Abstract. Rezension des Buches: Klaus Schröer / Klaus Irle: „Ich aber quadriere den Kreis - Leonardo da Vincis Proportionsstudie - Gert Sperling

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Rezension des Buches: Klaus Schröer / Klaus Irle: "Ich aber quadriere den Kreis..." - Leonardo da Vincis Proportionsstudie, Waxmann Verlag, Münster / New York / München/ Berlin 1998. Jetzt kaufen von Amazon.de!

Gert Sperling
Lerchenweg 3
D-34233 Fuldatal

Leonardo's drawing of the Vitruvian manDer Titel des Buches "Ich aber quadriere den Kreis..." zitiert Leonardo selber (Windsor 12280 r, 1508-9; S. 37) mit einer Bemerkung über Archimedes, der „ein Vieleck quadriert, aber nicht die Fläche eines Kreises" ("adunque archimenjde non quadra maj figura di lato curvo"; S.18). Leonardo betont sein Vorhaben, wirklich gekrümmte Figuren zu quadrieren. Die Autoren beziehen sich dabei auf mehrere Belegstellen, wo Leonardo seine Überzeugung ausdrückt, mit Zirkel und Lineal eine rein geometrische Methode der Kreisquadratur entwickeln zu können: Die Rekonstruktion der Verfasser zeigt am Ende dieses geometrischen Prozesses eine gute Annäherung von 1,000373 zwischen der Kreisfläche und der des Quadrates mit der Seitenlänge der Einheit 1. Aber man findet in Leonardos Schriften über Mathematik, Geometrie und Kunsttheorie keinen Kommentar oder eine Erläuterung zu diesem Vorhaben, nur einige andere Versuche von Kreis- und Quadrat- Schnitten mit verschiedenen Andeutungen zur Kreisquadratur.

Das Buch ist eine Zusammenarbeit eines Kunsthistorikers (Dr. Klaus Irle) und eines Künstlers, der bewußt mit mathematischen Formen und Lösungen arbeitet (Klaus Schröer). Sie weisen nach, daß die bekannte und berühmte Zeichnung des "Vitruv-Mannes" von Leonardo über 500 Jahre als die Renaissance-Studie menschlicher Proportionen nach den Regeln und Maßangaben Vitruvs verstanden wurde. Dabei wurde die mathematische Tatsache nicht wahrgenommen, daß in der Zeichnung auch (oder eigentlich?) ein rein geometrisches Konzept der Kreisquadratur enthalten ist, die Leonardo in der Analyse menschlicher Proportionen entdeckte. Aber diese "verborgene Aussage" der Zeichnung ist (möglicherweise bewußt) verschlüsselt worden und niemand bemerkte dies in den letzten 5 Jahrhunderten Rezeptionsgeschichte aus hauptsächlich wohl zwei Gründen:
1) Die Kunstgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte nahm die enge Beziehung zwischen Mathematik und Kunst der Renaissance, die auf der Kenntnis der antiken Schriften beruhte, nicht zur Kenntnis (Panowsky, 1940; Ost, 1975; Kemp, 1981; Zöllner, 1987; Braunfels Esche, 1994; p.67 ff.).
2) Die Kunst desselben Zeitraumes definierte sich in der Betonung von Gefühlen und subjektiven Wahrnehmungen des Künstlers und war nicht bestimmt von ewig gültigen mathematischen Regeln, Rahmenbedingungen und Gesetzen, um ein Abbild der "objektiven" Wirklichkeit zu schaffen.
Folgerichtig bemühen sich die Autoren um eine Wiederbelebung dieser Aspekte in der Kunsttheorie der Renaissance besonders für die Malerei und ihre Beziehungen zur Mathematik. Leonardo, der als "Universal-Genie" ein umfassendes Forschungsspektrum auf den Gebieten der "Mathematik, Anatomie, Mechanik, Hydraulik, Geologie, Astronomie, Zoologie, Botanik und Maltechnik" aufzuweisen hat, füllt mit seinen Bänden und deren Kommentierung die Bibliotheken von Mailand, Turin, Rom, Paris, London, Oxford, Madrid, New York und Los Angeles. Seine Hydraulik-Studien sind vollständig im Privatbesitz von Bill Gates (Microsoft). In den gesammelten Codices findet man zwar viele Bemerkungen Leonardos zu mathematischen Versuchen (einschließlich der Kreisquadratur), aber die Zeichnung des "Vitruv-Mannes" wurde bisher nie im mathematischen Kontext der 3 berühmten antiken "mathematischen Rätsel" interpretiert und analysiert (Dreiteilung des Winkels, Verdoppelung des Würfels, Quadratur des Kreises).

