auch riembu, was dort auch Wildnis im allgemeinen bedeutet.

272 sarong; batik; kapala: Der sarong ist das eigenartige Kleidungsstück der Javanen, der Männer wie der Frauen. Es ist ein aus kapok gewobenes Stück Zeug, dessen Enden aneinandergenäht werden. Die Anwendung von Seide ist Ausnahme. Eines dieser Enden heisst kapala, d. h. Kopf, und ist mit einem breiten Rand bemalt, gewöhnlich bestehend aus ineinander verschlungenen Dreiecken. Dieses Bemalen heisst batik und geschieht aus freier Hand. Das Gewebe wird zu diesem Zwecke in einen Rahmen gespannt, und die Farbe befindet sich in einem kleinen Werkzeuge von Blech, das—sehr verkleinert—die Form eines Theetopfes hat oder eines antiken Lämpchens. Sarongs ohne kapala, und deren Enden nicht aneinander genäht sind, heissen slendangs. Man trägt diese Kleidungsstücke um die Hüften, und die Männer schürzen sie mehr oder weniger auf, bisweilen auch vollständig. Auch wird der slendang häufig ganz zum Gürtel zusammengerollt, in welchem Fall die Männer eine Hose tragen, sehr gegen die eigentliche javanische Gewohnheit, was mehr und mehr die Oberhand gewinnt bei den Javanen, die viel mit Europäern in Berührung kommen. Als eine Besonderheit mag bemerkt werden, dass die Anwendung von Hosen unter den sarongs bei Frauen allein in dem Nordwinkel von Sumatra vorkommt. Ich wenigstens habe diese Sitte nur dort angetroffen. Sie ist atjinesischen Ursprungs, weshalb auch diese Kleidungsstücke serawak atjeh heissen: atjinesische Hose. [353]

Was übrigens die sarongs und slendangs angeht, seit etwa dreissig Jahren (1881 von M. geschrieben. D. Übers.) haben sich europäische Fabrikanten darauf gelegt, das javanische batik nachzumachen, und es wurden denn auch jährlich in diesem Artikel Fabrikate im Werte von Millionen umgesetzt. Doch wird das Tragen eines gedruckten Kain (kahin: Kleid, der generelle Name für all solche Kleidungsstücke) stets für ein Zeichen von Armut oder wenigstens geringeren Wohlstandes gehalten.

273 matah-glap, amokh. Das Wort (matah-glap = verdunkelten Auges) deutet den Zustand jemandes an, der in Raserei alles, was ihm begegnet, niederschlägt, bis er selbst erschlagen wird. Ich nannte es irgendwo „Selbstmord in Gesellschaft“ und weiss auch jetzt noch keinen besseren Namen dafür. Der Unglückliche, der von dieser Wut gepackt wird, kennt weder Freund noch Feind. Ursache ist gewöhnlich Eifersucht oder zu lang verhaltener Groll über Misshandlung. Der Javane ist, wie die meisten anderen Inländer, sanftmütig und nachgiebig von Art. Doch allzu tief verwundet oder zu andauernd gekränkt, bricht seine Wut in amokh aus. Dass gleichwohl auch der amfiūn (Opium) hierbei eine Rolle spielt—sei es als Ursache des Leidens, oder sei es als ein Mittel, das durch seinen Reiz der Wut nachzugeben veranlasst—versteht sich von selbst.

273 atap: eine Art Wasserpalme, deren Blätter zum Decken geringer Häuser verwandt werden.

273 bendie: Chaise, Tilbury, leichtes, unbedecktes Kabriolett.

274 djati, ketapan: zwei Arten von grossen Bäumen. Der erstere Baum liefert ein sehr dauerhaftes Holz. Warum Botaniker ihm den Namen Quercus indica gegeben haben, weiss ich nicht, da er in keiner Weise mit unserer Eiche übereinkommt.

274 melatti: unter Kap. VI erklärt.

274 Reisblock: schwerer, hölzerner Trog, worin der padie durch Stampfen von der Hülse befreit wird. Dieses Stampfen heisst—Klangnachbildung wieder!—tumbokh.