Um das dazu gehörige "Regelwerk" zu verstehen, ist es zunächst nötig, die Textversion Vitruvs mit dem Kommentar Leonardos zu seiner Zeichnung und ihre eigene Aussage zu vergleichen; denn es gibt 3 wichtige Unterschiede:
1. Leonardo spreizt die Beine des Mannes genau bis zu 1/14 seiner Größe. Vitruv weist hierzu keine Berechnung auf.
2. Nach Leonardo sind die Arme genau bis zur den Kopf begrenzenden Linie erhoben, so daß seine Fingerspitzen diese (Kopf-) Linie berühren. Dazu bemerkt Vitruv nichts.
3. Mit dieser Position der Glieder bedeutet die Spanne der gespreizten Beine ein gleichschenkliges Dreieck. Man findet bei Vitruv nichts darüber.
Außerdem gibt es Unterschiede in der Aufteilung einzelner Körperdistanzen zwischen V. und L.: Leonardo setzt die obere Brust-Linie als den 6. Teil der Körpergröße an, Vitruv berechnet 1/6 + 1/40. Vitruv bemißt die Körpergröße mit 6 Fuß, Leonardo aber mit 7 Fuß. Das bedeutet, daß Leonardo eine neue Proportionsstudie unter Bezug auf die antike Version des Vitruv geschaffen hat. Und genau mit dieser Veränderung ist es möglich, einen geometrischen Prozeß der Kreisquadratur (mit hoher Annäherung) zu bewerkstelligen.

Nach meiner Meinung demonstriert Leonardo diese Überbietung Vitruvs, indem er dessen Text oberhalb der Zeichnung in gewisser Weise optisch "hinter" seine eigene Zeichnung zurücktreten läßt. Die Zeichnung grenzt ihn so aus, daß es scheint, der Kreis verdecke den alten Text; demgegenüber ist Leonardos eigener Text mit gleichsam einer Überschrift versehen und durch die Maßkette deutlich vom Bild getrennt (Abb. S. 104). Die Verfasser sehen in dieser Kombination von Text und Bild einen Zusammenhang zur sogenannten "emblematischen Kunst" des 15.-17. Jh., eine kleinformatige Literaturgattung mit einer "Überschrift" (Vitruvs Text), einem "Bild" (Leonardos Zeichnung) und einem "erläuternden Text" (Bildkommentar Leonardos darunter). Aber dieses Genre diente ursprünglich einer Popularisierung moralischer Werte, ethischer Normen und lebensphilosophischer Ratschläge in einer elementarisierten Form, so daß auch ungebildete Leute die damit verbundenen Anliegen verstehen konnten. Ich stimme dieser kunsthistorischen Einbettung deshalb nicht zu, weil Leonardo seine Botschaft offenkundig verschlüsselt, sodaß sie eigentlich nur ein ebenbürtiges "Genie" entziffern kann; und das ist, in der Tat, die große Leistung der Autoren.

Um Leonardos Idee nachvollziehen zu können, muß man beachten, daß die Zeichnung zwei deutlich markierte Punkte auf der Brust-Linie enthält, die keine geometrische Beziehung zu anderen Details der Zeichnung zu haben scheinen. Andererseits findet man die Punkte, wo die Enden der Glieder das gegebene Quadrat und den Kreis berühren, dadurch betont, daß es sich nur um die Spitze eines Fingers, des Mitelfingers, handelt. Der Nabel als Zentrum dieses Kreises ist ein weiteres sichtbares Element dieses Arrangements; fügt man aber unsichtbare Elemente hinzu, dann offenbart sich deutlich die geometrische Funktion der anderen Punkte auf der Brustlinie.