275 tudung: siehe unter Kap. VI. In der Bestimmung der Tageszeit nach dem Schatten, den sein tudung auf seinem Antlitz zeichnete, folgte Saïdjah einem allgemeinen indischen Brauch.

276 lalayang: ein Spielzeug wie unser Papierdrache. Auf Java ergötzen sich nicht ausschliesslich Kinder mit ihm. Er hat keinen Schwanz und beschreibt allerlei unsichere Kurven, die durch Nachgeben, Einholen und Schiessenlassen des Bindfadens durch die Person, die ihn in der Hand hält, einigermassen beherrscht werden. Die Aufgabe bei diesem Spiel ist, der Schnur von dem Drachen des Gegenspielers in der Luft zu begegnen und sie zu durchschneiden. [354]Aus den vielerlei lebhaften Anstrengungen hierbei entsteht eine Art Gefecht, das sehr ergötzlich anzusehen ist und die Zuschauer zu lebendiger Teilnahme zwingt. Die von Saïdjah hingestellte Möglichkeit, demgemäss „der kleine Djamien“ die Niederlage durch geschilderten betrügerischen Eingriff herbeigeführt haben sollte, ist, was die dabei erforderliche Geschicklichkeit im Werfen angeht, ein Indiismus.

277er hat einen grossen Mund gehabt“: spezifischer Malayismus.

277Salzmachen an der Südküste“: siehe unter Kap. VIII: garem glap: Schmuggelsalz.

277 matah-glap: rasend. Näheres weiter oben erklärt.

277den Brand, das Feuer töten“: spezifischer Malayismus.

278 klappa: Kokosnuss. Klappabaum also: Kokospalme.

278 Klagefrauen: beim Sterben eines Javanen wird schreckliches Geheul gemacht, nicht—wie früher bei uns—durch bezahlte „huilebalgen“, sondern von Verwandten, Bekannten und Nachbarn.

279 kamuning: feines, gelbgeflammtes Holz, das nur aus der Wurzel des so benannten kleinen Bäumchens gewonnen wird, und das also nie gross im Stück sein kann. Es ist sehr teuer.

279 kahin: der zum Gürtel gerollte slendang.

280 ‚Grossvater‘ des Susukunan von Solo: der Sus. v. Solo ist der Kaiser von Surakarta. Er giebt in seinen offiziellen Korrespondenzen dem Generalgouverneur u. a. auch den Titel eines ‚Grossvaters‘.

280 kondeh ... im eigenen Strick gefangen: siehe unter Kap. VI.

281 kabaai: ein leichtes, nachlässiges Gewand, das indische Hauskleid, auch Schlafgewand; ein Négligé.

281 pontianak: Spuk, der sich in Bäumen aufhält und auf Frauen sehr ergrimmt ist, besonders auf schwangere. Ich weiss nicht, ob ein Zusammenhang zu suchen ist zwischen der Bedeutung dieses Wortes und dem Namen der Niederländischen Befestigung an der Westküste von Borneo.

283 pelitah: Lämpchen.

284 rottan oder rotan: spanisch Rohr.

285 badjing: javanisches Eichhörnchen. Dies Tierchen kam mir immer kleiner vor als sein europäischer Artgenosse. Es lässt sich leicht zähmen.

285 Bauch für ‚Magen‘: Malayismus.

289 boaja: Kaiman, eine Krokodilart. Das Opfern besteht darin, dass man abends Bambuskörbchen oder Näpfchen voll Reis und anderer Speise, mit einem kleinen Licht versehen, stromabwärts treiben lässt. Wenn gerade viel auf den Flüssen geopfert wird, bieten die ruhig dahintreibenden Leuchtschiffchen einen reizenden Anblick. [355]

290 baleh-baleh: Pritsche, Ruhebank aus Bambus.

291... und also in Flammen stand“: dieses blutige „also“ (im Holländ.: „dus“) hat nach Erscheinen des „Havelaar“ erregte Kontroversen zum Gefolge gehabt. Multatuli hat es mehrfach verteidigt.

XVIII. Kapitel.

301 pundutan: Lebensmittel und andere Artikel, die ohne Bezahlung erhoben werden.

301 pantjens und kemits: unbesoldetes Wacht- und Dienstvolk.

XIX. Kapitel.

313 Patteh: der Inländische Häuptling, der die Vertrauensstellung eines Sekretärs, Botschafters beim Regenten einnimmt.

XX. Kapitel.

325 tongtong (tomtom, tamtam): ein grosser, hängender, ausgehöhlter Block von Holz, auf dem man die Stunden anschlägt. Der Name ist wieder eine Onomatopöe.

335 kampong: Dorf. [356]

In gleicher Ausstattung erschienen in unserem Verlage:

MULTATULI.

Auswahl aus seinen Werken in Übersetzung aus dem Holländischen, eingeleitet durch eine Charakteristik seines Lebens, seiner Persönlichkeit und seines Schaffens. Von WILHELM SPOHR. Mit Bildnissen und handschriftlicher Beilage. Preis: brosch. Mark 4,50, geb. Mark 5,50.

MULTATULI.

LIEBESBRIEFE.

Übertragen aus dem Holländischen von WILHELM SPOHR. Preis: brosch. Mark 3,—, geb. Mark 3,75.

MULTATULI.

MILLIONEN-STUDIEN.

Übertragen aus dem Holländischen von WILHELM SPOHR. Preis: brosch. Mark 4,50, geb. Mark 5,50.

MULTATULI.

FÜRSTENSCHULE.

Schauspiel in 5 Aufzügen. Übertragen aus dem Holländischen von WILHELM SPOHR. Preis: brosch. Mark 2,25, geb. Mark 3,—.

MULTATULI.

DIE ABENTEUER DES KLEINEN WALTHER.

Übertragen aus dem Holländischen von WILHELM SPOHR. Zwei starke Bände. Preis: brosch. Mark 10,—, geb. Mark 12,—.


Ausserdem erscheinen noch binnen Kurzem die Bände

IDEEN.

BRIEFE UND DOKUMENTARISCHES VON MULTATULI.

J. C. C. Bruns’ Verlag,

Minden i. Westf.

Kolophon

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Max Havelaar von Multatuli (ein Pseudonym für Eduard Douwes Dekker, 1820–1887) ist wahrscheinlich das einflussreichste Werk der niederländischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Einige meinen sogar, es sei dieses Buch gewesen, das „den Kolonialismus beseitigt“ habe. Es erschien erstmals 1860 in Amsterdam und war von Anfang an umstritten. Der Text ist strukturell hoch komplex, oft mischt sich scharfe Kritik mit trockenem Humor, und es finden sich in die Haupthandlung eingewobene Erzählstränge, wie etwa die bewegende Episode von Saïdjah und Adinda. Das Werk endet mit einem direkten Appell an den König, den Misshandlungen in Niederländisch Indien, heute Indonesien, ein Ende zu setzen.

Das Niederländische Original ist schön bei Project Gutenberg verfügbar als etext 11024. Die Englische Übersetzung ist in Vorbereitung.

Kodierung

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  • 2010-02-27 Angefangen.

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Seite Quelle Korrektur
V Anderungen Änderungen
11 Kaffekehricht Kaffeekehricht
14 Plait-il Plaît-il
22 Kaffe Kaffee
46 wen wenn
64 hilfbereit hilfsbereit
69 Kaffeblättern Kaffeeblättern
79 höcht höchst
89 Est Es
89 Mevrouv Mevrouw
91 wahr war
92 Daurauf Darauf
112 Erbe Hof
121 dsss dass
142 gewis gewiss
156 aufstelten aufstellten
161 Aquator Äquator
174 [Nicht in der Quelle] «
199 Assisent-Residenten Assistent-Residenten
204 die di
213 Ausserlichkeiten Äusserlichkeiten
224 geaichte geeichte
228 Hirch Hirsch
238 unbilig unbillig
249 Havelars Havelaars
253 hinreiche hinreichen
285 badjing Badjing
298 Beurteilumg Beurteilung
300 Orginal Original
310 » «
347 [Nicht in der Quelle] .
348 . :
352 . :
356 UNO UND





End of the Project Gutenberg EBook of Max Havelaar, by Multatuli

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MAX HAVELAAR ***

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