Der erste Schritt dieses Prozesses ist eine Unterscheidung zwischen dem sichtbaren Quadrat (Q1, S. 105) und dem größeren Kreis (K2) der Zeichnung. Offensichtlich ist ihre Beziehung nicht durch eine Annäherung beider Fächen beeinflußt, aber das Verhältnis zwischen beiden ist auch bis heute noch nie berechnet worden: Bei einer Seitenlänge des Quadrats mit der Einheit 1 beträgt es 1,61 ...
Fügt man nun - in einem zweiten Schritt - einen kleineren (unsichtbaren) Kreis (K1, S. 105) hinzu, der durch die in den Mittelfingern betonten Berührungspunkte auf dem Quadrat angedeutet ist und denselben Mittelpunkt im Nabel des Mann hat wie der sichtbare große Kreis, dann errechnet man schon eine wesentlich bessere Annäherung der Fläche des sichtbaren Quadrates mit dem Wert von 1,1592446 (S. 98).
Interpretiert man nun - in einem dritten Schritt - die beiden symmetrisch auf der Brustlinie plazierten Punkte als Mittelpunkte zweier Armbewegungskreise (r = x) (wie etwa beim Codex Huygens, Fol. 7, S. 88), dann kann die Brust-Linie in der Höhe h in die drei Teile x + d + x aufgeteilt werden (S. 107).
In einem vierten Schritt zieht man nun beide Kreise mit dem Radius x um die markierten Punkte auf der Brust-Linie als ihre Mittelpunkte: beide Kreise berühren offensichtlich die sichtbaren markanten Elemente der Zeichnung: Die Spitzen der Mittelfinger auf dem gegebenen Quadrat (Q1) und auf dem gegebenen Kreis (K2; S. 108).
In einem fünften Schritt betrachtet man nun die Spannweite der Beine (60°). Zieht man die Seiten dieses angedeuteten Dreiecks über den Nabelpunkt hinaus bis zum Schnittpunkt hk des gegebenen Kreises (K2), dann bekommt man ein geometrisches Ensemble, das ein neues Quadrat mit hoher Flächenannäherung an den sichtbaren Kreis (K2; S. 109) erzeugen kann.
Das bedeutet - in einem letzten Schritt - nur noch die horizontale Linie durch die Schnittpunkte hk des vorhandenen Kreises (K2) nach beiden Seiten zu verlängern, bis die Länge mit der Höhe h identisch ist, und man gewinnt ein neues Quadrat (Q2; S. 110). Das Verhältnis zwischen diesem rekonstruierten unsichtbaren Quadrat und dem sichtbaren gegebenen Kreis beträgt 0,999, wenn man das vorhandene Verhältnis zwischen dem sichtbaren Quadrat (Q1) und dem sichtbaren Kreis (K2) mit 1,61 ... zugrunde legt.
Nimmt man (wie wahrscheinlich Leonardo) an, daß bereits zwischen dem sichtbaren Q1 und dem unsichtbaren K1 eine Gleichflächigkeit besteht, dann berechnet sich das Verhältnis von dem sichtbaren K2 zum konstruierten (unsichtbaren) Q2 mit dem Wert 1,0004112.
Dieser Prozeß der Erzeugung eines neuen Quadrates und Kreises kann auf der Grundlage der vorherigen wiederholt werden. Die Annäherung der Flächen wächst Schritt für Schritt auf den Grenzwert von 1,000373 zu. Toleriert man diese Differenz - in den Augen Leonardos "nur ein Punkt" - dann ist dieses Modell eine rein geometrische Methode der Kreisquadratur. Wir wissen heute, daß K.F.Gauß später bewiesen hat, daß eine exakte Kreisquadratur mit Zirkel und Lineal mathematisch unmöglich ist, aber auf dem Hintergrund des antiken Wissens ist Leonardos Vorgehensweise eine originäre Erfindung und beweist seinen mathematischen Genius ebenso wie die theoretische Einbildungskraft der Verfasser Schröer und Irle, die seine versteckte Botschaft entschlüsseln konnten.

Gert Sperling, *21.06-44, studierte Ev. Theologie und Alte Sprachen an der Kirchlichen Hochschule in Bethel und Theologie und Sozialwissenschaften an der Philipps-Universitat Marburg. Nach zwei Jahren Lektorat an der Universitat wurde er Vikar an der Elisabethkirche in Marburg und ab 1976 Studienassistent am Predigerseminar in Hofgeismar. Seit 1976 Durchfuhrung von Studienfahrten in in Europa mit Schwerpunkt Rom. Er ist Pfarrer in Fuldatal-Ihringshausen, Rundfunksprecher der Landeskirche von Kurhessen-W. und theologischer Studienleiter in Kassel-Land. Er hat auf der Grundlage einer neuen Vermessung vo 1989 eine interdisziplinare Studie zum Pantheon verfasst: Das Pantheon in Rom: Abbild und Mass des Kosmos (Neuried: Ars una Verlagsgesellschaft mbH, 1999).


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